Konkurrenz, dachte Sapher nebenzu, was will er denn damit schon wieder sagen?
Er hatte nicht allzu viel von den beiden Autoren gehört, geschweige denn sie je gelesen. Seinen letzten Roman hatte er während der Schulzeit in den Händen gehalten. Da er jedoch diese Frage erwartet hatte und sich vor den anderen wegen seiner Unwissenheit keine Blöße geben wollte, hatte er eine Antwort vorbereitet, die zumindest nicht völlig unwissend klang. Er kratzte sich am Hals.
»Im Großen und Ganzen will ich Frau Rothschädl recht geben, obwohl ich persönlich beider Bücher als etwas zäh einstufen will«, sagte er vorsichtig und hoffte, er könne es bei dieser Synthese der Meinungen belassen, ohne durch ein Nachfragen in Verlegenheit gebracht zu werden. Hätte Sapher gewusst, wie er es anstellen sollte, hätte er an dieser Stelle versucht, das Thema zu wechseln. Doch diese Sorge nahm ihm Klammer auf überraschende Weise ab. Obwohl er Saphers Ahnungslosigkeit durchschauen musste, nickte er erst:
»Solch ein apodiktisches Schlusswort habe ich von Ihnen erwartet. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Wobei ich Sie – bewahre! – selbstverständlich nicht mit diesem possierlichen Aasvogel in Vergleichung bringen will. Es gibt eine Art von Bewunderung, die mit kritischem Essig getränkt ist, und mit der ein hervorragender Mann sich gewissermaßen entschuldigt, einen anderen zu bewundern.« Er lachte kurz.
»Aber nun doch etwas anderes, mein lieber Sapher. Um auf Ihr Gesprächsthema von vorhin zurückzukommen, was sagen Sie denn zu dem Namen unserer hübschen Kollegin hier? Rothschädl – welch ein markanter, substantieller Klang! Der Name ist doch genau richtig für Ihren Roman. Ein ganz klein wenig mag er auch symbolisch für einen Staatsbediensteten sein, aber eben nur eine Idee, diese Nuance, die den Leser lächelnd zum Komplizen des Autors macht. Rothschädl, wissen Sie zufällig, wie dieser ur-‘teutsche’ Name entstanden ist? Er scheint doch mindestens bis in die Zeit der Bauernkriege zurückzudeuten?«, wand er sich an die Frau. Die Beamtin, die sich bemühte, eilig ihre Tasse Kaffee zu leeren, um der Angelegenheit ein Ende zu bereiten, verschluckte sich fast an dem heißen Gebräu. Das war die erste Unstimmigkeit in ihrem bisher vollendet eleganten Auftreten.
»Da kann ich Ihnen nicht helfen, ich habe mich nie für Ahnenforschung interessiert«, sagte sie hustend und fast stimmlos, »ich selbst bin nicht allzu begeistert von diesem Namen.«
»Dann sollten Sie bald heiraten und auf einen dieser entsetzlichen Doppelnamen verzichten. Aber, ernsthaft, Sie tun sich und dem treuteutschen Geschlecht derer Rothschädl unrecht. Der Name ist von fast unerreichbarer Prägnanz. Niemand, der ihn einmal gehört hat, vergisst ihn wieder. Und dazu ist er vielleicht die Muse, die Herrn Sapher zu einer großen Erzählung anregt. Sie müssen wissen, dass mein Kollega hier in der spärlichen Freizeit, die ihm sein Dienst für den Staat gewährt, ein eminenter, aber leider nicht allzu erfolgreicher Dichter ist. Das ist seine eigentliche Berufung und er arbeitet seit Jahren an einem großen Roman, der sein Durchbruch werden soll. Er wird Der Letzte Bürger heißen und ein Schlüsselroman über die bourgeoise, verlogene und korrupte Gesellschaft unserer Stadt sein. Herr Sapher hat mir Exzerpte einiger Kapitel vorgelesen und ich muss sagen, sie sind brillant. So etwas wird heute eigentlich gar nicht mehr geschrieben. Es ist, als hätten sich die drei Großen, die die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts begründet haben, also Musil, Proust und Joyce, in seiner Seele in eine Art von Personalunion begeben, um den Roman zu schreiben, der das grausige 20. Jahrhundert endlich abschließt und das neue – ebenso grausige – beginnt. Sie wissen ja, ich verstehe etwas davon. Ich habe schon den einen oder anderen Autor entdeckt – nehmen Sie nur Georg Hauser. Viele Pfahlbürger werden sich vor dem Erscheinen des Buchs von Sapher fürchten, das ich, um einen etwas platten Ausdruck zu gebrauchen, mit einem Erdbeben vergleichen will«, behauptete Klammer in aller Seelenruhe.
