Der Weg, der in den Tag führt
Eine Geschichte aus der Welt von »Brautschau«
Meine geduldigen Zuhörer, ihr wollt mich an dieser Stelle vielleicht unterbrechen und mich fragen: Sahar, wer war denn dieser Straif, von dessen Todeskampf du uns erzählst? Woher kam er denn, welche war die Sprache seiner Heimat? Welche Mutter hat ihn geboren, wo ist er aufgewachsen und zu welchem Stamm gehörte er?
All diese Fragen kann ich euch nicht beantworten, denn viele der Antworten weiß ich selbst nicht. Straif Sadon Ulf, der Felsen Baruchs, wie man ihn später nannte, war ein bei den Kämpfern des Baums sorgfältig ausgebildeter Söldner und ein Krieger, aber er hatte davor keine Vergangenheit, von der ich berichten kann. Er besaß nur eine Zukunft und diese stand im Moment auf wackligen, ja, auf tönernen Füßen. Dieser starke Mann, bereits in seinen jungen Jahren ein Veteran aus vielen Kämpfen und Schlachten, war ein noch nicht eingelöstes Versprechen. Das einzige, was ich euch im Augenblick von ihm nennen kann, ist sein Ziel, das er allerdings nie erreichen würde. Es wollte nach Fronstjin. Dieser Name stand in jener Zeit nur für eine weitere elende Ansammlung halb in der Erde vergrabener Holzhütten, die sich an eine schlammige Furt über den kurzen und nur wenige Monate im Jahr eisfreien Flusses Hrimthur schmiegte. Dort suchte ein Kriegsherr nach Söldnern und dessen Heer wollte sich Straif anschließen.
Heute ist Fronstjin eine weitere Perle unter den weißen Städten, die die Halskette um das hohe Gradmir – die Hauptstadt des Zares von Litna – bilden. Längst haben dort die Elektrizität und die Moderne Einzug gehalten und es führt eine häufig befahrene Bahnstrecke unter dem Newton-Gebirge und dem Berg Trudgelmir durch einen meilenlangen, erst vor dreißig Jahren wiederentdeckten Vorgänger-Tunnel von Écuyer bis in die nördliche Stadt und weiter nach Sordil an der Eismeerküste.
Aber in den Zeiten von Straif war Fronstjin vollkommen abgeschnitten von der restlichen Welt und wurde von einem zähen und bleichen Barbarenvolk mit grünen Augen und roten Bärten bewohnt, das für seinen eigenen Bedarf magere Wollschafe züchtete und aus Eislöchern des nahen Hrimthur-Sees die großen und schmackhaften Fiskri-Dorsche angelte, deren Rogen wir gerade an der überaus üppigen Tafel des Vezirs genießen durften.Was für ein ärmliches Leben führten sie damals im Norden! Und doch brannten in den Herdstätten der niedrigen Langhäuser warme und einladende Feuer und die Fronstjiner waren ein fröhliches Volk, das Fremde gastfreundlich und mit warmen Herzen in seiner Mitte willkommen hieß.
Doch lasst uns zu dem einsamen Wanderer zurückkehren! Der Gedanke an diese nur wenige Meilen unter ihm im Flusstal liegende und doch für ihn wahrscheinlich unerreichbare Siedlung ließ Straif voller Verzweiflung aufschluchzen. Er stolperte ungeschickt und stand für einen kurzen Augenblick still.
Da hörte er es.
Er hörte ein Heulen. Andauernd und dumpf hallend kroch es wie ein Nebelfetzten über den Schnee, den die heraufziehende Dämmerung fleckig machte. Hinterhältig schlich es sich zu ihm heran und schien sein jagendes Herz mit einem bitterkalten Griff zu packen. Straifs Pulsschlag setzte einmal aus, er erstarrte zur Eissäule und der gierige Wind zerrte an dem Regungslosen. Seine erschütterte Seele weigerte sich, zu glauben, welches Wort sein Verstand ihm zuflüsterte:
»Eiswölfe!«, entsetzte er sich.
