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Nutzlose Menschen – Roman (Leseprobe) – Teil 1

Ende dieses Monats, bevor ich mich in den Sommerurlaub verabschiede und wie in jedem Jahr zwei Monate lang ein analoges Leben führe, wird mein neues Buch “Nutzlose Menschen” im Buchhandel erscheinen. Hier schon mal als Leseprobe für die ein oder zwei treuen Leser dieses Blogs ein paar Abschnitte des ersten Kapitels dieses zentralen Romans aus meinem “Jahrmarkt in der Stadt”-Zylus.

Nutzlose Menschen
Roman
250 Seiten
erhältlich gebunden und als E-Book

 

 

“Sie tun nichts, was wert ist, getan zu werden,
und sagen nichts, was wert ist, gesagt zu werden,
aber sie tun und sagen es immer und immer wieder …”
Saki

*

ERSTES KAPITEL
Die Beamten

»Ironie ist teuer. Sie kann sich nur erlauben, wer sie sich wirklich leisten kann«, erwiderte Klammer lächelnd. Er wischte mit einer strengen, konzentrierten Bewegung ei­nen hellen Fussel vom Revers seines lindgrünen Jacketts. »Das ist, auf einen allzu kurzen und auch durchaus eu­phemistischen Nenner gebracht, die Essenz der Philoso­phie des Hippias und etwas, das der nüchterne Platon dem Sophisten endothym nicht verzeihen konnte. Auch dem Chaos kann sich im Übrigen nur der lustvoll hingeben, der es versteht, eine gewisse Ordnung zu genießen.«

Sapher zuckte hilflos mit den Schultern.

»Entschuldigen Sie bitte, Herr Dr. Aber wie so oft verste­he ich Sie nicht.« Er drehte mit einer unbewussten Geste der Kapitulation seine Handflächen nach oben und seufz­te. »Wenn ich ehrlich bin, dann muss ich jetzt zugeben: Ich verstehe Ihre Plaudereien eigentlich nie. Sie sind doch jetzt seit zwei Jahren mein Vorgesetzter an der Behörde und fast an jedem Arbeitstag reden wir miteinander, nicht wahr? Und trotzdem habe ich immer den Eindruck, Sie reden nicht mit mir, sondern an mir vorbei, mit … ich weiß nicht, mit jemandem an einem ande­ren Tisch oder mit der Nachwelt. Ist das Ihre Absicht? Was sind denn das für Gedankengänge, die Sie immer wieder vor mir ausbreiten? Wen sollen sie beeindrucken? Mich verwirren Sie nur …«, sagte Sapher unsicher. Nikolaus Klammer erweckte bei ihm nicht den Eindruck, als habe er ihm zugehört. Sein Vorgesetzter sah mit seinem einge­frorenen Lächeln zum Fenster hinaus, als er antwortete:

»Es gibt nichts Erstaunlicheres als mich selbst«, zitierte er zum wiederholten Male seinen Lieblingsschriftsteller, »Sie und ich sind wie die zwei im Altersverhältnis zuein­ander umgekehrten Beamten Poiret und Bixiou. Verzei­hen Sie mir. Ich will Sie nicht verletzen, aber Sie sind ein eingeschränkter und – im positiven Wortsinn -, ein einfacher Bürger. Nehmen Sie es als Auszeichnung, wenn ich das nun sage, als eines der seltenen lobenden Worte aus meinem verbitterten Mund. Denn Ihre Rasse und Ihresgleichen, die doch den Staat erhalten, sind im Aussterben begriffen. Der Bourgeois stirbt in unserem bourgeoisen Land am Ennui und niemand verfasst seinen Nekrolog. Sie jedoch sind einer der letzten und das zeichnet Sie aus. Deshalb rede ich mit Ihnen auch nicht über Fußball, Autos oder Computer – von Dingen übrigens, von denen ich eh nichts verstehe.« Klammer wandte seinen Blick erst jetzt wieder zu Sapher, der ihm nun zwar aufmerksam, aber nicht minder fassungslos zuhörte.  »Der letzte Mohikaner, der letzte Kaiser, der letzte Zivi­list – der letzte Bürger! Ich denke, ich werde Ihnen zu Ehren einen Roman mit diesem Titel schreiben, ein homerisches Epos über die Suche nach einem Mann ohne Eigenschaften in einer verlorenen Zeit. Wissen Sie, Sa­pher, es ist ebenso leicht, sich ein Buch auszudenken, wie es schwer ist, eines zu schreiben. Ich denke schon eine ganze Weile darüber nach – und jetzt weiß ich auch endlich den ersten Satz des Werks, er ist mir gerade eingefallen.« Klammer setzte sich gerade und begann ausgelassen und von der eige­nen Eloquenz begeistert zu deklamieren:

