Der Weg, der in den Tag führt
Eine Geschichte aus der Welt von »Brautschau«
„Straif.“ Eine Stimme flüsterte seinen Namen. „Ich kenne dich jetzt.“
Die Stimme schien von einer Person zu stammen, die direkt neben dem jungen Krieger stand und sich wegen ihrer Größe zu ihm herab beugte. Er spürte sogar einen eisigen Atem auf seiner Wange. Erschrocken fuchtelte Straif mit den Armen, als würde ihn eine blindwütige, blutdürstige Pferdebremse umschwirren. Er rannte um sich schlagend eilig ein paar Schritte tiefer hinein in die Düsternis der Tunnelröhre. Doch vergebens; die körperlose Stimme blieb bei ihm; ganz nah an seinem Ohr.
„Bürger Straif“, wisperte sie nun mit einschmeichelndem, drängendem Ton, „gehe auf keinen Fall weiter. Du wirst dich verirren und in der Dunkelheit verdursten.“
Die Präsenz des Geistes war atemberaubend und zwingend, doch Straif schüttelte den Kopf. So leicht war er nicht zu übertölpeln. Er hätte nicht zu sagen vermocht, ob eine Frau oder ein Mann mit ihm sprach, doch er war sich ziemlich sicher, dass dies nicht Sadons Stimme war.
„Gehe zurück ans Licht. Meine Goleme werden dir helfen. Ich habe sie geschickt, um dich zu retten. Dein Leben ist mir wertvoll, denn ich habe Großes mit dir vor. Du sollst meine Stimme auf Erden sein.“
„Inet?“, flüsterte Straif und sein Mund war so trocken, dass er die zwei kurzen Silben des Namens des Verführers kaum über die Lippen brachte. Das Angebot des alten Götzen war verlockend, doch er würde den süßen Schmeicheleien dieses Ungeheuers widerstehen. Er war der Fenrir Ulf, der Krieger des Baums und immun gegen die Einflüsterungen eines gefallenen Gottes der Vorgänger.
„Inet?“, wiederholte er ungläubig und fragte sich, ob dieses Gespenst des absolut Bösen, dessen Wirken ihm gerade Sadon so eindrücklich vor Augen geführt hatte, das die Welt beinahe zerstört hatte und noch immer, nach Tausenden von Jahren, ihren endgültigen Untergang plante, tatsächlich mit ihm in der Dunkelheit stand oder nur eine Wahnvorstellung seiner überreizten Nerven war.
Er lauschte angestrengt, könnte aber nichts weiter hören und das erschreckte ihn noch mehr als die körperlose Stimme, die plötzlich neben seinem Ohr aufgetaucht war. Auch von den Deltas war nichts mehr zu hören. Allein ein beständiges Zischen wie von einem undichten Dampfventil und von dem er nicht wusste, ob er es tatsächlich hörte oder es sich nur einbildete, drang als einziger Laut zu ihm.
„Nein, Inet, ich kehre nicht um“, sagte der einsame Mann in der Finsternis. Er sprach so laut und fest, wie ihm möglich war, denn er wollte sich selbst überzeugen.
„Dort hinten im Licht wartet nur der Tod auf mich. Mag sein, dass vor mir in der Dunkelheit Schlimmeres auf mich lauert, aber ich werde mein Glück lieber dort versuchen.“
Er bekam keine Antwort. Nur das Echo seiner eigenen Stimme wurde von den Wänden zurückgeworfen. Da ballte Straif seine Hände zu Fäusten und schritt langsam hinein in die ewige Nacht der tausend Gänge und Hallen unter dem Fjall Tu’DasQ. Er sah kein einziges Mal zurück. Ein Krieger hatte den Felsen des Todes betreten und ein müder, grauer Mann würde lange Zeit später wieder von ihm ausgespuckt werden.
