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Die Ungeheuer und der Abgrund

»Um ein guter Literat zu werden, müsstest du lernen, die Menschen näher zu betrachten. Und nicht nur dich selbst.«

»Du denkst also, dass ich eine schlechte Beobachtungsgabe habe?« erwiderte ich beleidigt.

»In der Tat. Und ist es nicht mithin die wichtigste und zugleich dankbarste Übung für jeden Künstler, Menschen zu beobachten?« Obwohl Karl seine Feststellung als Frage formulierte, schien er keine Erwiderung von mir zu erwarten. Ohne dass ich es wollte oder noch verhindern konnte, entrutschte mir ein breites und überhebliches Lächeln. Endlich, dachte ich, weiß ich einmal etwas besser als er. Ich lehnte mich zurück.

»Die Menschen sind doch in unseren Tagen uninteressant geworden. Es gibt einfach zu viele. Und jeder sagt und tut immer wieder dasselbe, wie Millionen andere auch.« Karl nickte, als habe er diesen Einwand von mir erwartet.

»Ganz wie du es sagst. Du sollst recht haben«, entgegnete er und für einen Moment klang er, als würde er mit einem Kind reden. »Aber du und ich, wir sind ein Teil dieser Masse. Wir können ihr nicht entkommen. Wir können sie nur führen. Machmal beschleicht mich der Verdacht, dass das einzige originäre Empfinden, das sich in den letzten, sagen wir, zwanzig Jahren entwickelt hat, der Vojeurismus ist. Der neugierige Blick auf den anderen, selbst beobachten, ohne beobachtet zu werden, das ist doch spätestens seit er Einführung des Privatfernsehens und des Internets eine eingeübte, akzeptierte Verhaltensweise von uns allen. Es gibt nichts Interessanteres zu sehen, als die von der Norm abweichenden Handlungen und Emotionen der anderen. Bald wird es nur noch Fernsehsendungen darüber geben. Sonst haben wir doch bereits alles gesehen. Das Kameraauge war an jedem Punkt im Makro- oder Mikrokosmos. Wenn ich will, kann ich Innenaufnahmen von meinem eigenen Dünndarm machen lassen und als gerahmtes Bild über mein Bett hängen.« Er machte eine Pause, schürzte die Lippen. Ich hielt seine Ausführungen für etwas zusammenhanglos und wahrscheinlich empfand er ähnlich.

»Wir haben die Dinge unserer Umgebung und die Natur durch die fotomechanische Abbildung getötet, die Originale durch Kopien ersetzt«, fuhr er präzisierend fort, »nur durch die Begegnung mit Menschen, durch ihre Nutzung, treten sie für einen Moment ins Leben, sonst sind sie tot – tot und sterbenslangweilig.« Karl stockte und beugte sich nach vorn. »Nach so viel Theorie gebe ich dir einen Beweis. Schau doch mal zum Nebentisch.« Ich sah schnell zur Seite. Dort saß ein Mann in undefinierbarem Alter vor eine Tasse Kaffee. Er war erschreckend dünn und eingefallen. Sonst wirkte er auf den ersten Blick nicht weiter auffällig, einzig die grotesk dicken Brillengläser, die, etwas herabgezogen, schwer auf den Nasenflügeln lasteten, waren bemerkenswert. Er blickte stumpf auf die niedergerauchte Zigarette in seiner Rechten und schien völlig in Gedanken versunken.

»Der Mann ist gefahrlos zu beobachten«, erläuterte Karl leise. »Er besitzt das Gesichtsfeld eines Maulwurfs. Aber er hat gute Ohren.« Ich sah genauer hin. Auf den zweiten und dritten Blick war zu bemerken, dass die Sehbehinderung des Mannes nicht seine einzige Abnormität war. Er hatte einen nervösen Tic und hob immer wieder flatternd einen Nasenflügel. Und er hatte den Tragegurt einer großen Umhängetasche um den Hals, sie selbst ruhte auf seinen Knien. Die Tasche fiel mir erst jetzt auf, weil er, die Füße angezogen, mit krummem Rücken halb über ihr kauerte. Was sie auch immer enthielt, es schien ihm so wichtig zu sein, dass er es mit seinem Körper schützte. Für das momentane sommerliche Wetter war er viel zu warm gekleidet.

Die Bedienung trat neben ihn und drückte ihm einen kleinen Zettel mit seiner Rechnung in die Hand. Der Mann zuckte erschrocken zusammen, aus seiner Versunkenheit gerissen, befühlte er einen Augenblick zweifelnd das Papier, dann hob er es zu seinen Augen. Um die Zahlen entziffern zu können, musste er mit einer Hand die Brille in die Höhe schieben, mit der anderen den Zettel direkt gegen seine Augen drücken. Dabei wendete er sich halb gegen das Licht. Ich bemerkte, dass ich diesen extrem kurzsichtigen Mann wie eine ausgestellte Monstrosität begaffte und schämte mich plötzlich. Ich sah zur Seite. Doch Karl packte mich am Arm.

