Der Weg, der in den Tag führt
Eine Geschichte aus der Welt von »Brautschau«
4. Kapitel
Der Sonne entgegen
Auch wenn es jeder Bewohner des Juwels der Wüste anders empfunden hatte: Selbst diese längste alle Nächte hatte ein Ende, auch wenn ihre Schwärze ewig zu währen schien. Schließlich tauchte die Sonne doch noch strahlend am wolkenlosen östlichen Firmament über der Hügelkette auf, die die Grenze zu den Ebenen des ewigen Kriegs markierte und hob sich dann während ihrer Wanderung gemächlich über den Ufern des Südmeers empor. So, wie sie es treu und zuverlässig an jedem Tag machte, den die Allerbarmende ihren sündigen Geschöpfen noch gewähren wollte, bis in nicht mehr allzu ferner Zukunft der schwarze Máni auf seinen Platz am Himmel zurückkehrte und allen Tagen ein brennendes Ende bereitete, würde die Sonne ihre unbarmherzige Glut weiterhin auf Karukora herabsenden.
Es war den Gassen, Häusern, Tempelanlagen und selbst dem elfenbeinernen Palast nicht anzumerken, dass an diesem Morgen alles anders war als nur 25 Stunden zuvor. Doch in der Stadt herrschte eine Stille, als hätte sie in der Nacht ihren Platz mit Tudas‘Tel gewechselt, der verfluchten Friedhofsstadt im Süden von Nearoma, die nur wenige tollkühne Abenteurer und Grabräuber jemals zu betreten wagten und kaum einer von ihnen wieder lebend verlassen hatte. Die Sonnenstrahlen erhellten auch noch die letzten Winkel der Straßen und Plätze, die großen Märkte, die tausend Brücken, die Gärten und Hinterhöfe der ziegelroten Häuser, doch nirgendwo fanden sie eine lebende Seele. Selbst die vielen Straßenköter, die vor allem im Armenviertel Hamdala eine Plage waren, hatten sich in den finsteren Löchern und Verschlägen versteckt, die sie mit manchem grindigen Bettler teilten. Auch Karukoras Bürger hatten sich wie die Hunde in ihre Behausungen zurückgezogen, hinein in ihre Häuser und Wohnungen. Die Fensterläden waren fest verschlossen, die Türen verrammelt und verriegelt. Kein Kaufmann hatte seinen Laden geöffent, die Bazaare waren wie leergefegt und die Priesterinnen der Tränenreichen hielten keine Gottesdienste ab. Kein Wagen rumpelte über das Pflaster, kein Kahn fuhr den Syris hinab. Die Stadt hielt den Atem an.
Die Maratschleusen hinter der Stadt waren mit schweren Ketten gesichert und verhinderten den Schiffsverkehr auf dem Strom. Auch die die fünf großen Karawanentore in der Stadtmauer waren auf Befehl des Namenlosen am Morgen nicht geöffnet worden. Selbst die Wächter der Miliz vernachlässigten ihre Befehle und hielten sich lieber in ihren Kasernen und Türmen versteckt, als die Wehrmauern zu bewachen. Aus diesem Grund gab es trotz der Schließung der Hauptwege viele unbewachte kleine Ausgänge, die aus Karukora hinaus in die umliegenen Wüsten führten. An diesen Stellen war die Stadt wie ein lecker Eimer, aus dessen vielen kleinen Löchern ungehindert das Wasser herausfloss. Hier fand der suchende Blick der hitzigen Sonne endlich Menschen, getriebene, gejagte und verzweifelte Gruppen und Familien, die sich ihrer Wut mit Schweißperlen auf der Stirn aussetzten und nur mit dem Nötigsten ausgerüstet, das sie in der Eile hatten zusammenraffen können, auf staubigen, schmalen Wegen mit allerlei Fuhrwerken und auf Tieren oder eilig zu Fuß aus der Stadt flohen. Sie alle fürchteten Verfolgung, Krieg, Elend und Hunger. Schließlich waren im Palast in der nicht enden wollenden gestrigen Nacht der Herrscher der Lamargue und seine gesamte Gefolgschaft ermordet worden. Dieses Gerücht hatte sich wie ein Lauffeuer durch die Gäste, die Ómers katastrophalen Gastmahl entkommen waren, verbreitet. Niemand der nun im Feuerglast der Sonne Flüchtenden wollte noch in Karukora sein, wenn Rauls Söhne oder seine Witwe Genugtuung einforderten und mit ihren Heeren die Stadt angriffen und belagerten. Die meisten von ihnen wandten sich nach Westen oder Süden, hin zu den vermeintlich sicheren großen Oasenseen und der Küste. Doch es gab auch zwei Wägen, die sich unberirrt der aufgehenden Sonne entgegen bewegten, auf einem Weg, der sich bald in der wasserlosen, steinigen Toten Wüste verlieren würde.