»Hören Sie: „Aus dem bewegungslosen, amorphen Grau des heraufdämmernden, jungfräulichen Morgens, der in dieser schmutzigen, erbarmungslosen Verhöhnung all der Gründe, aus denen Menschen Städte bauten, so schnell al­terte und zahnlos wurde, vorverdaut von der sodomitischen Enge in den dampfigen Verkehrsmitteln, in einen Mantel stinkender Abgase gehüllt, schälte sich täppisch die ge­beugte Silhouette des letzten Beamten …“«

»Ich weiß nie, wann Sie sich über mich lustig machen. Wer ist dieser Bixiou, von dem Sie eben sprachen?«

»So unterbrechen Sie mich doch bitte nicht, denn solch ein Augenblick der Inspiration kommt unter Umständen nie wieder! Wenn ein kraftvoller Gedanke auf seinen traum­haften Schwingen einen Dichter entführt und ihn von den Umständen, die ihn hier einschließen, entfernt, indem er ihn durch die grenzenlosesten Regionen schleudert, wo die ungeheuersten Ansammlungen von Tatsachen zu Abs­traktionen werden, wo die größten Werke der Natur nur Bilder scheinen -, wehe ihm, wenn irgendein Lärm an sei­ne Sinne schlägt und die schweifende Seele in das Gefäng­nis von Fleisch und Bein zurückruft!«, ereiferte sich Klammer theatralisch. Wahrscheinlich zitierte er wieder einmal einen Autor des 1. Jahrhunderts, in dem er sich besonders wohl fühlte. Sein Gedächtnis war wirklich sensationell, denn alles, was er irgendwann gelesen oder aufgeschnappt hatte, konnte er lückenlos und fehler­frei wiedergeben. Er wirkte jedoch für einen Moment tat­sächlich verärgert.

»Sehen Sie, wenn der erste Satz stimmt, ist der Roman schon fast geschrieben, alles Weitere sind Fleiß und Zeit. Das sind zwei Dinge, die ich im Übrigen nicht besitze, denn Faulheit und Bewegungslosigkeit sind der normale Zustand aller Künstler.« Er legte die Hände vor seinem Mund wie zu einem Gebet zusammen. »Der erste Satz muss eine Mausefalle sein, er muss den Leser fassen und darf ihn für zweihundert atemlose Seiten nicht mehr von sich lassen. Was habe ich gesagt? Aus dem bewegungslo­sen, amorphen Grau eines beginnenden Morgens, der in unserer dreckigen Stadt so …, na, so schnell altert … und … und … vorverdaut wird?« Klammer runzelte die Stirn und machte dann eine wegwerfende Handbewegung. »Egal, es ist weg, eine weitere Perle ver­schwendet. Wir haben den Augenblick verloren. Nun wird Ihr Epos immer unvollendet bleiben. Es ist Bruchwerk, niedergeschrieben auf einem von der Zeit zerfressenen Pergamentfetzen. Es ist ein Fragment, das aus dem Fragment des ersten Sat­zes besteht. Das ist nicht viel, aber dieses Fragment, das doch Großes hoffen lässt, schenke ich Ihnen. Die­ses bewe­gungslose, amorphe Grau, ich eigne es Ihnen zu. Es ist ein Satz für Sapher.« Atempause. »Dabei fällt mir ein: Ihr Name, mein lieber Sapher, mein lieber Benjamin Sapher, das wollte ich Sie schon immer fragen, welcher willkürli­chen und humorvollen Gottheit verdanken Sie ihn? Er ist herrlich, ein Füllhorn des Wohlklangs, wie die So­natine von Ravel. Entschuldigen Sie bitte die schlechte Alliteratio­n, Herr Sapher, aber eine Metapher der Sappho kann nicht besser klingen: „… geschüttelt hat Eros mich wie der Sturm, der vom Berge her sich wild auf die Eichen stürzt.“ Wissen Sie übrigens, dass es nur ganz wenige Poe­ten gibt, deren Name allein schon ein wohlklingendes Gedicht ist? Ernst Jandl, Detlev von Liliencron, Durs Grünbein. Schrecklich, nicht wahr? Man will kein Gedicht von Menschen lesen, die so heißen. Aber hören Sie dage­gen: Hölderlin, Novalis, Walt Whitman, Sappho, Ovid und Erich Fried. Genießen Sie die Euphonie, das Versmaß, das Distichon. Benjamin Sa­pher, man muss Ihren Namen laut und mit französischer Akzentuierung aussprechen, um ihn völlig genießen zu können«, begeisterte sich der Dr., der mit jedem Atemzug, den er machte, auf ein neues The­ma zu stoßen schien.

