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Der Weg, der in den Tag führt – Fantasyroman (Kapitel 7 – Teil 1)

Der Weg, der in den Tag führt
Eine Geschichte aus der Welt von »Brautschau«

Zwl

7. Kapitel
Sahars Geschichte

Juel schob seine mit Federn geschmückte Maske gerade, lehnte sich, soweit es sein Schmerbauch zuließ, über die Brüstung der Galerie und schnupperte gierig in die Luft.

»Nach unserem kleinen Raubzug müssen wir unbedingt noch in der Küche vorbeischauen«, bemerkte er zu Selin, der neben ihm stand und mit offenem Mund auf die brodelnde Menschenmenge unter sich herab sah, die auf ihn den Eindruck machte, er würde auf einen wimmelnden und aufgeregten Ameisenhaufen blicken. Gerade eben waren die Ehrengäste eingetroffen und alle gemeinsam hatten sich auf den Weg in den angrenzenden Saal gemacht, wo die Speisen gereicht werden sollten und danach sein Großvater seinen großen Auftritt vor dem erlauchten Publikum haben würde. Er wollte Juel seinen Zweifel mitteilen, dass sie später noch die Gelegenheit finden würden, etwas von den übrig gebliebenen Speisen zu naschen, machte sich aber noch rechtzeitig klar, dass der Dicke seine Bemerkung nicht ernst meinen konnte. Es fiel Selin schwer, sich auf diesen Mann einzustellen, bei dem er nie wissen konnte, ob er scherzte oder ernsthaft mit ihm sprach. Er schloss den bereits geöffneten Mund wieder und entdeckte Alis und Muhar, die bereits von ihrer Audienz beim Vezir zurückkehrten.

»Das ging aber schnell«, begrüßte Juel die beiden, nachdem sie sich einen Weg zwischen den Gaffern auf der Galerie zu ihnen gebahnt hatten. Verschwörerisch zogen sie sich in einen Winkel zurück, in dem sie nicht belauscht werden konnten. Alis nickte nachdenklich.

»Ómer war in Eile, weil der Regno seinen Zeitplan durcheinander gebracht hat. Vor mir tritt noch ein Märchenerzähler auf und zwar ausgerechnet dieser Fremdländer, der mir gerade überall auf den Bazaaren Konkurrenz macht. Das sei der Wunsch von Raul IV. gewesen, dem er selbstverständlich entsprechen muss. Wahrscheinlich will der Lamarger beweisen, dass seine eigene Kultur zumindest ebenso bedeutend ist wie unsere.«

Alis sah zum Tisch der gekrönten Häupter hinunter, die sich gerade hingebungsvoll mit den Vorspeisen beschäftigten. Er deutete auf Sahar, der weit am Rand der Tafel neben Galves saß, mit dem er in ein angeregtes Gespräch vertieft war.

»Das sitzt der Kerl. Ich glaube, er ist ein gefährlicher Mann, auch wenn er wie ein Geck gekleidet ist.«

Juel sah ebenfalls hinunter. Er runzelte die Stirn und kratzte sich am kahlen Schädel.

»Von irgendwo ‘er kenne isch ihn«, murmelte er. »Isch weiß aber nicht, wo isch ihm schon mal begegnet bin und wann das war. Isch ‘abe nur das Gefühl, dass es schon eine ganze Weile ‘er ist. Ah, ma mémoire … wenn der Kerl nur nicht diese Maske tragen würde. Isch müsste näher an ihn ‘eran, aber isch weiß nicht, wie.«

Muhar nickte schon die ganze Zeit zustimmend und schrieb:

»Der Auftritt des Nordmannes passt dem Vezir nicht, aber er hat keine Wahl. Auch wenn sich dadurch sein Putsch gegen den „Unterwerfer“ verzögert, den er – vermute ich – direkt nach den Märchen eingeplant hat. Der letzte Satz von Alis soll dann offenbar das Signal zum Aufstand sein«, lasen Juel und Selin gemeinsam seinen Zettel. »Ihr wisst schon: „Dies ist eine andere Geschichte …“«

»Deshalb will Ómer wahrscheinlich, dass ich mich kurzfasse«, ergänzte Alis nachdenklich. »Ich überlege noch, ob ich ihm diesen Gefallen tun soll. Auf jeden Fall muss ich jetzt wieder hinunter in den Saal und mich vorbereiten. Etwas Essen würde auch nicht schaden.« Er drehte sich zu seinem Enkel und ergriff seine Hand.