Die Rothschädl sah zu Sapher, zu dem ihr Name wegen seiner Scham nun besser gepasst hätte und zum ersten Mal war so etwas wie Beteiligung in ihrem Blick. Und dieses Interesse war auch der Grund, aus dem Sapher, der noch nie eine erzählerische Zeile zu Papier gebracht hatte und sogar die Weihnachtspost seiner Frau überließ, über die überraschende und viel zu dick aufgetragene Lüge Klammers schwieg. Er starrte konsterniert zu dem überlegen lächelnden, älteren Mann. Was ging in dem seltsamen Geist vor, wenn er diese an den Haaren herbeigezogene Lüge über ihn verbreitete? Es war möglich, dass sie aus der Laune eines Augenblicks entstanden war, aus der Neugier, wie die anderen reagieren würden. Klammer glich manchmal einem Forscher, der mittels eines Katalysators Chemikalien untersucht. Sapher hatte schon mehrmals erlebt, wie der Doktor einen Gesprächspartner mittels eines ausgesucht provokanten Standpunktes aus dem Gleichgewicht brachte und ihn dazu reizte, mehr von seinen Meinungen zu offenbaren, als er es selbst wünschte. In diesem Fall wollte Sapher den plötzlichen Entschluß aber in Zweifel ziehen. So, wie er Klammer kennengelernt hatte, hatte dieser zwar eine leichte, oft leichtsinnige Art, sich zu unterhalten, wie ein Schmetterling von Thema zu Thema flatternd. Doch war es oft nur eine Tünche, hinter der sich die vielfach verquere, aber nicht minder folgerichtige Logik seiner Gedanken verbarg. Tatsächlich wusste er immer ganz genau, wohin er wollte. Alles, was er sagte, war zielgerichtet, auch wenn Sapher das meist erst nach Stunden oder Tagen, manchmal gar Wochen später zu Bewusstsein kam und dann erst zu erkennen glaubte, was sein Vorgesetzter wirklich bezweckt hatte. Wenn Sapher sein heutiges Gespräch mit ihm betrachtete, das Klammer am Morgen mit einem Aphorismus von Montaigne eröffnet, wie er dann abfällig die Tagespolitik und die Kommentare der FAZ gestriffen hatte, um über Lessings Lob der Faulheit und dem Preis der Ironie bei der Literatur zu landen, dann hatte all dies eine erstaunliche Folgerichtigkeit, die darin gipfelte, ihm den Schriftsteller unterzuschieben. Was aber Klammer weiter im Sinn hatte, das blieb ein Rätsel. So war es immer: Vom Nachher betrachtet waren ihm Klammers Intensionen klar, doch niemals war er seinem Vorgesetzten einen Schritt voraus. Im Moment fühlte sich Sapher wie ein Teenager, der sich wichtig zu machen wünscht.
So lächerlich das Ganze aber war, die Rothschädl hatte die Lüge nicht sofort durchschaut, sondern sah ihn mit einem freundlichen Augenaufschlag an und fragte:
»Sie schreiben?« Und, was Sapher noch fassungsloser machte, er war geschmeichelt und lächelte unsicher.
Eine peinliche Pause entstand, während Sapher vergebens einen Haltepunkt suchte. Erneut wanderte sein Blick zu Klammer, diesmal hilfesuchend. Der sah ihn herausfordernd an, zwinkerte andeutungsweise mit einem Auge. Nun, mach was draus, schien er sagen zu wollen, nutze diese Chance oder überführe mich der Lüge. Sapher räusperte sich, dann stotterte er ein paar Laute, deren Sinn er selbst nicht einzugrenzen wußte. Klammer lachte.
