Irgendwann später, ich hatte längst meinen Rucksack verloren und alle Hoffnungen in diesem Dante’schen Höllenkreis fahren lassen, fand ich dann doch durch einen weiteren schmalen und niedrigen Durchstieg einen Ausgang aus den unzähligen Höhlen und Gängen des Berges. Ich wand mich wie eine Schlange, schaufelte mich in schwimmenden Bewegungen durch zerbröckelndes, nachrutschendes Geröll und feinen Sand, atmete knochentrockenen Staub und steckte endlich den Kopf und dann den ganzen Körper ins Freie, rutschte den leicht abschüssigen Hang bäuchlings ein paar Meter hinunter.
Als ich zur Ruhe kam, drehte ich mich erleichtert auf den Rücken und versuchte mich an ein paar tiefen Atemzügen. Sofort richtete ich mich hustend auf und rieb, so gut es eben ging, die verklebten und tränenden Augen frei. Eine tiefe, nur knapp über dem Horizont stehende, aber trotzdem unbarmherzig herab brennende Sonne stach mich wie ein gieriges Insekt. Die trostlose Wüste hatte sich während meiner Irrwanderung in den Höhlen unter ihr nicht verändert: Hellbraune, wie gebackene Erden, Steine, ab und an ein vom heißen Wind ausgetrockneter Busch in der Senke dort unter mir, wo sich vielleicht am frühen Morgen ein wenig Tau sammelte. Sonst war kein Leben auszumachen. Eine tote Welt, wie am Abend des dritten Schöpfungstages, als Gott noch kein Leben geschaffen hatte.
Und doch war etwas anders als am Vormittag, bevor wir uns in der Höhle verlaufen hatten. Wie lange war das her? Mir schien höchstens eine Stunde vergangen zwischen Günecs Unfall, unserem sensationellen Fund und meiner Rückkehr durch das Gänge-Labyrinth an die Oberfläche, die einer Wiedergeburt gleichkam. Die Zeit war durcheinander geraten. Die Schatten, die die Felsen auf die Hänge warfen und die sich in der Senke sammelten, waren länger geworden, als würde bald die Abenddämmerung hereinbrechen. Doch ich spürte einfach, dass das nicht stimmte. Die Sonne stand im Osten, wenn ich nicht vollkommen die Orientierung verloren hatte. Folglich war ich entweder den ganzen Tag und die Nacht durch die Gänge dieser erstaunlichen Höhle gekrochen oder die Stunden war rückwärts gelaufen. Eine Mutmaßung war so absurd wie die andere und ich entschloss mich daher, mich zuerst einmal um mein Überleben in dieser trostlosen Einöde zu kümmern. Dann konnte ich noch immer über die Tageszeit philosophieren.
Wenn ich hier nicht liegen bleiben und verdursten wollte und damit auch Günecs Schicksal im Inneren des Berges besiegelte, musste ich bald zurück in die Zivilisation finden, zu dem Camp oder dem Grabungsort, vielleicht auch zu der palästinensischen Siedlung, die ich nordöstlich von mir vermutete, wo die Überlandstraße 90 von Amman hinunter am See entlang führte. Dort lag eindeutig mein Ziel.
Ich stand auf, klopfte mir, so weit es ging, den Dreck aus der Kleidung und schätzte noch einmal die Himmelsrichtungen ab. Es konnte keinen Zweifel geben: Diese Sonne stand im Osten. Zu viele Tage und Nächte hatte ich schon in dieser Wüste verbracht, um nicht den Unterschied zwischen Morgen und Abend zu erkennen. Die Farben des Himmels, das Glitzern der Sandkristalle, der feuchtwarme Hauch, der aus der Senke stieg: Wenn ich also heimfinden wollte, musste ich die Sonne als Richtungsweiser verwenden und den etwa fünf- bis sechshundert Meter hohen Tafelberg emporsteigen, aus dem ich mich gerade in halber Höhe aus einem unscheinbaren Erdloch wie bei einer schweren Geburt gequält hatte. Zu meiner Rechten schob er eine mächtige, nicht allzu steile Flanke in die Wüste, auf der noch teilweise der Schatten lag. Hier war auch die beste und kräftesparende Aufstiegsroute. Ich musste nur genau darauf achten, wohin ich meine Füße setzte. Denn dort gab es, versteckt in dem lockeren Geröll, giftiges Ungeziefer, Skorpione und auch Schlangen. Die Ampullen mit den Antidoten waren bei Günec in der Erste-Hilfe-Ausrüstung verblieben.