»Meine Familie kommt von Großvaters Seite aus dem El­sass«, warf Sapher geschmeichelt ein.

»Vous appelez un chat un chat! Ihr Name ist strahlende Poesie, aber für ein bürgerliches Trauerspiel wie das un­sere ist er leider denkbar ungeeignet. Bei Schiller würden Sie eher von Kalb oder Wurm heißen – oder wie wäre es mit Schwerdgeburth? Das ist ein beredter, ein wunderba­rer Name, nicht wahr? So hieß, wenn ich mich recht ent­sinne, im vorigen Jahrhundert ein Freund von Johann Gottfried Seume, ein Maler … Haben Sie den „Spazier­gang nach Syracus“ gelesen?«

»Wie würde denn Klammer klingen?«, fragte Sapher leichthin und lächelte selbstsicher. In diesem Augenblick glaubte er, er könne seinem Vorgesetzten zum ersten Mal in diesem Gespräch Paroli bieten. Dessen Stimme wurde jedoch im Folgenden einen Hauch schärfer und kälter. Es war nur ein ephemerer Strich auf der Maßeinheit seiner Modulationsmöglichkei­ten, doch als er fortfuhr, genügte jener Hauch, Saphers Selbstzufrie­denheit über seine Schlagfertigkeit wie einen Krümel hinwegzuwischen und ihr Vorgesetzten-Untergebenen-Verhältnis wieder herzu­stellen:

»Sieh an, Sie zeigen Witz! Ihr Umgang mit mir erbringt erste Früchte. Also erscheint er doch nicht umsonst. Nun ja, vielleicht Klammer, warum auch nicht? Aber es lässt sich viel dagegen sagen. Der Name ist zu bedeutungs­schwanger, mit Inhalt und Symbolik überfrachtet. Niko­laus Klammer, das klingt wie Willi Loman, Wilhelm Meis­ter, Peter Kien, Stil­ler, Herr Keuner oder Darth Vader; da schwingt viel zu viel mit. Man darf einen Leser niemals für dumm halten, ihn nie unterschätzen. Deuten Sie nur an, wenn über­haupt. Sie dürfen mit dem Namen Ihrer Hauptfigur nicht gleich den ganzen Roman verraten. Neh­men Sie etwas opakeres, verschlüsselteres. Oder – noch besser -, Sie schlagen ein Telefonbuch auf, dort finden Sie so viele Namen und Geschichten …«

Sapher, der das merkwürdige Gespräch gerne beenden wollte, sah kurz auf seine Uhr. »Ich unterbreche Sie nur ungern, Herr Dr., aber die Arbeit ruft.«

»Es ist schon zehn?«, fragte Klammer, der nie eine Uhr trug.

