Stillblüten – 5. E-Mail – Teil 1

Ich warne euch: Dieses Kapitel ist eine „Nebelkerze“. Es werden sehr viele falsche Fährten ausgelegt, aber auch ein, zwei richtige. Meine Leserïnnen sollen rätseln, welche Vergangenheit Bernadette zurückgelassen hat, welche Geheimnisse die Einwohner von Stillblüten verbergen und was überhaupt real ist und was nur in der Einbildung geschieht. „Mystery“ nennt man das im Suspense-Kriminalgenre, das der Roman in diesem und den nächsten Kapiteln immer wieder streift.

Apropos „Genres“: Mir ist bewusst, dass heutzutage offenbar jeder Roman eine Kategorisierung braucht, um es potentiellen Leserïnnen leichter zu machen, das für sie Passende zu finden. Wer meine Bücher kennt, weiß, wie schwer mir solche Einteilungen fallen. Ich springe meist fröhlich zwischen den Genres und den literarischen Gattungen hin- und her und lasse mich nicht in eine Schublade stecken. Meine Literatur soll wie das Leben sein; denn auch das Leben lässt sich nicht in ein Genre packen. Tragödie und Komödie vermischen sich ununterbrochen. Wir sind alle eine Vielfalt und es ist eine Schande, wie uns die Gesellschaft ein Label verpasst, das wir wie ein Tonnengewicht mit uns schleppen müssen.

Auf der anderen Seite habe ich genau deswegen so wenige Leserïnnen …

5. E-Mail – Das Elsternnest (Teil 1)

Der Schlaf hat mir gestern Nacht den Stift aus der Hand genommen. Wie man so schön sagt. Ich habe die letzte Mail – es war die vierte, wenn ich richtig gezählt habe – erst gegen Mittag fertiggestellt und abgeschickt. Inzwischen ist es wieder Abend geworden. Es so viel passiert, von dem ich dir berichten möchte. Ich befürchte daher, diese Mail wird erneut den Rahmen sprengen. Ich habe unendlich viel zu erzählen. Hätte nicht gedacht, dass ich in dieser düsteren Zeit noch einmal zu einer fleißigen Briefschreiberin würde. Zumal ich die literarische Gattung des Briefromans so wie das Versepos für mich persönlich in die Gruft der ausgestorbenen Literaturformen getragen habe und ihnen bislang keine Träne nachweinte. Ich habe niemals gerne Briefe geschrieben und sie auch nicht gerne gelesen. Das war eine Qual von Kindheit an. Die Weihnachtskarte an die Oma, die Korrespondenz mit meiner schottischen Brieffreundin, die Post an meine Mutter, wenn sie wieder einmal aufgrund ihrer Fettleibigkeit auf Kur war. Der ›Werther‹, was für ein langweiliger Quark! Hasste das. So etwas wollte ich niemals selbst fabrizieren.

Und jetzt? Sieht es so aus, als würde ich dir einen Briefroman schreiben. Ausgerechnet. Briefe sind in Romanen immer an jemanden gerichtet, aber sie sind Monolithe. Signalfeuer. Nur selten finden sich in Briefromanen die Antworten der Empfänger. Es ist, als wären Botschaften und Nachrichten nicht an eine bestimmte Person, sondern an die ganze Welt gerichtet: ›An meine imaginierte Leserin‹, die ich eigentlich bei jedem Satz, den ich aufs Papier bringe, im Hinterkopf behalten sollte. Die ich anspreche. Mir geht es bisher mit meinen Nachrichten an dich genauso. Vier endlose E-Mails habe ich an dich geschickt, aber bisher noch keine einzige von dir zurückbekommen. In meinem Postfach landen nur Spam und der übliche Werbekram. Hattest du noch keine Zeit für eine Antwort? Oder bist du mir böse wegen meines überstürzten Aufbruchs? Eine Empfangsbestätigung hätte mir schon genügt. Damit ich weiß, dass du dies liest. Klar. Es ist langweilig, mit seiner Mutter zu korrespondieren. Doch dieses Schweigen – das habe ich nicht verdient. Geht es dir denn gut? Wie kommst du zurecht ohne mich? Vermisst du mich auch so sehr?

Weißt du, ohne eine Antwort von dir fühle ich mich tatsächlich so, als würde ich an einem fantasievollen Briefroman arbeiten und nicht einen genauen Bericht für dich über meine Erlebnisse während meiner kleinen Auszeit anfertigen. Ich bin versucht, die eine oder andere erfundene Geschichte dazwischen zu mogeln. Du weißt ja: Die unverfälschte Wahrheit ist immer unwahrscheinlich … Um die Wahrheit glaubwürdiger zu machen, muss man ihr unbedingt etwas Lüge beimischen. Tja.