»Sehen Sie ihn sich an, Frau Rothschädl; er schämt sich. Ich denke, das macht Ihr Interesse an seinem Werk. Er hat als trotz seines Alters noch als jung geltender Autor Angst vor Publikum und Kritik. Vielleicht ist dies der Grund, aus dem er erfolglos ist und nicht wie Kirchhoff oder Kappnath in renommierten Verlagen veröffentlicht. Denn – und das können Sie mir glauben – so begabt wie diese beiden ist er und fleißig zudem, eine wirklich seltene Personalunion bei einem Schriftsteller.« Klammer nahm einen Schluck Kaffee, verzog ein wenig den Mund und wand sich an Sapher:
»Sie müssen begreifen, dass Lärmen zum Handwerk gehört! Hauen Sie die Pauke, blasen Sie in die Trompete! Wenn Sie so altmodisch sind und denken, Schreiben sei alles, was ein Autor können muss, dann irren Sie fatal. Nein, das Schreiben ist doch für einen modernen Schriftsteller der vielleicht unwichtigste Teil seiner Arbeit. Sein PC und sein Textverarbeitungsprogramm nehmen ihm diese Routine praktisch ab, man hört das immer wieder. Marketing ist die neue Hauptaufgabe, um die Ware Buch an den Leser zu bringen. Kein Romancier schickt heute ein vollständig ausgearbeitetes Manuskript an einen Verlag; ein Kapitel, ein Abriss der Handlung, sie genügen völlig. Wenn, wie meist, das Ergebnis der Inspiration uninteressant und unverkäuflich ist, nun, Herr Autor, schreiben Sie eben ein Kapitel eines neuen Romanes. Schieben Sie Ihre alte Dateileiche, dieses nutzlose Fragment, in den Papierkorb oder, besser, warten Sie, bis Sie diesen Text in den Roman einarbeiten können, den zu schreiben Ihnen der Verlag, der sich herabgelassen hat, Sie zu veröffentlichen, erlaubt. Meiden Sie Kurzgeschichten oder Erzählungen, so etwas findet keine Öffentlichkeit. Und dann, während Ihr Computer Ihren Text für Sie schreibt, rühren Sie kräftig die Werbetrommel! Reden Sie mit allen und jedem, seien Sie immer freundlich und höflich und großzügig, wenn es um das Bezahlen geht. Sie haben zwar kein Geld zu verschenken – wer hat das schon – aber all die Kritiker wollen schließlich von ihren literarischen Anstrengungen leben. Deshalb wird sich auch immer wieder ein Hungerleider finden, der Sie lobt. Prostituieren Sie sich mit tausend Menschen, die nichts von Literatur verstehen und die alle wie Götz vom Hauptmann behandelt sein wollen, weil ihnen das so gefällt. Nach der ersten Überwindung des Ekels gewöhnen Sie sich schnell daran und es soll Sterne am nächtlichen Himmel der Literatur geben, die sogar Freude an dieser Liebedienerei gefunden haben und ihre Bücher mit expliziten Beschreibungen davon füllen. Heine sagt: ‘Diese Sterne erscheinen uns aber vielleicht deshalb so schön und rein, weil wir weit von ihnen entfernt stehen und ihr Privatleben nicht kennen. Es gibt dort ebenfalls mache Sterne, welche lügen und betteln; Sterne, welche heucheln; Sterne, welche gezwungen sind, alle möglichen Schlechtigkeiten zu begehen; Sterne, welche einander küssen und verraten; Sterne, welche ihren Feinden und, was noch schmerzlicher ist, sogar ihren Freunden schmeicheln, ebensogut wie wir hier unten. Jene Kometen, die man dort oben manchmal wie Mänaden des Himmels, mit aufgelöstem Strahlenhaar, umherschweifen sieht, das sind vielleicht liederliche Sterne, die am Ende sich reuig und devot in einen obskuren Winkel des Firmaments verkriechen und die Sonne hassen.’ Der Künstler ist heute die Hure des Bourgeois, so wie er früher die des Adligen und des Pfaffen war. Natürlich, einem Schöngeist wie Ihnen wird diese Binsenweisheit nicht behagen, denn Sie glauben, das könne nicht alles sein, Literatur habe nichts mit Brötchen backen zu tun. Nicht wahr, Monsieur Sapher, Ihnen wird übel, wenn Sie an solche, wie Sie glauben, nebensächliche Dinge denken, denn Sie wollen ja Kunst machen und übersehen dabei, dass auch Ihre Texte nicht mehr als Dienstleistungen sind. Sie wollen zwei Bedürfnisse befriedigen, die einander nur allzu oft ausschließen: Da ist Ihres, Romane zu schreiben und das des Lesers, Romane zu konsumieren. Alles prima, aber ob ihm ausgerechnet Ihre Speise schmeckt, ist zweifelhaft, da Sie sie schwer verdaulich gemacht haben. Zudem ist der moderne Leser – in der Mehrzahl sind es Frauen – überfressen und vom Angebot der Konkurrenz so verwirrt, dass er sich im Zweifelsfalle lieber vor den Fernseher setzt. Sie schreiben – Achselzucken; so viele schreiben. Sie machen Literatur. Wer liest das? Versuchen Sie doch nur einmal, eine kleine lokale Anerkennung für ihre Texte zu erlangen, ein paar Leser zu finden, ein wenig Presse. Veröffentlichen Sie doch auf Ihre Kosten im Eigenverlag Ihre Prosa, organisieren Sie eine Lesung. Sie werden sehen, das Einzige, was sie bekommen werden, ist ein gallebitterer Geschmack im Mund. Sie werden feststellen, alle ihre Bemühungen werden an den Leuten abgleiten wie ein Regentropfen an einem impregnierten Lodenmantel. Das ist der Weg, wie aus jemandem, der mit ehrlichem und aufrichtigem Sinn die Kultur der Stadt bereichern will, schnell ein menschenverachtender Zyniker wird. Also gut, sagen Sie sich, wenn ich keine Leser finde, vergesse ich sie also, ich werfe doch keine Perlen vor die Säue. Darum schreiben Sie für sich, als einen Akt der Selbstbefriedigung. Warum ist es dann trotz aller schlechter Erfahrungen weiterhin ihr Traum, zu veröffentlichen? Und wovon wollen Sie leben? Also arbeiten Sie wie Kafka in einem Versicherungsbüro und sind Ihr Lebtag unzufrieden, wenn Sie ein Buch von Kappnath oder Kirchhoff in die Hand nehmen, denn warum – zum Teufel – gelingt Ihnen nicht, was jene schafften? Und dann geht das ganze verfluchte Bitten und Betteln wieder von vorne los.«
Klammer hatte süffisant und freundlich herablassend begonnen, sich dann allerdings während seines Monologs in eine wenig verständliche Rage geredet, die ihn die letzten Sätze fast schreien ließ. Sapher und die Frau sahen sich während dieser Rede mehrmals betreten an. Als Klammer schwieg, schwer atmend mit den Händen gegen die Tischplatte gestützt, stand eine greifbare Wut zwischen den dreien. Sapher fragte sich, woher sie so plötzlich gekommen war, warum sein sonst so moderater Vorgesetzter sich wegen dieses von ihm selbst gewählten, gleichgültigen Themas hatte hinreißen lassen. Was hatte ihn so gereizt, dass er nun eilig aufsprang, sein Stuhl kippte und das Metall der Lehne auf die Kacheln des Kantinenbodens schepperte?
Klammer sah zurück, ohne Anstalten zu machen, den umgestürzten Sitz wieder aufzurichten. Als er zu Sapher sah, lächelte er.
»Nun, jetzt muss ich aber wirklich an meine Arbeit. Ich denke, wir werden beide heute Abend etwas länger bleiben müssen, um die verlorene Zeit hereinzuholen. Frau Rothschädl.« Er machte die Andeutung einer Verbeugung und ließ seine überraschten Gesprächspartner allein sitzen. Die Rothschädl sah ihm kopfschüttelnd hinterher. Sie wartete, bis Klammer die Kantine verlassen hatte, dann sagte sie:
»Wie können Sie es mit diesem Menschen aushalten? Ich komme mit ihm einfach nicht zurecht. Ich muß mich jedesmal überwinden, wenn ich gezwungen bin, mit ihm zu reden. Er sagt so seltsame Dinge. Manchmal macht er mir eine Gänsehaut.« Sapher, der seinem Vorgesetzten gerade hatte folgen wollen, entschied sich, doch noch zu bleiben.