Plötzlich war dann doch noch einmal die Furcht erregende Stimme Inets in Straifs Rücken zu hören:
„Wir werden uns wieder begegnen, Straif. Zeit bedeutet mir nichts. Du besitzt, was mir gehört. Ich werde es mir holen. Dann werde ich meinen Auftrag erfüllen und endlich ruhen können.“
„Nur raus, raus hier!“, dachte Straif und rannte vor der Stimme Inets davon. Er presste dabei die Hände gegen die Ohren, um sie nicht weiter hören zu müssen. Endgültig wurde von der Finsternis des langen Tunnels, von dem er hoffte, er würde ihn wieder an die Oberfläche führen, verschluckt. Doch das Schicksal hatte noch den einen oder anderen Streich für ihn vorbereitet. Deshalb führte ihn dieser stählerne Gang zwar weg von Inets und Sadons Reich zu einem schier bodenlosen, kreisrunden Schacht, an dessen Rand eine metallene Leiter befestigt war. Aber es gab nur einen Weg und der führte hinab, immer tiefer hinunter in die Gebeine der Erde.
Und so begann für Straif die Reise durch die Nacht. Viele Monate sollten vergehen, bis er wieder unterhalb des höchsten Berges der Überlebenden Lande schmutzig, krank und zum Skelett abgemagert auf allen Vieren aus einer Höhle kroch. Trotz des Schattens, den die Wendspitze auf die Ebene zu ihren Füßen warf, brauchte er viele Stunden, bis er seinen an die Schwärze des Untergrunds gewöhnten Blick ungeschützt über das liebliche Tal schweifen lassen konnte. Hier würde von ihm bereits einige Wochen später die erste der Klosterburgen der Gemeinschaft der leidenden Gene gegründet werden, um Inets Plan, die Welt zu zerstören, aufzuhalten: Diese Mönchsfeste nennen wir heute das hohe und einzigartige Italmar, jene einzigartige, durchscheinende Burg des Glaubens, dieses Diamanten unter den Stätten des Kirchenstaats, in dem sogar die Pflastersteine aus Quarzglas gegossen sind, damit das Licht der Wahrheit ungehindert in ihre Straßen fallen kann.
Vierzig mal vierzig Abenteuer hatte Straif im Untergrund erlebt und war dabei Dingen und Wesen begegnet, die sogar für ein Märchen zu unglaubwürdig sind. Oft hatte ihn nur Sadons Schlüsseldolch aus einer Misere geholfen. Und schließlich begegnete der spätere Erzabbas Straif in seiner Reise durch die Nacht auch noch einmal dem fürchterlichen Inet, wie es dieser vorhergesagt hatte. Aber wie sagen die Erzähler Karukoras am Ende ihrer Sagen? Dies ist eine andere Geschichte und sie soll auch ein anderes Mal erzählt werden!«
Sahar verbeugte sich. Ein anerkennender, aber nicht allzu lauter und auch nicht ausdauernder Applaus begleitete seinen Abschied von der Bühne. Der junge Erzähler mochte sich mehr erwartet haben, denn er schüttelte nachdenklich den Kopf und kehrte nicht mehr für eine Zugabe auf die gesalzenen Bretter der Bühne zurück.
Ómer, der den Eindruck erweckte, dass er während des Vortrags eingeschlafen war – durch seine Maske war das unmöglich auszumachen -, schreckte mit den letzten Worten von Sahar wie von einer Südtarantel gestochen in die Höhe und sah sich aufgeregt um. Doch er hatte sich sofort wieder im Griff, als er bemerkte, dass er von den gekrönten Häuptern an seiner Seite spöttisch beobachtet wurde. Er breitete die Arme aus:
»Wir danken unserem Gast aus den fernen Nordländern für seine spannend erzählte Geschichte, die uns allen einen ausgesprochen interessanten Einblick in die Gedankenwelt der Menschen, die jenseits der Wüste leben, gewährt hat. Nun. Der Abend ist noch jung. Deshalb soll jetzt aber auch endlich der bescheidene Anteil Karukoras zur Kultur des Geschichtenerzählens folgen und auf diesen Brettern zum Vortrag gelangen. Begrüßen wir nun Alis, den Honigzüngigen, mit dem ehrfürchtigen Schweigen, das er verdient«, sagte der Vezir und setzte sich mit einem raschen Seitenblick auf den Namenlosen wieder.