Allzu deutlich vernahm er nun den Ruf der einzigen Raubtiere, die in der Schneewüste leben und dort nach ihrer Beute jagen: Schafe, Machmouts und die schweren, langsamen Woll-Einhörner. Aber auch einen einsamen Wanderer oder gar ein unbefestigtes kleines Dorf verschmähen sie nicht. Ihr wollt sie vielleicht mit den Murlanen oder den Schakalen der Grauen Wüste vergleichen, meine Zuhörer, doch gegen die Eiswölfe sind eure Raubtiere nur Schoßhunde für verwöhnte Prinzessinnen. Sie sind die furchteinflößendsten Geschöpfe von ganz Frostje, auch wenn man sie heute nur noch selten sieht und sie inzwischen ein beliebtes Ziel für die Jäger am Hofe des Zares sind. Eiswolfe sind schier unvorstellbar grausame Bestien, größer und schwärzer als der Tod selbst. Die Tag-Zwerge, die im Gezweig des Weltenbaums von Ygdras ihr Leben in endlosen Festen feiern, hatten Straif, der eine Zeitlang bei ihnen gewohnt und die Schriften der Weisen von Udgârt studiert hatte, zwar nach diesen Ungeheuern Fenrir Ulf – den Schreckenswolf – genannt, doch weder die Zwerge noch er selbst waren jemals diesem Schrecken der Eiswüste begegnet. Und auf eine nähere Bekanntschaft legte Straif auch keinen großen Wert.
Aber das Heulen kam näher – die Hetzjäger waren eindeutig in Straifs Richtung unterwegs. Die Wölfe, wahrscheinlich ein Rudel, das sich um ein dominantes Muttertier versammelte, hatte die Witterung eines einsamen und vermeintlich hilflosen Opfers aufgenommen.
Straif blinzelte den verkrusteten Schnee von seinen Lidern und spähte angestrengt in das aus Dunkelheit und Schneetreiben gewobene Nichts vor sich. Die für die Verhältnisse des Newton-Massivs niedrige Felsbarriere, die seine Augen so verzweifelt suchten, war eigentlich nur eine etwas markanter, schroffe Klippe, die den Hangabbruch hinunter ins rettende Tal markierte. Der Krieger hatte sie bis zum Abend erreichen wollen, um in einer ihrer Zerklüftungen oder Nischen die frostige Nacht zu überstehen. Auch wenn er sie bei den schlechten Sichtverhältnissen mehr erahnte als sie wirklich zu sehen und sie sich wohl nur als Vision herbei wünschte, war Straif der Felswand sicherlich nähergekommen. Grau und schmutzig schien sie dem Jüngling wie eine bedrohlich aufziehende Gewitterfront knapp über den Horizont hinaus zu ragen, allerdings noch immer einen Fußmarsch von vielleicht fünf oder zehn Furlong entfernt zu liegen. Hinter dieser Wand, die die alten Wenden Fjall TudAsq – Felsen des Todes – getauft hatten, begann der steile und serpentinenreiche Steig hinunter nach Fronstjin. Es waren halsbrecherische, vereiste Stufen, die dort in den Felsen geschlagen waren, auf denen Straif jedoch kein Eiswolf würde folgen können.
Doch dieser Abstieg lag für ihn so fern und verloren wie die Tage der Vorgänger. Zuallererst musste Straif den Fjall überhaupt einmal lebend erreichen und dann auch noch einen erklimmbaren Einstieg in ihn finden. In einer höher gelegenen Höhle oder Spalte in seiner fast lotrechten Wand würde er vielleicht einen Unterschlupf finden, der ihn vor seinen Verfolgern schützen konnte. Auf jeden Fall musste er jetzt sofort seine Entscheidung treffen. Sollte er den Bestien hier auf der Ebene entgegentreten oder besser sein Heil in der Flucht versuchen?
Straif befreite kurzentschlossen den Oberkörper von seinem steif gefrorenen Umhang, den er ohne Bedauern zur Seite warf, weil der ihn von nun an nur noch behindern würde. Darunter trug der junge Krieger einen wattierten Wams und ein leichtes Kettenhemd, das ihn vielleicht vor einem heimtückischen Verräterdolch oder einem verirrten Pfeil, aber niemals vor den Reißzähnen eines wilden und ausgehungerten Frostje-Fenrir beschützen könnte. Straif rannte los. Er lief so schnell und gut, wie es die Schneewehen zuließen, die der Wind über seinen Pfad geblasen hatte. Immer wieder brachen seine Füße durch die dünne, vereiste Oberfläche, die der Reif auf dem lockeren Schnee gebildet hatte und er kam mehrmals gefährlich ins Stolpern.
