Der Weg, der in den Tag führt
Eine Geschichte aus der Welt von »Brautschau«
Die Stimme erklang nicht direkt aus der Mumie, sondern aus einem der seltsamen Maschinenkästen, mit denen sie verbunden war. Vielleicht steuerte dieser auch den toten Körper und benutzte ihn als seine Marionette. Über die Vorgänger gab es so viele Sagen und Geschichten, dass es Straif nicht gewundert hätte, wenn sie in der Lage gewesen waren, Tote zum Leben zu erwecken. Er war jedenfalls vom Grauen gepackt und vermochte nur stotternd zu antworten:
»Du … hast auf mich gewartet, Schatten aus der Vergangenheit?« Straif wich zurück und fasste sein Schwert wieder fester. Die dürre, klapprige Mumie wäre kein ernstzunehmender Gegner für ihn; auch wenn ihm in diesem Moment der ketzerische Gedanke kam, wie man denn eigentlich einen Toten töten konnte.
»Ja. Denn du bist der Dis’Qiper.«
Dis’Qiper – das Wort sagte Straif überhaupt nichts und er hatte auch keine Ahnung, was es bedeutete. Doch um ihn herum begannen mit einem Mal die Goleme zu flüstern. Auch sie erwachten aus ihrem Maschinenschlaf und ihre Fingerklauen klickten dabei aufgeregt.
»Du bist der neue Bewahrer, Bürger.«
Straif warf seine Blicke nach rechts und links und sah atemlos, wie sich die zwölf Goleme langsam aus ihren Sitzen aufrichten und mit zischenden, knirschenden und vielgelenkigen Beinen vor ihre Sitze traten und dort wieder regungslos verharrten. Aber alle starrten ihn drohend mit ihren kalten, grünen Augenknöpfen an, während ihre Stimmen von allen Wänden des Saal als Echo zurück geworfen wurden. Alle deuteten mit ihren rotglühenden Fingern auf ihn.
»Dis’Qiper. Der Bewahrer.«
Straif versuchte Mut zu fassen, auch wenn ihm gleichzeitig heiß und kalt wurde und ihm trotz der Kälte der Schweiß über das Gesicht lief. Er wandte sich wieder an den Untoten, der offenbar der Befehlshaber der Goleme war.
»Und wer bist du, du grauenvolle Gestalt?«, fragte er. »Was willst du von mir?«
Die Mumie hob ganz langsam den Kopf, legte ihn zur Seite und schien ihn mit ihren leeren Augenhöhlen aufmerksam zu beobachten. Ein namenloses Grauen würgte in Straifs Hals.
»Man nennt mich Sadon máni bechhet und dies will ich dir überreichen.«
Der Leichnam hob seine rechte, zur Faust geballte Hand, drehte sie nach oben und öffnete sie. Irgendetwas Flaches, Schmales, das ein wenig an einen kleinen Spielzeugdolch erinnerte, lag auf der Handfläche, doch es interessierte Straif nicht. Er verdaute noch den Namen, den ihm der Tote genannt hatte.
»Du bist der schwarze Sohn von Launin, dem Weisen? Jener Verräter, der aus Eifersucht beinahe seinen Bruder Ksaver, den Roten, erschlug und daran schuld trägt, dass des Máeriqas Tochter, die holde Faiaba, auf ewig in einem Sarg aus Eis ruht?«, erwiderte Straif fassungslos.
Die Maschine, die den Untoten zu steuern schien, begann hektisch zu flackern. Offenbar hatten Straifs Worte etwas in ihr ausgelöst.
Doch wie konnte diese Mumie eines Vorgängers ausgerechnet der Sadon aus der Sage sein? Diese zwei Brüder, die sich um eine Prinzessin stritten, waren doch nur Fantasiegestalten, Figuren eines albernen Volksmärchens, das vom Fall der Drei Reiche berichtete und einen romantischen Grund für ihre Kriege fand, die in Wahrheit nur aus wirtschaftlichen Interessen geführt worden waren und dem Sieger nicht mehr als eine Handvoll Staub gebracht hatten. Das passte auch historisch nicht: Die Schlacht um Hossberg, bei der sich König Launin, Fürst Mériquas und Turini Sud – der Vorfahr unseres überaus freigiebigen Gastgebers Alis – mit ihren Armeen gegenseitig zerfleischten und damit unfreiwillig das dunkle Zeitalter einläuteten, war zwar bereits über siebenhundert Jahre her, aber der Untergang der Vorgänger durch den Sturz des bleichen Máni und die dadurch ausgelöste Große Welle lag noch einmal fast zwei Jahrtausende in der Vergangenheit. Doch dies war wirklich kein Moment, den pingeligen Historiker zu spielen. Dass in diesen dunklen Zeiten, in denen die meisten Menschen das Lesen und Schreiben verlernt hatten und sich nur darum kümmerten, den Tag zu überleben, mit dem sie erwacht waren, in den Köpfen der Dorfältesten ein paar nur mündlich überlieferte Geschichten und Märchen durcheinander gerieten und sich Sagenkreise überschnitten, war auch nicht weiter verwunderlich.
Der grausige Leichnam, der sich für Sadon, den legendären Sohn des verlorenen Mondes ausgab, unterbrach Straifs Gedankengang. Obwohl sich seine Miene nicht bewegte, lag doch ein Hauch von Spott und Erheiterung im Tonfall des Toten:
»Ein Eissarg? Ich würde diese Geschichte zwar ein wenig anders erzählen, aber ja, Ksaver war mein Zwillingsbruder und diese – wie nennst du sie doch gleich – Faiaba liegt in der Tat unter dem Gynashort beerdigt. Aber ich trage keine Schuld an ihrem Unglück. Sie war schon krank und es gab für mich …«
Die Mumie senkte ihren scheußlichen Schädel. Dabei legte sie ihre Finger ans Kinn und parodierte auf diese makabere Weise einen nachdenklichen Mann.