Dabei sind es wahrscheinlich genau diese Einträge in meinem blauen Notizbuch, die ich dir abgetippt als Mail zusende, die der Weg aus meiner Schreibkrise heraus sind. Ich habe zwar meinen Roman nicht fortgesetzt, aber ich schreibe. Ich schreibe! Zum ersten Mal seit Monaten. Das verstopfte Ventil ist frei. Ich glaube, ich räume mein schwarzes Notizbuch in eine Schublade. Ich lasse den angefangenen Levin Lionheart dort ruhen und beschreibe stattdessen für dich mein Frühjahr in Stillblüten. Das wäre ein guter Titel für eine Geschichte. Frühjahr, ja. Auch wenn ich bei einem Blick aus dem Fenster nur Bergflanken, Schneeflächen, graue Wolkenfetzen und dieses unheimliche schwarze Wetterkreuz mit drei Querbalken sehe. Ich habe keine Ahnung, wohin das Ganze mich führt. Erzählung, Roman, Memoiren, irgendwas. Ich schreibe einfach mal drauflos. Ich muss nur aufpassen, dass nicht meine Fantasie mit mir durchgeht und ich mich zu sehr von der Wahrheit entferne. Doch das werde ich wohl nicht nötig haben. Den Titel Mein Frühjahr in Stillblüten habe ich mir heute Nacht ausgedacht, als mich gegen halb vier Uhr ein lang gezogenes Jaulen weckte und ich danach lange nicht wieder einschlafen konnte. Doch, ich bin mir sicher, dass es ein gequältes Hundegebell war. Das gespenstische Jaulen eines großen Tieres; von einem Hofhund wahrscheinlich. Es klang ganz nah. Merkwürdig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in meiner näheren Umgebung eine Alm gibt, in der jemand zu dieser Jahreszeit zuhause sein könnte. Wahrscheinlich war es nur ein Echo aus dem Tal. Oder?

Aber gut. Zurück zur Chronologie. Ich glaube, dazu werde ich mich noch oft ermahnen müssen. Kehren wir dorthin zurück, wo ich gestern aufgehört habe. Die Kabine der Seilbahn, die uns hinauf zum Elsternnest brachte, ist eine eisigkalte Kühltruhe und hat keinerlei Sitzplätze. Sie ist eng und für höchstens vier Personen ausgelegt. Da Reto bei diesem Schneegestöber nur eine einzige Fahrt wagte, war außer uns beiden und Andrin zusätzlich noch mein ganzes Gepäck an Bord. Wir standen wie die Ölsardinen aneinandergepresst in der Kabine und redeten während der Fahrt kein Wort miteinander. So viel zu den Corona-Abstandsregeln. Es ging über zwei Stützpfeiler sehr steil eben jene Bergflanke empor, die direkt hinter Stillblüten als schwarzer Theatervorhang in den Himmel ragt. Durch die beschlagenen und zerkratzten Fensterscheiben hindurch gab es in dieser finsteren Nacht nicht viel zu sehen. Schnell blieben die wenigen Lichter des Dorfs unter uns zurück und wurden von der von großen Schneeflocken durchwirbelten Schwärze draußen verschluckt. Wenn es nicht aufwärts gegangen wäre, hätte dies auch meine Fahrt direkt hinunter in den 9. Kreis der Hölle sein können. Allein bei den beiden beleuchteten Masten wich die Dunkelheit kurzzeitig einem grellen Schlaglicht, das den feuchten, kahlen Felsen schräg vor uns glitzern ließ.

Aber ich sah kaum hinaus. Das war mir zu gruslig. Es reichte schon, wie die Kabine mit den Windstößen hin- und herschwankte und an den Masten durchsackte. Ich musste immer wieder Halt an meinem jungen Vergil finden, der mich weiblichen Dante in die Hölle begleitete. Er starrte zwar konzentriert nach draußen und schwieg. Aber die Berührung unserer Körper schien ihm nicht unangenehm zu sein. Bei besonders heftigen Schwankungen drückte sich dann auch noch Andrin gegen meinen Rücken. Ich wurde dabei so eng an Reto gepresst, als wären wir ein Liebespaar. Er wirkte unter seinem weiten Blaumann dünn, dabei allerdings sehr muskulös. Stand trotz der Stöße und Schwankungen breitbeinig und sicher vor seinem Steuerungskasten. Wirkte dabei so unerschütterlich wie der Kapitän eines Viermasters bei Jules Verne, der sein Schiff durch die stürmische Nacht steuert. Was soll ich noch sagen? Es fühlte sich einfach gut an. Sicher. Ich war geborgen, hatte meine Panik im Griff und die zehn Minuten Fahrt hinauf zum Elsternnest gingen überraschend schnell vorbei. Fast bedauerte ich es, als wir ankamen.

Die kleine Bergstation ist direkt in das Chalet integriert und man gelangt von ihr durch einen kurzen Gang in den Keller des Gebäudes hinein. Meine beiden Begleiter gingen mit dem Gepäck voran und brachten es zur metallenen Eingangstür. Andrin schloss sie auf und spielte den Cicerone, während sich Reto die ganze Zeit schüchtern im Hintergrund hielt und immer wieder nervös auf seine Armbanduhr sah. Wahrscheinlich wäre er am Liebsten gleich wieder aufgebrochen, denn der Sturm nahm noch immer an Stärke zu. Der Alte ließ es sich jedoch nicht nehmen, mir alles genau zu erklären.

