„Aber was hat das mit deiner Geschichte zu tun?“, wagte Jonas seinen Vater auf die Gefahr hin, dass dieser völlig den Faden verlor, zu unterbrechen. Wenn er nicht wollte, dass sein alter Herr ihm nun stundenlang die philologischen Feinheiten der Qumrantexte auseinandersetzte, musste er ihn bremsen. Habakuk wirkte für einen Moment verwirrt, machte den Eindruck, als wisse er nicht, wo er war.
„Es war kurz vor Ende der Kampagne, als ich zusammen mit meinem palästinensischen Grabungshelfer und späteren Freund Günec verloren ging. Diese Höhlen in der Wüste, in denen die Essener oder wer auch immer vor zweitausend Jahren ihre Texte lagerten, sind labyrinthisch und weitläufig. Sie durchlöchern den Berghang wie einen Schweizer Käse. Da konnte es schon mal passieren, dass man bei einer Erkundung in die Irre ging. Aber irgendwann fand jeder wieder heraus. Auch ich gelangte nach einigen Umwegen wieder ins Freie, musste aber beim Verlassen der Höhle feststellen, dass ich an einen Ort gelangt war, der mir so fremd war wie ein anderer Planet. Der Höhlengang war wie ein Tor zu einer anderen Welt. Ich kann mir vorstellen, wie fantastisch das für dich klingen mag. Das Ganze klingt auch nach Science Fiction – aber es ist mir und Günec wirklich passiert. Er hat darüber sogar einen Bericht geschrieben, den leider niemand lesen wollte. Ich habe das Manuskript zu Hause im Bücherschrank. Ich gebe es dir, wenn wir später heimfahren. Vielleicht hilft uns Günec, er hat mich erst kürzlich besucht.“
Jonas wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er konnte sich gut an Günec Nasawi erinnern, jenen stämmigen Freund seines Vaters mit dem mächtigen Bart, den er als Kind so sehr bewundert hatte, wenn dieser zuverlässig bei einer seiner häufigen Vortragsreisen zu Besuch kam und eine Zeitlang im Junggesellenhaushalt der beiden wohnte. Das waren immer ganz besondere Höhepunkte in seiner Kindheit und Jugend gewesen, Feiertage für ihn und auch für Georg Habakuk. Nasawi brachte jedesmal ein besonderes Spielzeug oder ein Buch für sein Patenkind mit und widmete Jonas viel Zeit und Aufmerksamkeit. Welch ein Unterschied hatte zwischen dem zu tausend Scherzen aufgelegten Palästinenser und dem trockenen, nüchternen Vater bestanden!
Nasawi hatte sich aus kleinen und widrigen Verhältnissen vom für ein lächerliches Taschengeld arbeitenden Grabungshelfer zum studierten Akademiker hochgearbeitet. Er erreichte in Achtzigern eine ordentliche Professur an der Fakultät für Altertumskunde an der altehrwürdigen Amerikanischen Universität in Beirut. Vor über zehn Jahren zerriss ihn dann direkt vor dem Eingang der Uni eine Autobombe. Er war das einzige Opfer und es bekannte sich nie eine der zahllosen libanesischen Extremistengruppen zu dem Anschlag.
Konnte es sein, dass sich Jonas Vater auch in diesem klaren Moment nicht mehr an jenen entsetzlichen Verlust erinnern konnte? Oder wollte er es einfach nicht wahrhaben, dass er seinen einzigen echten Freund bei einem sinnlosen Terroranschlag verloren hatte, weil dieser früh dran war und ausgerechnet in dem Augenblick sein Fahrrad an einen Laternenmast kettete, als das mit einer Zeitbombe verminte Auto direkt daneben in die Luft flog?
Und was das Manuskript anging, das Nasawi angeblich Georg Habakuk hinterlassen hatte: Jonas hatte die Bibliothek seines Vaters längst aufgelöst und die Hälfte der Bücher der Universität gestiftet, den nicht an den Mann bringbaren Rest weggeworfen. Wahrscheinlich war der Text des palästinensischen Professors bei dieser zweiten Hälfte gewesen. Es war aber auch möglich, dass er noch in einer Kiste in der fast ausgeräumten Eigentumswohnung seines Vaters ruhte, jener Immobilie, die der Sohn trotz seiner Vollmachten ohne finanziellen und juristischen Aufwand nicht so einfach verkaufen durfte. Da Jonas jeden Papierkram und bürokratischen Ärger scheute, stand die große Wohnung seit Jahren leer. Er nahm sich vor, dort bei nächster Gelegenheit nach dem Manuskript von Nasawi zu suchen. Vielleicht fand er die Zeit morgen nach der Wahlveranstaltung, für die er seinen Urlaub kurz unterbrechen musste.