»Wenn der Tumult im Speisesaal losgeht und Alis Soldaten die Treuwächter überwältigen, dann hängt alles an dir und dem Ludo sorriento, den uns die Gilde so großzügig zur Seite gestellt hat«, sagte er und wandte sich zum Gehen. Der Stumme eilte an seine Seite.

Juel deutete eine Verbeugung an.

»Ich werde dich nicht enttäuschen, Großvater«, flüsterte Selin und hatte, noch während er die Worte aussprach, größte Bedenken, ob er sie wirklich wahrmachen konnte. Plötzlich wühlte Aufregung wie ein Haufen Sandwürmer in seinem Bauch und es stieg eine heiße, beklemmende Hitze aus seinem Innersten empor. Bisher hatte er noch immer nicht völlig glauben können, dass der Moment käme, an dem der Plan seines Großvaters in die Tat umgesetzt würde. Irgendetwas, hatte er gedacht, würde geschehen, ein Umstand dazwischen geraten, der die Ausführung des tollkühnen Diebstahls in einem der bestbewachten Gebäude der Welt verhindern – oder doch zumindest verschieben würde. Dann hätte er sein bisheriges Leben fortsetzen, für seine Prüfungen lernen und weiterhin glühende Liebesschwüre mit Semira tauschen können. Aber als er nun Alis und Muhar wieder in der Menge verschwinden sah, wusste Selin: Dies war alles nur ein frommer Wunsch gewesen. Egal, was passieren würde und wie die ganze Sache ausging, ob es ihnen gelingen würde, den „Weg, der in den Tag führt“ an sich zu bringen und sie anschließend durch die Kavernen unter dem Palast entfliehen und auf alten Diebeswegen aus der Stadt entkommen konnten – weiter wollte Selin im Augenblick nicht denken – oder ob sie ertappt, gefoltert und hingerichtet würden und ihre Leichen anschließend für Monate von den Palastmauern herabhingen und vermoderten: Die Entscheidung war gefallen, alles dies würde heute Nacht noch geschehen … auf die eine oder auf die andere Weise. Wie endlos entfernt erschien dem jungen Mann plötzlich der Sonnenaufgang dieses Tages, der ihn lernend auf dem Dach des Wohnhauses gefunden hatte!

Als würde er in diesem Augenblick in Selins Herz blicken, stellte sich Juel neben ihn und klopfte ihm auf die Schulter.

»Wir ‘aben noch ein wenig Zeit«, sagte er, »lass uns einen günstigen Ort suchen und den Märchen lauschen. Vielleicht fällt mir dann auch noch ein, woher ich diesen Märchenerzähler aus dem Norden kenne.« Er zögerte, weil ihn mit einem Mal eine alte Erinnerung überfiel, die er nur selten an sich heran ließ, weil sie zu schmerzhaft war.

»Es wird alles gut gehen, glaube mir«, sagte der Meisterdieb dann, »isch bin schon in viel misslicheren Situationen gewesen und habe mich immer wieder aus ihnen ‘erausgewunden. Ich finde immer einen Ausweg. Das ist meine Spezialität. Die Tränenreiche ist auf meiner Seite und auf der Seite meiner Begleiter … zumindest ab und an.«