Während die Sonne immer höher stieg und gierig die letzten Schatten von den Felsen leckte, bald die Luft flimmerte und mir das Atmen schwer machte, stieg ich, sorgfältig mit meinen Kräften haushaltend und häufig pausierend, den Hügel empor. In den europäischen Alpen wäre das nur ein Spaziergang gewesen, aber hier in der trockenen und salzigen Hitze wurde eine kaum zu bewältigende Herkulesaufgabe daraus. Sand knirschte zwischen meinen Zähnen. Meine Zunge klebte am Gaumen und fühlte sich rau und geschwollen an. Sie schien mir kaum feuchter als der immer wieder unter meinen Schritten nachgebende, herabrutschende und kochend heiße Staub, in den ich bis zu den Knöcheln einsank und der den Aufstieg so schwer machte. Erneut verfluchte ich die Leichtfertigkeit, mit der ich nach unserem Amphorenfund das Wasser meiner Feldflasche bis auf den Rest, den ich Günec gelassen hatte, verschwendet hatte, um mir ein paar Ornamente auf der Amphore besser sichtbar zu machen. Schweiß rann aus all meinen Poren und vermischte sich mit dem Staub zu einer sandpapierähnlichen Mischung, die sich in den Körperfalten sammelte. Schnell lief ich mich trotz aller Vorsicht wund.
Gegen Mittag, die Sonne stand nun fast senkrecht über mir, erreichte ich die obere Kante des Tafelbergs. Wie ich erwartet hatte, breitete sich vor mir eine ausgedehnte, im Durchmesser etwa zehn Kilometer breite Hochebene aus, die ich noch durchwandern musste. Über ihr waberte in der Hitze ein unruhiger Quecksilberspiegel, der einen riesigen See vorgaukelte. Hier oben lag eine größere Sende- und Abhöranlage der israelischen Armee, mit deren Hilfe die nahe Grenze überwacht wurde. Aber so aufmerksam ich auch spähte, ich konnte sie nirgendwo entdecken. Die gelbe und schrundige Ebene war leer und kahl wie eine Landschaft auf dem Mars. Nur die gigantische Fata Morgana der endlosen Wasserfläche schwebte wie ein Hohn für mich Halbverdursteten über ihr.
Mich überwältigte von Neuem die Unwirklichkeit dieses Ortes, die ich während meines mühsamen Aufstiegs verdrängt hatte. Nicht nur, dass kein Zeichen von Zivilisation zu entdecken war, es gab hier auch kein tierisches Leben: Ich hatte mich umsonst vor Vipern in Acht genommen, es gab hier keine; auch keine Vögel am Himmel, keine vor mir flüchtenden Eidechsen, Skorpione oder Insekten, wofür ich allerdings dankbar war. Nicht einmal mehr Sträucher oder Büsche konnte ich hier oben ausfindig machen. Diese Welt war leer, hier gab es nur den Sand, Felsen und mich.
Diese tote Ebene bei Tag zu durchwandern erschien in der Saunahitze und mit den verwirrenden Luftspiegelungen vor mir ein selbstmörderisches Unterfangen. Daher suchte ich mir einen Unterschlupf in der Nähe, eine Spalte zwischen zwei Felsen, in die ich mich zwängen konnte und dort wenigstens nicht mehr schutzlos der prallen Sonne ausgesetzt war. An dieser Stelle wollte ich bis zur Nacht abwarten und deren Kühle ausnutzend die Hochebene des Tafelberges durchwandern. Freilich musste ich wegen Günec eilen, aber er war insgesamt in einer besseren Lage als ich. Wenn ich einen Hitzeschlag bekam, nutzte ihm das auch nicht weiter. In der Nacht sah ich vielleicht die Lichter der Sendeanlage oder würde auf der anderen Seite des Hügels auf die Straße oder gar auf das Camp stoßen. Dort hatte man sicher schon die Suche nach uns eingeläutet. Wahrscheinlich durchforsteten die Kollegen und die einheimischen Helfer bereits die Höhlengänge und suchten mich nicht im Freien. Hoffentlich fanden sie wenigstens Günec.
Ich muss trotz Durst und juckender, wunder Haut bald vor Erschöpfung in meinem unbequemen Winkel eingeschlafen sein. Ich kann mich an einige wirre Fieberträume erinnern. Träume in Träumen; in einer Traumwelt geträumt.“
Georg Habakuk zögerte erneut. Jonas wollte unbedingt die Geschichte seines Vaters hören, die ihn faszinierte und erstaunlich an die von Binderseil erinnerte. Er hatte es daher nicht eilig, den Wagen zu starten und weiter in die Badetherme zu fahren. Jetzt allerdings befürchtete er, sein alter Herr könnte den Erzählfaden verloren haben. Er wollte bereits etwas fragen, als sein Vater doch noch fortfuhr. Georg Habakuk begann mit einer englischen Gedichtzeile, die Jonas, da war er sicher, bereits von Linus gehört hatte, auch wenn ihm im Moment der Zusammenhang entfallen war.
„All that we see or seem – is but a dream within a dream“, flüsterte der alte Mann und seinem Sohn klang es wie eine Reminiszenz seines Vaters an die eigene Demenz. Dann fuhr der alte Mann mit seiner Erzählung fort.