Jonas konzentrierte sich wieder auf die Erzählung seines Vaters, der gerade umständlich beschrieb, wie er sich beim Erkunden eines vielversprechenden Ganges gemeinsam mit Günec im Höhlenlabyrinth oberhalb von Qumran verirrt hatte und dabei fast verschüttet wurde.
„Der Sandstein der Wände ist dort äußerst bröcklig und von der trockenen Hitze mürbe”, erzählte er gerade. „Es genügt manchmal nur eine flüchtige Berührung oder ein fester Tritt auf den Untergrund, dass das Ganze ins Rutschen kommt und wahre Gerölllawinen von der Decke stürzen. Trotz der modernen Ausrüstung ist es ein Eiertanz, auf der Suche nach kleinen Tonscherben und Papyrusfetzen durch diese manchmal nur schulterhohen Gänge zu kriechen. Man fragt sich unwillkürlich, wie sich jene Juden vor zweitausend Jahren gefühlt haben und sich zurechtfanden, als sie ihre Familien und ihre wertvollen Bibel- und Gesetzesrollen hier vor Römern und wilden Wüstenstämmen verbargen und nur mit einem flackernden Talglicht ausgerüstet wie halbblinde Maulwürfe durch stickige Kavernen und Klaustrophobie erzeugende Gänge krochen.
Jedenfalls waren Günec und ich bereits auf dem Rückweg. Eine zurückgelassene, leere Coladose des amerikanischen Grabungsteams hatte uns wie Hänsel und Gretels Brotkrumen die richtige Abzweigung gezeigt. Da tat sich plötzlich unter uns der Boden auf und wir stürzten hilflos gemeinsam mit einer Stein- und Sandlawine in eine bislang verborgene Kaverne unter uns – nur etwa zwei, drei Meter tief, aber der fast senkrechte Sturz fühlte sich viel länger an. Mir war, als wäre ich ewig unterwegs, bis ich endlich auf den Boden fiel. Im Nachhinein denke ich, dass dies der Moment des Übergangs war. Die zwar niedrige, aber recht geräumige Höhle, in der wir uns wiederfanden, war zwar an dieser Stelle knietief mit feinem Wüstensand bedeckt, den jahrhundertelang der Wind aus einer schmalen Öffnung weiter hinten ins Innere geweht hatte, aber wir schlugen trotzdem recht hart auf und Günec verletzte sich dabei am linken Fuß. Ich muss mir dabei ein wenig den Rücken gestaucht haben, denn er schmerzte danach noch tagelang.
Nachdem wir uns etwas beruhigt hatten und wieder zu Atem gekommen waren, untersuchte ich im Schein unserer Stirnlampen den Knöchel meines Freundes, der mir zwar nicht gebrochen schien, aber ordentlich geprellt. Er schwoll bereits so bedrohlich an, dass ich ihm eilig den Schuh von Fuß zog. Ohne meine Stütze konnte Günec sich kaum aufrichten. Er würde auch nicht mehr weiter gehen können.
„Das wird schon wieder“, machte ich dem wegen der Schmerzen laut Jammernden Mut und war in diesem Moment wirklich nicht allzu besorgt. Die Sache hätte auch schlimmer ausgehen können. Wir waren ja nicht mehr weit von der Grabungsstätte entfernt und konnten vielleicht sogar um Hilfe rufen. Wahrscheinlich war es mir auch möglich, durch den Einsturz wieder nach oben zu klettern.
Ich warf den Kopf in den Nacken und leuchtete hinauf. Zu meiner Verblüffung war knapp über mir nicht die erwartete Öffnung zu sehen, die der Einsturz der Decke verursacht haben musste, sondern massiver Felsen. Ich griff nach oben und betastete den Stein, weil ich es zuerst für eine optische Täuschung hielt. Aber nein, es war kein Zweifel möglich: Wir waren zwar von oben hinabgestürzt, aber an einem ganz anderen Ort gelandet, zwar ebenfalls in einer dunklen Kaverne des Qumran-Hügels, soweit ich das beurteilen konnte, aber erstaunlicherweise nicht unterhalb der Stelle, an der wir durch den Boden gefallen waren. Waren wir in dem Chaos mit der Sanddüne tiefer in die Höhle hinabgerutscht, auch wenn ich mich nicht daran erinnern konnte? Das würde zumindest erklären, warum mir der Fall so lang vorgekommen war.