Dieser nickte gnädig und flüsterte Miladi ein paar Worte zu, die die schöne Frau aus den Oststädten mit ihrem glockenhellen, verheißungsvollen Lachen quittierte, das alle Männerherzen in ihrer Nähe in Verzückung versetzte und schneller schlagen ließ. Ihr Lachen unterbrach die ehrfürchtige Ruhe des Saales, an die sich die Vielzahl der Gäste, Bediensteten und Wachen hielt. Falls dieser forcierte und wohl auch absichtliche Affront der Botschafterin Alis missfiel, ließ er er sich jedenfalls nichts davon anmerken.
Einsam, winzig und zerbrechlich wirkte er auf seinen Enkel, der in der Höhe neben Juel halb hinter einem Vorhang verborgen saß und den Auftritt durch einen Schlitz in dem Stoff beobachtete.
»Efin, da ‘at dieser fremde Erzähler doch ein wenig daneben gegriffen«, flüsterte ihm der Meisterdieb zu. »Seine Sage, die isch übrigens schon eintausendmal ge’ört habe, ist zwar leidlich spannend, aber doch nicht etwas, was man anlässlich eines Galadiners ‘ören will. Blutrünstige Wölfe, lebende Leichen, grausame Goleme und rachsüchtige Götter, die können einem doch ganz schön auf den Magen schlagen. Je te prie, das passt in eine Spelunke in der Provinz, aber doch nicht ‘ierher an den Hof des Namenlosen. Isch frage misch, für wen er sie erzählt hat. Vielleicht hatte er ja eine Verabredung mit Ómer, damit sich der alte Geizhals den Gang mit den Hauptgerichten sparen kann. Je me demand si … schließlisch …«
Juel beendete seinen Satz nicht. Er starrte für einen Moment gedankenverloren in die Leere. Dann legte er seine Hand auf Selins Schulter. Der hatte nur Augen für seinen Großvater, der so verloren dort unten vor den mächtigsten Männern der Zeit stand und sich und seine ganze Familie wegen einer seltsamen Karte in Lebensgefahr brachte; einer karte, die für Selin nicht mehr als ein Hirngespinst war. Einen Weg sollte sie zeigen quer durch die Felder des Ewigen Krieges, auf denen jeder Fußbreit Boden ungezählte Male von gewaltigen, stählernen Armeen durchpflügt und zu Staub zermahlen worden war, wo hinter jeder Sanddüne der Tod ein anderes seiner tausend Gesichter zeigte, hinüber auf die andere Seite nach der legendären Stadt Paradis, dem Ort des Friedens, den es allein in der Einbildung eines Narren geben konnte – das war vollkommener Irrsinn!
Nicht zum ersten Mal fragte sich Selin, ob der Alte und sein Freund Muhar wirklich an dieses Ammenmärchen glaubten oder vielleicht doch etwas ganz anderes dahinter steckte. Auch wenn er sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, was das war. Juel unterbrach seine Gedanken.
»Mach dich langsam bereit, Selin. Wir hören uns nur den Anfang des Märchens deines Großvaters an, dann sollten wir davon und uns den inneren Gemächern des Palastes nähern, damit wir uns später in der ersten Verwirrung des Aufruhrs hinein schleichen können. Hast du verstanden?«
Selin nickte abgelenkt. Er war neugierig, welches Märchen sein Großvater vortragen würde.
Eine Antwort auf „Der Weg, der in den Tag führt – Fantasyroman (Kapitel 7 – Schluss)“
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