»Nehmen Sie seinen Ausbruch nicht ernst. Wenn Klammer wirklich zornig ist, wird er nicht laut, sondern leise«, wiegelte Sapher ab, obwohl er die Wut seines Vorgesetzten noch immer zu spüren glaubte. Sein Blick rutschte unwillkürlich zu dem durch die dünne, weiße Bluse schimmernden Ansatz der kleinen Brust der Frau. Im Ausschnitt schimmerten ein paar Schweißperlen; sie trug keinen Büstenhalter. Als er sich bei seinem starren Blick ertappte, zuckte der Beamte wie nach der Berührung eines Kuhdrahts zusammen und sah eilig zur Seite. Er hätte sich am liebsten selbst eine Ohrfeige gegeben und erneut färbte sich sein Gesicht dunkel. Falls das Objekt seiner Begierden seine Verlegenheit bemerkte, ließ es sich nichts anmerken – zudem war die Rothschädl mit Sicherheit an anzügliche Blicke gewöhnt. Sie sah Sapher aufmerksam an, auf seine Fortführung der Unterhaltung wartend. Wie unter dem Zwang Klammers stehend sagte er:
»In zehn Minuten hat er sicher schon vergessen, daß er überhaupt wütend war. Ich habe schon einmal erlebt, wie er sich über einen Fleck auf seiner Krawatte so ereiferte, dass er sie endlich abgeschnitten hat – und das war nicht an Weiberfasnacht.« Er holte Luft. Jetzt, dachte er, jetzt kommt’s.
»Klammer ist mir in meiner Literatur eine stete Quelle der Inspiration«, fuhr er fort und wunderte sich, wie glatt ihm der letzte Satz über die Lippen gekommen war. Sie lachte. Es war ein schönes, warmes Lachen, ungekünstelt und natürlich. Sapher hätte sie jetzt gerne nach ihrem Vornamen gefragt.
»Wie war das mit diesem Griechen, wissen Sie sein Geburtsdatum und den Ort?«, wollte er stattdessen wissen. Eine kurze Pause entstand, während der sie ihn abschätzend beobachtete. Sapher hätte in diesem Moment mehr als nur einen Pfennig für ihre Gedanken geboten.
»Herr Katasakinthokiakis, selbstverständlich«, sagte sie, ließ den Kaffee in der Tasse kreisen und trank anschließend den Rest. Aus einem für ihren Gesprächspartner nicht ganz einsehbaren Grund hatte sie dabei Mühe, ernst zu bleiben.
–
Als Sapher ein wenig später in sein Zimmer kam, pfiff er leise vor sich hin. Er hatte die Rothschädl falsch eingeschätzt und diese Erkenntnis machte ihn heiter. Sie war trotz ihrer Attraktivität alles andere als unnahbar und diese Einsicht, die nicht in sein Bild von der Welt passte, war ihm fast ein Kulturschock, allerdings ein erfreulicher. Er genoss den Gedanken, später nach der Akte jenes Griechen zu suchen, dessen komplizierten Namen er längst wieder vergessen hatte. Er war entschlossen, das verschollene Schriftstück – wenn er es denn fand – nicht mit der internen Post zu schicken, sondern persönlich bei der schönen Beamtin vorbeizubringen und sich bei dieser Gelegenheit noch einmal mit ihr über Klammer, der ja ein herrliches Gesprächsthema war, zu unterhalten. Er ließ sich hinter seinem Schreibtisch in den Drehstuhl fallen und bewegte ihn abgelenkt mit dem Fuß ein wenig hin und her. Dann atmete er einmal tief durch. Zuerst war der Publikumsverkehr zu erledigen. Wie er beim Hereingehen erfreut festgestellt hatte, wartete nur eine Handvoll Leute auf eine Unterredung mit ihm. Wenn es keine Verzögerungen gab, konnte er alle bis zum Mittag abfertigen und seine um zwanzig Minuten überzogene Kaffeepause fiel nicht weiter ins Gewicht. Da das Amt heute am Freitag wie an drei weiteren Nachmittagen in der Woche für den Bürger geschlossen war, hatte er dann noch immer genug Zeit, der Akte des Griechen nachzuforschen. Er klatschte einmal reibend in die Hände und drückte auf einen der beiden Knöpfe vor sich auf dem Tisch. Er bewirkte, dass ein rotes ‘Bitte warten!’-Signal draußen über seiner Bürotür verlöschte und dafür ein grünes ‘Eintreten’ erschien. Sofort wurde geklopft. Eine ältere Frau kam zögernd in den Raum. Gleichzeitig öffnete sich die Verbindungstür zu Klammers Büro und Saphers Vorgesetzter sah herein. Er wandte sich an die Besucherin:
»Würden Sie bitte so freundlich sein und noch einen kurzen Moment draußen warten? Wir sind gleich soweit. Danke.«
Die überrumpelte Frau murmelte eine verschreckte Entschuldigung und ging rückwärts wie ein Lakai hinaus. Sapher erwartete fast, sie würde sich bei ihrem Abgang verbeugen. Klammer lächelte ihr freundlich nickend zu, bis sie die Tür geschlossen hatte. Dann kam er an Saphers Tisch, setzte sich, ein paar Akten zur Seite schiebend, halb auf ihn und drückte mit dem Mittelfinger auf den zweiten Knopf, damit das Signal draußen wieder auf ‘Bitte warten!’ sprang.