»Bereits ein paar Minuten danach.«

Klammer schüttelte den Kopf: »Meine liebe Sappho, Sie werden mir unpünktlich. Aber bleiben Sie doch, heute ist Freitag und ich gebe Ihnen Dispens! Nein, wirklich. Krea­tive Menschen wie wir brauchen die Muße, ihre Gedanken zu entwickeln. Die Freiheit der Fantasie hat Marasmus zur Folge. Außerdem ist es hier unter dem Ventilator an­genehm kühl. Ist es paradox, wenn es mich bei dem Ge­danken an unsere überhitzten Zimmerfluchten fröstelt?« Klammer lachte, nahm Sapher an der Schulter und drückte ihn zurück in den Stuhl, aus dem er sich, über den Tisch gebeugt, bereits halb erhoben hatte. Ergeben gehorchte er dem sanften Druck seines Vorgesetzten. »Ihr Publikumsverkehr muss eben einen Moment warten. Viele werden es jetzt in der Urlaubszeit und bei diesem Wetter eh nicht sein. Ich will Ihnen etwas verraten. Es ist ein offenes Geheimnis und mich wundert, dass Sie es noch nicht kennen: Die Leute, mit denen wir es hier im Amt zu tun haben und die sich jeden Tag in unseren Gängen drängen, die wollen warten. Die kommen nur deswegen hierher. Helfen können wir ihnen nicht, das wissen wir beide nur zu gut. Die Leute ahnen das ebenfalls. Aber indem wir sie warten lassen, schenken wir ihnen eine kurze Hoffnung, einen versteckten Zugang zu Pandoras Büchse. Die halbe Stunde, vielleicht sogar Stunde, die sie ungedul­dig vor unseren Türen verharren müssen, in stummer Ei­fersucht in die Gesichter derer starrend, die näher bei der Tür sitzen oder einen Zettel mit einer niedrigeren Nummer in den Fingern haben, diese Stunde ist weit wichtiger als das kurze, ergebnislose Gespräch mit uns, unser resignie­rendes Kopfschütteln, unsere Vertröstungen, Formulare und neuen Termine, sogar unser Geld. Warum haben die­se Leute so selten etwas zum Lesen dabei oder sonst eine Beschäftigung? Warum stricken sie nicht einen Pullover? Haben Sie sich das schon einmal gefragt? Die Antwort ist: Weil sie sich das Warten nicht durch ei­nen Zeitvertreib verkürzen wollen- Denn in jenen endlosen Momenten des Geduldens hegen sie die geheime, ihnen selbst nicht ganz bewusste Hoffnung, es würde diesmal anders werden. Heute, bilden sie sich ein, sind sie nicht schon wieder um­sonst gekommen, sondern sie werden vielleicht wirklich etwas erreichen können. Das ist wie beim Lotto spielen. Solange die Ziehung der Zahlen noch nicht war, bin ich Millionär. Und gleichzeitig spüren die Leute: Es gibt noch etwas anderes, als wie Estragon  auf den Fluren von Behörden vergeblich auf das Erscheinen von Go­dot zu harren. Es wird ein Gefühl geweckt, eine Begierde nach der Familie und nach Betätigung. Wir schenken den Menschen etwas Nachdenken, ein Stück Leben, das sie in der modernen Welt verloren haben. Vielleicht ist das un­sere eigentliche Aufgabe als Beamte.«

»Sie sind wieder zynisch, Herr Dr.«

Klammer kniff wie verärgert die Augen zusammen und überraschte Sapher mit einem plötzlich ernsten, abschät­zenden Blick. Dann lächelte er und sein Gegenüber folgte seinem Beispiel unsicher. »Ich sagte schon, man muss sich Ironie leisten können. Ich hätte auch sagen können, dass ich bei meinem mickrigen Gehalt niemals ironisch, zy­nisch oder gar sarkastisch bin. Im Ernst, lassen Sie des­halb die Leute ruhigen Gewissens warten, wir unterhal­ten uns heute so gut.«

Sie unterhalten sich heute so gut, Herr Dr. Klammer, dachte Sapher. Zum ersten Mal während seines Gesprächs mit seinem Vorge­setzten sprach er einen Gedanken nicht aus. »Wer ist Bixiou?«, fragte er stattdessen erneut, ohne eine Antwort zu erwarten. Er bekam sie auch nicht.

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