»Also: Hier unten sind der Trockenraum, die Waschküche und ein Lager. Durch den hinteren Eingang geht es in den Fitnessraum. Dort befinden sich auch das Schwimmbecken und eine finnische Sauna, die Sie eine knappe Stunde vor der Benutzung einschalten müssten. Und dort geht es hinauf in das Chalet selbst«, plapperte er munter vor sich hin, als hätte ihn die Höhenluft auf weit über zweitausend Metern aus seiner Schweigsamkeit geweckt. Ich bekenne mich schuldig. Ich habe ihm kaum zugehört. Meine Müdigkeit und die Schwere in meinen Beinen nahmen mit jedem Schritt zu und ich bewegte mich nur noch wie eine Schlafwandlerin. Über eine steile Jakobsleiter, bei der mir mein Knie wieder zu schaffen machte, stiegen wir zur Wohnung hinauf. Reto und Andrin mussten ordentlich schnaufen, bis sie mein Gepäck endlich oben hatten.

Ich wusste zu dem Zeitpunkt noch nicht, wie das Elsternnest von außen aussieht, aber die Inneneinrichtung wirkte, als würde ich die geheime Villa eines James-Bond-Bösewichts betreten. Zwar sind die Wände aus nachgedunkelten Holzbalken und graubraunen Granitblöcken gefertigt und riechen betäubend nach Zedern und Harz, aber das Interieur wirkt wie aus einem Möbelkatalog der späten Sechzigerjahre. Sogar eine gutgefüllte Bar gibt es hier. Haben Welkenbaum oder sein Vater diese Wohnsünde verbrochen? Der Verlag das Chalet mitsamt den Möbeln gekauft? Du wirst es nicht glauben, aber es liegen sogar weiße Schafsfelle vor dem offenen, ausladenden Kamin, in dem gestern Abend ein fröhliches Holzfeuer brannte. Es wärmte angenehm den Wohnbereich, der fast das gesamte Erdgeschoss umfasste. Bestimmt war Andrin am späten Nachmittag schon einmal hier gewesen und hatte vorsorglich eingeheizt. Zum ersten Mal an diesem Tag wurde mir warm und ich warf eilig meinen Mantel über das orangefarbene Sofa, auf dem zwei Fellkissen liegen. Über eine Stufe gelangt man von dem Wohnzimmer zu einer Küche mit einer gemütlichen alpenländischen Essecke. An ihr sitze ich übrigens gerade vor einem großen Fenster und setze diese E-Mail auf. Hier ist es viel bequemer als unten vor dem Kamin, wo es außer der Couch und zwei Lounge-Sesseln nur noch einen niedrigen Nierentisch in grüner Schockfarbe gibt. Ein Stilbruch ist der große LED-Fernseher, der wie ein Gemälde an der Wand hängt. Ich werde mich nicht allzu oft dort aufhalten, glaube ich. Und fernsehen will ich schon gar nicht. Die Welt da draußen kann mir gestohlen bleiben. Deshalb bin ich ja schließlich hier. Ich will die Welt verlassen. Nein, da ist mir dieser kleine Küchenbereich mit Aussicht auf die verschneite Terrasse vor dem Chalet schon sympathischer.

Andrin erklärte mir voller ehrlicher Begeisterung die Luftwärmepumpen, die das Gebäude zusätzlich zum rustikalen Ofen heizen. Er ging so ins Detail, dass ich einfach ausstieg und mich erschöpft auf meinen großen Koffer setzte. Seine Erläuterungen, von denen ich aufgrund seines Walliser Dialekts nicht einmal die Hälfte verstand, verwandelten sich in das Brummen eines gutmütigen Bären. Wäre direkt auf der Stelle eingenickt, wenn nicht Reto eingegriffen hätte. Er legte seine Hand auf die Schulter des alten Berglers und runzelte besorgt die Stirn.

»Ich glaube, es ist gut für heute, oder? Es gibt nichts mehr, was du nicht auch in den nächsten Tagen erzählen kannst. Machen wir Schluss. Es ist bald Mitternacht.« Andrin beendete sofort sein endloses Gebrabbel. Er wirkte aus einem Grund, der mir nicht klar wurde, betroffen.

»Ja, das …«, stotterte er. Dann fasste er sich. »Freilich. Wir müssen los, oder? Ich habe die Zeit vergessen. Sie müssen schrecklich müde sein, Frau Rainer. Wie unhöflich von mir. Da rede ich … Morgen Vormittag kommt meine Anneli zu Ihnen hoch, wegen der Wäsche und der Küchenvorräte. Da kann sie Ihnen ja den Rest des ›Aegäschteäs‹ zeigen. Jetzt tragen wir Ihnen nur noch schnell Ihre Koffer unters Dach ins Schlafzimmer. Dann sind Sie uns auch gleich los.«

5. E-Mail: Das Elsternnest (Teil 2)

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