»Ich liebe dieses Spielzeug«, bemerkte er aufgeräumt. Tatsächlich war sein Zorn verschwunden. »Ich fühle mich dann immer als eine Art von Deus ex machina. Als ich aufstieg und eine Sekretärin bekam, die meine Termine vergibt, war, was ich neben der Aussicht am meisten an meinem alten Posten vermisste, dieser kleine Kasten mit seinen Schaltern. Vielleicht sollte ich mir einen aufstellen lassen, nur so, ein Placebo als Dekoration und Beschäftigung für die Finger.« Er sah zum Fenster, das einen Blick auf einen Park freigab.
»Heute wird es wieder sehr heiß. Wenn nur die Klimaanlage besser funktionieren würde.« Smalltalk? Das entsprach doch überhaupt nicht Klammers Art.
»Was kann ich denn für Sie tun, Herr Doktor?«, fragte Sapher förmlich. Er fühlte sich belästigt und hätte seinen Vorgesetzten jetzt gerne gefragt, ob er es selbst war, der erfolglos Romane schrieb, aber dazu fehlte ihm der Mut. Klammer beulte mit der Zunge seine Backe aus, schien nach Worten zu suchen. Dann beugte er sich vertraulich nach vorn:
»Sie sehen mit sich selbst zufrieden aus, Herr Sapher. Hat also mein kleiner Auftritt gerade eben den gewünschten Erfolg gebracht? Haben Sie gemeinsam den Kopf schütteln können über Ihren leicht verrückten Doktor Klammer? Das ist Ihre erste Gemeinsamkeit. Nun«, er warf einen Blick auf die Uhrzeit, die in der unteren Ecke von Saphers Computerterminal zu sehen war, »sehr intensiv haben Sie die Gelegenheit zum Flirt aber nicht genutzt. Ich bin zwar nicht enttäuscht, weil ich mir nicht mehr Courage von Ihnen erwartet habe, aber ich finde es doch ein wenig – wie soll ich es sagen – bedauerlich?« Klammer nahm nebenzu das Bild von Saphers Frau Gitta vom Schreibtisch und sah kurz darauf. In Sapher stieg eine plötzliche hitzige Scham auf und er fühlte sich wie bei einem Seitensprung ertappt.
»Ihre Wut war nur gespielt?«, fragte er entsetzt. »Warum, in aller Welt haben Sie so ein Theater aufgeführt?«
Sein Vorgesetzter stellte den Rahmen wieder zurück, rückte ihn aufmerksam gerade und schlug sich auf die Schenkel, wieder einmal eine Frage Saphers ignorierend.
»Schönheit! Denn der Schöne, soweit man zu sehen vermag, ist schön. Doch der Gute wird gleichfalls sofort auch ein Schöner sein. Das ist erneut eine Verszeile der Sappho; auf Platons Eros vorausweisend, aber sehr idealisierend. Heute ist wohl eher das Gegenteil wahr. Frau Rothschädl ist eine ungewöhnlich schöne, dabei intelligent wirkende Frau, nicht wahr? Ist Ihnen aufgefallen, dass sie keine Ohrringe trägt, nicht einmal Löcher für welche hat? Sie ist die einzige Frau, die ich kenne, die auf diesen Schmuck verzichtet. Ich frage mich, ob eine Allergie oder eine Abneigung der Grund ist. Unsere Aphrodite Rothschädl verliert zwar etwas durch ihre zeitgenössische Frisur, aber sie kommt dem hellenischen Ideal des Wahren, Schönen und des Guten so nah, dass es einen humanistisch gebildeten Mann schaudern macht. Ihr Profil ist göttlich; sie besitzt diese seltene, samtene Haut aus Carraramarmor, dazu eine kecke eurasische Hebung der Wangenknochen, eine gerade Nase, warmes Gold in den Augen und darüber den perfekten Thalesrund der Brauen! Vor sechzig Jahren haben sich viele Frauen die Brauen rasiert, um sie mit dem Schwung, den ihr die Natur mit spielerischer Hand verliehen hat, nachzuzeichnen. Und dann der Körper dieser sylphidenhaften Märchengestalt, er ist ein Palladium des Eros, so knabenhaft und jugendlich schlank, dass er auch das Herz eines Homophilen erfreuen könnte. Dabei ist sie gleichzeitig in Hüfte und Gang eine vollkommene, eine reife Frau. Diese feste, kleine Brust, die eine Hand umfassen kann, geformt wie ein Champagnerkelch, man würde es kaum wagen, diese Knospe im Liebesspiel zu berühren, sie mit den Lippen zum Erblühen zu bringen. Wussten Sie, das sie manchmal einem Maler als Modell dient? Bei einer solchen Frau kann man den Glauben an Gottes Schöpferkraft wiedergewinnen!«, schwärmte Klammer, sich wieder einmal selbstverliebt in seine eigene Wortgewandheit steigernd. Sapher lauschte dieser euphorischen Eloge ungeduldig und peinlich berührt. In diesem Moment schien ihm sein Vorgesetzter wie ein Faun, ein perverser, alter Mann mit schmutzigen Gedanken.