»Nein, schau jetzt!« zischte er. »Sieh hin.« Seine Stimme klang unangenehm und gierig. Obwohl ich mich vor mir selbst ekelte, warf ich noch einmal einen Blick hinüber zu dem nahezu blinden Mann, der nun in seine Umhängetasche gefasst hatte und zu meinem Erstaunen eine ganze Handvoll kleiner Münzen zu Tage förderte, die er ebenso genau einer Prüfung unterwarf wie vorher den Rechnungsbeleg. Ich schüttelte den Kopf.

»Armer Kerl«, sagte ich. Karl nickte.

»Findest du? Du hast Mitleid mit ihm? Dann lass dir sagen: Er war eine Zeitlang im Gefängnis, weil er ein Kind misshandelt hat. Jetzt bettelt er und handelt mit den Drogen, die er selbst konsumiert. Er trägt sie in seiner Tasche mit sich spazieren.« Wieder sah ich hinüber und betrachtete den Mann mit anderen Augen. Schnell war mein Mitleid in Ekel umgeschlagen. Er gab nur zögernd seine Geldstücke preis, hatte anscheinend Angst, er könne zuviel herausgeben.

»Ist das wahr?« flüsterte ich skeptisch. »Oder hast du dir das gerade ausgedacht?« Karl lächelte überheblich.

»Du musst lernen, die Menschen intensiver zu betrachten. Das, was du siehst, ist nur eine Hülle, eine Maske. Aber sie ist nie perfekt, immer ist etwas zu finden. Siehst du, wie er absichtlich zögert, wenn er sein Geld in die Hand der Bedienung legt? Er genießt dabei die Berührung seiner ekelhaften Finger mit der weichen Haut ihres Handballens. Auf seinem bauernschlauen Gesicht stehen deutlich seine Gier und der Stolz  geschrieben, dass sie seinen Trick nicht durchschaut.«

»Erzählst du mir wirklich die Wahrheit?« fragte ich erneut.

»Weißt du, warum so viele Menschen im Elend verhungern, in jedem Augenblick einer, und niemanden kümmert es? Warum es den Hilfsorganisationen auch mit den aufdringlichsten Appellen nicht gelingt, mehr Geld aus den fetten Brieftaschen der Leute zu locken, als es über die allernötigste Gewissensberuhigung hinausgeht? Wir sind das Land mit dem größten Privatvermögen auf der Welt. Ich will es dir sagen: Weil Armut und Elend immer schmutzig sind, offene Schwären und Fliegen in den Augen verhungernder und an entsetzlichen Krankheiten krepierender Kinder jeden anekeln. Das ist der Tod, Verwesung, Gestank und Exkremente, Lepra und die Pest, Eiter und Blut, damit will niemand etwas zu tun haben. Das will jeder vergessen, von sich schieben. Gut, dass Afrika und Asien so weit weg sind. Und die Alten und Kranken hier? Wir schließen sie in Heime und Verwahranstalten, sie stören das Straßenbild. Der Ausnahmezustand “Gesundheit” ist der Götze, dem wir folgen. Deshalb ist uns der Bettler auf der Straße so peinlich. Seine Armut kotzt uns an. Wir wollen ihr nicht begegnen. Und das ist meine Aufgabe als Künstler: Ich muss die Menschen mit dem Verdrängten konfrontieren, ihnen zeigen, wie dünn die Hülle ist, die jeden von uns von Armut, Krankheit und Tod trennt. Wie leicht platzt dieser schöne Schein.«

»Wer mit Ungeheuern kämpft, der sehe zu, dass er nicht selber zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange genug in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich.« warf ich ohne weiteres Nachdenken ein.  Karl sah mir forschend in die Augen.

»Wer hat das gesagt?« fragte er betroffen.

»Nietzsche. Ich habe gerade was von ihm gelesen.« Für eine ganze Weile betrachteten wir uns nur. Offenbar hatte ich ihn wirklich überrascht. Ich sah dem Halbblinden hinterher, der tastend das Café verließ. Ich winkte nach der Bedienung

»Was willst du mir damit sagen? Bin ich denn für dich ein Ungeheuer?« hakte Karl nach, sich seine Maske mit dem freudlosen Lächeln überziehend. Ich zuckte mit den Achseln und bereute bereits mein spontanes Zitat, aber es gelang mir nicht, mich anders deutlich zu machen. Wie konnte ich mich ihm überhaupt verständlich machen? Da saß er mir gegenüber, wartete überlegen auf meine ihm selbstverständliche Zustimmung, da ja alles, was ich tat, gegen die Weltbedeutung seiner Berufung keinerlei von keinerlei Interesse war. Ich gehörte nur zur Masse, untalentiert und überflüssig, wie ich seiner Meinung nach sah. Ich durfte einem so wichtigen Mann wie ihm nicht im Wege stehen. Da hatte ich das Gefühl, als tauche in seinen Zügen ein kranker, größenwahnsinnige Messias auf.

Draußen vor der Tür stand dann der halbblinde Mann und hielt jedem Vorbeigehenden einen Zettel hin, auf dem er mit einer zittrigen Handschrift zu lesen war, ob man ihm nicht zwei Euro leihen könne. Und weil er nichts sah, verdeckte er mit dem Daumen beinahe den ganzen Satz.

aus: “Die Wahrheit über Jürgen”, Roman

Diedorf

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