Aber Straif trieb sich selbst an – vorwärts, nur vorwärts. Er wusste, was auf dem Spiel stand und jetzt fror er auch nicht mehr. Doch die Wärme, die in seinem Körper entstand und ihn aus seiner Steifheit weckte, war trügerisch. Sie würde seinen Untergang nur beschleunigen, wenn er nicht bald einen geschützten Ort fand. Der Krieger versuchte, seine Kräfte einzuteilen. Lange konnte allerdings diese Geschwindigkeit nicht mehr aufrecht erhalten, mit der er durch den Schnee hetzte. Schon jetzt keuchte er verzweifelt und der Dampf seines Schweißes hing wie eine Rauchfahne über ihm. Doch er kam dem Felsen des Todes näher; das machte ihm Hoffnung. Immer deutlicher und bedrohlicher ragte er vor ihm auf und bald hatte Straif die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Vielleicht würde er den Wölfen doch entkommen. Er machte eine kurze Pause, um wieder zu Atem zu kommen.
Seine Hoffnungen hatten ihn betrogen: Er spürte die Wölfe mehr, als er sie hörte. Sie waren nun ganz in seiner Nähe. Straif umfasste den Griff seines Schwertes und drehte sich vorsichtig um, zog dabei die scharfe Waffe aus ihrer Scheide. Es waren vier oder fünf Schatten, die sich plötzlich wie Daimonen aus dem grau-schwarzen Nichts der Dämmerung schälten; ein kleines Rudel von gewaltigen, tiefschwarzen Wesen, deren Schultern sich in der Bauchhöhe des nicht eben kleinen jungen Mannes befanden. Gelbe Augen funkelten böse in der Finsternis. Straif machte einen Ausfallschritt und suchte festen Halt auf dem rutschigen Untergrund. Dann nahm seine Kampfstellung ein, das Schwert hielt er dabei stoßbereit waagerecht ausgestreckt direkt neben seinem Kopf, den anderen Arm schützend vor einer Kehle angewinkelt.
Knurrend und vorsichtig, dabei einen enger werdenden Halbkreis beschreibend, kam der erste und mutigste, vielleicht auch hungrigste Fenrir heran. Aus seinem Maul mit den furchterregenden Reißzähnen tropfte Geifer und fiel in den Schnee. Mit einem heiseren Bellen hatte er den anderen Tieren des Rudels vorher deutlich gemacht, dass dies seine Beute war. Die Wölfe jagten zwar gemeinsam, aber nur einer erlegte ihr Opfer, von dem als erste das riesige Muttertier kosten durfte, das sich in einiger Entfernung hielt und ruhig zusah, wie ihr Rudel ihr Opfer schlug.
„Komm nur, komm“, flüsterte Straif entschlossen und machte eine auffordernde Handbewegung. Die Zeit des Weglaufens war vorbei. Jetzt war er ganz Krieger und bildete mit seiner Waffe eine tödliche Einheit. Der Wolf zögerte, schnüffelte aufgeregt. Er roch es: Irgendetwas stimmte nicht mit dieser Beute; eine nicht greifbare Gefahr schien von dem seltsamen Wesen, das aufgerichtet auf zwei Beinen ging, auszugehen. Wahrscheinlich war der Fenrir noch nie einem Menschen begegnet.
Dann ging alles sehr schnell. Der Wolf ging in die Hinterbeine und setzte zum Sprung auf den Hals seines Opfers an. Straif wich zur Seite. Seine messerscharfe Klinge wirbelte neben ihm durch die trübe Luft, das Schwert drang in den Leib des Tieres und durchtrennte dessen für einen kurzen Moment ungeschützten Unterleib. Der Wolf fiel ungeschickt und Blut spritzend einen Schritt neben dem Kämpfer in den Schnee und taumelte steifbeinig zur Seite, die hervorquellende rosafarbene Schnur seiner Eingeweide hinter sich herziehend. Nach einigen unsicheren Schritten brach der Frenrir zusammen.
Eine Antwort auf „Der Weg, der in den Tag führt – Fantasyroman (Kapitel 7 – Teil 2)“
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