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»Die meisten von euch, meine südlichen Freunde«, begann Sahar seine Sage, nachdem er sich versichert hatte, dass er die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Zuhörer hatte, »kennen den Winter nicht und haben noch nie den Schnee gesehen, deshalb lasst ihn mich euch zuerst beschreiben. Eine Schneeflocke ist ein kleiner, weicher Stern, der durch die Wolken zum Boden fällt, sich dabei weiß glitzernd um sich selbst dreht und wendet und im leichten Wind mutwillig wie ein eisiger Schmetterling tanzt. Fällt er auf deinen Handrücken, spürst du von ihm einen winzigen, eiskalten Mückenstich. Doch bevor du dir den ausgefransten Schneestern genauer betrachten kannst, taut er schon, schmilzt auf deiner warmen Haut zu einem köstlich kühlen Tau. Die Kinder in meinem Land versuchen, die Schneeflocken mit ihren Zungen zu fangen und sie erzählen sich, dass sie die gefrorenen Schweißperlen der dunkelsten unter den Wolkenriesen seinen. Eine auf die Spitze der Zunge segeln zu lassen, soll Glück bringen!

Fällte der Schnee jedoch auf die ewig gefrorene Erde der Tundra, so schmilzt er durchaus nicht, sondern er bleibt liegen und verbindet sich mit all den anderen Flocken, die sein Schicksal teilen, verwebt sich zu einer immer höher anwachsenden, blendend weißen Decke, die alles bedeckt, unter sich erstickt, abtötet, erfriert – egal, ob Pflanze, Tier, Mensch, Baum, Gebäude oder Berg. Die Konturen verschwimmen, die Welt wird kleiner, fast gemütlich, doch sie ist menschenfeindlich, gefährlich, sie verzeiht keinen Fehler. Ja, Schnee ist eine Todesfalle.

Bewohner von Karukora! Meine Geschichte spielt vor gut zweieinhalbtausend Jahren in den dunklen Jahrhunderten nach dem Fall der Drei Länder, nach deren schrecklichem Krieg alle Zivilisation, Kultur und Wissen, Mitmenschlichkeit und Friede für immer verloren schienen und die Menschen ganz langsam aus dem Albtraum zu erwachen begannen, der unsere Welt verwüstet und in einen Ort der Tränen und Verzweiflung verwandelt hatte. Sie beginnt im fernen Frostje im ewigen Eis, hoch im Norden der Welt, dort, wo der dämmrige Tag nur einige kurze Stunden und die Nacht oft ewig andauert. Schnee taumelte feucht aus den grauen, tiefen Wolken und er fiel so dicht und schwer, dass Straif nur wenige Fuß weit sehen konnte. Er stapfte müde und verzweifelt über das unter seinen Schritten knirschende, blendend-weiße Leintuch einer namenlosen Hochebene. Sie erstreckte sich weit unterhalb des vergletscherten Berges Trudgelmir, dessen Sattel der junge, tapfere Mann von Süden her überschritten hatte. Über dieser tief verschneiten Tundra, die längst alle Umrisse und Landmarken unter ihrer kalten Last verloren hatte und deren Horizont mit den Wolken verschmolz, tanzten munter die Schneeflocken, doch es war ein Totentanz, zu dem sie den verlorenen Jüngling aufforderten.

Straif hielt seinen rohen, löchrigen Mantel fest an den Körper gepresst und versuchte auf diese Weise, so etwas wie Wärme, zumindest einen Schutz vor der erbarmungslosen Kälte, die ihn umwirbelte, zu erzeugen, aber es gelang ihm nicht. Das Gegenteil war der Fall. Er fror immer heftiger, wie Fieberschauer jagte der Frost Schmerzen durch seine Beine, mit denen er bei jedem Schritt bis zu den Knien in den Schneewehen versank. Sie gehorchten seinen Befehlen kaum mehr und drohten, ihm ihren Dienst zu versagen. Er wusste mit jedem vorsichtigen Atemzug, der wie Feuer in seinen Lungen brannte, deutlicher, dass er am Erfrieren war und sein Ziel wohl niemals mehr erreichen würde.

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Sahar, der Märchenerzähler

[zum 2. Teil]

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