»Doch genug von der Vergangenheit! Die Generatoren, die diesem zufällig ausgewählten Körper ihre Lüge vom Leben einflüstern, werden nicht ewig arbeiten können und schließlich habe ich vom Proff selbst den Auftrag, diesen Schatz in der rechten Hand meines augenblicklichen Avatars dem neuen Dis’Qiper zu überreichen, jenem Auserwählten, dem es gelungen ist, die Tore von Fjall TuDasQ zu öffnen. Also dir.«
Erneut streckte der Leichnam seine Rechte auffordernd nach vorne. Straif wich noch einen weiteren Schritt zurück und seine Augen suchten verzweifelt einen Ausweg aus seiner misslichen Lage. Inzwischen konnte er sich sehr gut vorstellen, wohin das Ganze führen würde und was von ihm verlangt wurde. Er war entschlossen, sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Auch zehn der zwölf Goleme traten in die Arena. Die anderen beiden blieben knisternd und verschmort riechend an ihrem Platz. Waren sie einfach kaputt gegangen wie ein paar der alten leuchtenden Röhren an der Decke?
»Nimm aus meiner Hand die Aufzeichnungen des Baruch und deinen Platz an Stelle dieses verbrauchten Avatars ein, damit ich in dir weiterleben kann«, fuhr die Stimme fort und Straif verstand endlich.
Diese Mumie war nicht Sadon, sondern ein Unglücklicher, dessen Leib er vor langer Zeit übernommen hatte. Sadons Geist befand sich in der aufgeregt blinkenden Maschine und er steuerte seine Marionette, die er Avatar nannte, bis über dessen leiblichen Tod hinaus. Und wie viele Avatare hatte dieses Ungeheuer im Verlauf der Jahrtausende schon gleich Straif eingefangen und zu seiner Hülle gemacht? Der junge Krieger kniff die Augen zusammen und die Knöchel an seiner Schwerthand wurden weiß.
»Du willst, dass ich den Platz dieses Leichnams einnehme?«, fragte Straif mit staubtrockener Zunge. »Warum?«
»Weil die Aufzeichnungen des Baruch um jeden Preis bewahrt werden müssen. Nur durch sie kann die Welt vor ihrem endgültigen Untergang bewahrt werden. Mein Chronometer sagt mir, dass erst die Hälfte der Zeit bis zu Mánis Rückkehr vergangen ist. Diese lachhafte, hässliche Hülle, die du vor dir siehst, habe ich nie gemocht und sie wird bald zu Sand zerfallen. Doch du bist jung und stark. Deinen Körper werde ich einige hundert, vielleicht sogar tausend Jahre konservieren können, bis ein neuer Bewahrer über meine Schwelle tritt. Mir hätte zwar zur Abwechslung mal ein weiblicher Avatar gefallen, denn schließlich war ich ja selbst einmal eine Frau, aber ich kann mir nicht aussuchen, wer sich zu mir verirrt. Fürchte dich nicht, Bürger. Du bist zu Großem ausersehen. Mit deiner Hilfe wird am Ende Baruchs Schmetterling fliegen – und ich werde an Bord sein!«
»Du musst vollkommen verrückt geworden sein, wenn du glaubst, was du da sagst. Bei den zweihundertvierundsechzig Daimonen der Hölle, ich bin nicht dein Dis’Qiper! Ich bin Straif Geris Bar, den die Alben Fenrir Ulf nennen und bin ein Krieger des Baums. Mich kriegst du nicht – weder im Leben noch im Tod.«
Straifs Schwert schwang durch die eisige Luft und trennte mühelos den noch immer auffordernd noch vorne gestreckten Handschuh der Mumie vom Unterarm. Er flog mit ihrem grausigen Inhalt und jener grünen, dolchförmigen Platte, die angeblich Baruchs Aufzeichnungen bewahrte – wer auch immer dieser Baruch war -, in eine Ecke des Raums. Straif nahm sichernd seine Schwertstellung ein. Auch wenn er mit seiner Linken nicht so geübt wie mit seiner Rechten war, wusste er sich durchaus zu verteidigen, aber keiner der Goleme machte Anstalten, sich ihm zu nähern.
»Bürger«, flüsterten ein paar Stimmen durcheinander, »Bürger, die Notstandsverordnungen … Paragraph 58 … Widerstand … Bürger.«
»Ruhe!«, übertönte sie Sadon und augenblicklich verstummten die Goleme. Der Avatar des Seelendiebs hatte sich nicht bewegt. Noch immer streckte die Leiche ihren Armstumpf, aus dem Staub auf den Boden rieselte, von sich. Dann drehte sich langsam der Kopf mit den leeren, schwarzen Augenhöhlen zu Streif.
»Du weigerst dich also, die Ehre anzunehmen und mir als Hülle für die Ewigkeit zu dienen?«, fragte Sadon ruhig, aber er – oder sie? – klang dabei drohend. Dann begann Sadon oder das, was in der Maschine von ihm übrig geblieben war, schallend zu lachen.
»Als ob du eine Wahl hättest, Straif Geris Bar! Omegas, schnappt euch den Dis’Qiper!«
Eine Antwort auf „Der Weg, der in den Tag führt – Fantasyroman (Kapitel 7 – Teil 5)“
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