Ich schob dieses Rätsel erst einmal zur Seite und beschloss, mich um das Nächstliegende zu kümmern. Ich suchte mit dem Licht meiner Lampe nach dem Rucksack mit den Wasservorräten, den mein Helfer getragen hatte und der hier irgendwo liegen musste. In ihm war auch eine Erste-Hilfe-Ausrüstung verstaut, mit der ich Günec Bein verbinden und seine Schmerzen behandeln konnte. Dabei glitt der scharfe, kugelrunde Lichtkreis der Stirnlampe über einen gewaltigen Hügel aus Amphoren, Tongefäßen und Urnen, die aufeinandergestapelt offenbar vollkommen unbeschädigt an der Höhlenwand lehnten. Ich erstarrte. Auch Günec verstummte und leuchtete fasziniert hinüber.
„Das ist unglaublich“, sagten wir gleichzeitig. Wir wussten sofort, was wir da gefunden hatten. Es traf uns wie ein elektrischer Schlag. Dies war ein weiteres Lager für Pergamente und Papyrusrollen, das die Essener – oder wer auch immer sich hier vor über zweitausend Jahren verborgen hatte – in dieser Höhle eingerichtet hatten. Es schien bereits auf den ersten, flüchtigen Blick größer als alle anderen, bereits entdeckten, zusammen! Wenn in diesen Tonkrügen tatsächlich weitere gut erhaltene Texte aus der Zeit vor Christi Geburt lagerten, dann hatten wir durch Zufall einen Jahrhundertfund gemacht. Das musste die größte antike Bibliothek sein, die je entdeckt worden war. Wir fühlten uns, als hätten wir die Schriften von Alexandria entdeckt.
Ich näherte mich vor Ehrfurcht und Aufregung zitternd dem halb im Wüstensand begrabenen Lager, beugte mich herab und nahm vorsichtig eine der oberen Amphoren in die Hand. Ich zerbrach mühelos das im Verlauf der Jahrtausende in dünnes Glas verwandelte Wachsiegel und kippte das tönerne Behältnis leicht. Eine dicke Papyrusrolle glitt aus ihr heraus in den Sand.
Ich gestehe, dass ich in diesem Moment mehr einem fiebernden Schatzräuber als einem ordentlichen Altertumsforscher glich. Aber in dieser extremen Situation warf ich meine Ausbildung und die wissenschaftliche Sorgfalt über Bord, die mich eigentlich gezwungen hätten, meine Finger von dem Fund zu lassen, bis ein Grabungsteam alles kartografiert und Zentimeter für Zentimeter untersucht, katalogisiert und mit kleinen Haarpinseln vorsichtig vom Dreck der Jahrhunderte befreit hatte. Und auf keinen Fall durfte ich jetzt diesen Papyrus nehmen und ihn einfach so entrollen, um neugierig seinen Inhalt zu studieren. Das durfte ausschließlich in einem Labor unter strengsten Auflagen und Vorsichtsmaßnahmen geschehen, damit nichts Unwiederbringliches verloren ging und mir das wertvolle Papier wie Staub zwischen den Händen zerbröselte. Ich hörte, wie hinter mir Günec missbilligend und scharf die Luft einzog und erschrocken das muslimische Glaubensbekenntnis murmelte. Aber die Textrolle sah so frisch aus, als wäre sie erst gestern geschrieben und in das tönerne Behältnis geschoben worden. Im unruhigen Licht meiner Stirnlampe entzifferte ich die ersten Worte, die zu meiner Überraschung in klassischem Griechisch geschrieben waren:
„Das Sein ist etwas Unsichtbares, dem es nicht gelingt zu scheinen, das Scheinen etwas Schwaches, dem es nicht gelingt zu sein.“
Mir war dieser Satz schon ein wenig anders formuliert in den „Fragmenten der Vorsokratiker“ von Diels und Kranz begegnet. Wie es auf diesem Papyrus anschließend weiterging, war mir allerdings vollkommen neu. Es erschütterte mein Weltbild:
„So ist das Wort des Redners wie ein Getreide, das der Sämann auf den Acker streut. Einiges fällt auf Stein, vieles auf die festgetretene Erde und nur wenige Samenkörner auf den fruchtbaren Boden.“