»Diesmal kommen Sie mir nicht wieder davon!«, sagte Sapher und spürte, wie er noch wütender wurde. Er hatte einen bitteren Geschmack im Mund. »Ich will jetzt wirklich wissen, warum Sie vorhin dieses Schmierentheater für uns aufgeführt haben. Was haben Sie sich dabei gedacht? Ich frage mich, was…«
»Haben Sie der Rothschädl erzählt, ich hätte gelogen und Sie sind überhaupt kein Dichter?«, warf Klammer ruhig ein und Sapher verstummte verwirrt. »Das habe ich mir gedacht. Sie haben also das ‘Schmierentheater’ fortgesetzt. Ich habe Ihnen nur die Chance gegeben, eine faszinierende Frau kennenzulernen, was Ihnen ohne meine Hilfe niemals gelungen wäre. Reicht Ihnen das nicht?«
»Nein. Einmal will ich will den Grund von Ihnen wissen. Zudem bin ich glücklich verheiratet. Ich lege keinen Wert auf die Bekanntschaft von faszinierenden Frauen!«, beharrte Sapher, obwohl er wusste, wie sehr er log. Klammer spitzte die Lippen.
»Das ist kein Gesprächsthema für die Arbeitszeit. Was machen Sie heute Abend?«
»Ich weiß nicht …«, erwiderte Sapher überrascht.
»Aber ich. Wir gehen zusammen essen. Ich hole Sie um halb Acht in Ihrer Wohnung ab. Ich kenne ein nettes Lokal in der Innenstadt, dort isst man ausgezeichnet und wir können über alles in Ruhe reden und Ihren unnötigen Zorn aus der Welt schaffen. Freilich haben Sie recht, wir sollten für klare Verhältnisse sorgen, denn ein Streit würde nur das Klima vergiften. Schließlich müssen wir tagtäglich miteinander auskommen. Aber jetzt sollten wir wieder an die Arbeit gehen, sonst wird es wirklich zu spät. Wir wollen ja nicht, dass sich jemand beklagt. Auch das hoffnungsvollste Warten kann einmal zu lang werden. Alles ist nur eine Zeitlang schön, pflegte mein Vater immer zu sagen; wie recht er doch hatte! Diesen Satz hatte er nämlich auch auf den Lippen, als er starb. Habe ich Ihnen schon erzählt, dass ihn der Stich einer Biene tötete? – eine Insektenallergie, sie verstehen schon. So ein kleiner, unscheinbarer Stachel kann einen gesunden, starken Menschen töten. Welch ein poetisches Ende für ein prosaisches Leben wie das seine! Die Biene hat es übrigens auch nicht überlebt.« Der überrumpelte Sapher wusste nicht, ob er lachen sollte, aber Klammer erwartete von ihm offenbar keine Reaktion. Der Doktor drückte mit einem halben Lächeln auf den Einlassknopf, dann sprang mit einer agilen Wendigkeit, die in seinem Alter überraschte und auf häufige sportliche Betätigung hinwies, vom Schreibtisch.
»Also, bis halb Acht. Sie wohnen doch noch immer draußen in der Provinz, hinter Diebolz, in … wie hieß das Nest gleich … Waldkirch?« Sapher nickte ergeben und Klammer verließ pfeifend den Raum. Geschäftig kam die ältere Frau wieder herein und Sapher drehte sich in seinem Stuhl zu ihr.