Der hintere war ein klappriger, mit einer Plane abgedeckter Karren, den ein unwilliger Esel zog und vor ihm mit großem Abstand ein grüngestrichener Kaufmannswagen mit zwei Mauleseln im Geschirr, wie man ihn häufig nordöstlich des Großen Walls antraf, der aber hier in der Wüste völlig fehlplaziert wirkte. Auf dem Kutschbock des zweirädrigen Karrens, einem rohen Querbrett ohne Rückenlehne, saßen nebeneinander Sirtis, Selin und Semira. Die Tochter des Märchenerzählers hielt die Zügel in den Händen und schnalzte regelmäßig mit der Zunge, um den Esel anzutreiben, damit sie mit Juels schnellerem Wagen einigermaßen Schritt halten konnte. Ab und zu sah sie lächelnd zur Seite zu den beiden jungen Leuten, die gegeneinandergelehnt schlummerten. Es war tiefer Schlaf der Erschöpfung, aus dem sie nicht einmal aufschreckten, wenn die Räder über ein Schlagloch der selten befahrenen und schlechten Straße rumpelten, die eine Tagesetappe entfernt in dem elenden und winzigen Wüstenweiler Matorka endete. Allerdings erklang dann jedesmal ein schmerzvolles Aufstöhnen von hinten, wo der noch immer gefesselte und geknebelte Ómer zwischen ein paar Säcken mit Salz unter der Plane lag. Die meisten Vorräte hatten die Flüchtigen in Juels Wagen umgeladen, damit der Esel nicht zu sehr belastet wurde. Sirtis wusste nicht, warum der dicke Kaufmann und Dieb darauf bestanden hatte, den verräterischen ehemaligen Vezir auf der Flucht mitzunehmen. Sie empfand ihn als einen unnützen Klotz am Bein, dem sie am liebsten mit der scharfen Klinge ihres Küchenmessers die Kehle durchschnitten hätte, um ihn wie ein Lamm, das sie für ein Festmahl schlachtete, ausbluten zu lassen. Aber sie hatte Juel, dem Ludo sorriento, gehorcht. Wenn einer wusste, was er tat, dann wohl der legendäre Meisterdieb.
Mit ihrem Vater Alis, in dessen Rachepläne Sirtis eingeweiht war und die sie, obwohl sie ihr Misslingen befürchtete, billigte, hatte sie ursprünglich vereinbart, auf ihn und Selin vor einem der kleinen Osttore zu warten, um dann mit ihnen gemeinsam nach Paradis zu flüchten. Doch dann sah alles ganz anders aus. Kurz vor ihrem Aufbruch hatte sie durch eine Nachricht von Muhar, der sie ihr durch einen Küchenjungen des Palasts überbringen ließ, erfahren, sie solle sich in der Alhaşra-Karawanserei mit dem Diener des Ludo sorriento, der auf Wunsch der Diebesgilde am Raubzug teilnahm, treffen. Selbstverständlich hatte Sirtis schon von dem Meisterdieb gehört und wusste sogar ein paar erstaunliche Märchen über ihn und seine abenteuerlichen Unternehmungen zu erzählen. Obwohl diese Geschichten sicherlich maßlos übertrieben waren, hörte man sie gerne auf den Bazaaren und Sirtis schöpfte sofort die Hoffnung, dass es mit seiner Hilfe doch gelingen konnte, zum Falkenthron vorzudringen und den „Weg, der in den Tag führt“ zu stehlen. Als Selin mit seinen vier Begleitern – Jalah hatte die Gruppe verlassen, nachdem sie endlich aus den Katakomben des Palastes herausgefunden hatten -, schließlich bei der Alhaşra-Karawanserei vor dem Ambra-Nordtor aufgetaucht war, in der Sirtis und Tonino ungeduldig auf sie gewartet hatten, hatte Sirtis sofort zu Juel Zutrauen gefasst, obwohl sie ihm noch nie zuvor begegnet war. Es hatte ihn zwar niemand gewählt, aber es stand außer Frage, dass er die Anführerschaft der Gruppe übernommen hatte und jeder auf ihn hörte. Er strahlte Entschlossenheit und Überzeugungskraft wie kein anderer in der Gruppe aus.
Inzwischen war ihr klar, dass Alis‘ kompizierter Racheplan nicht vollständig funktioniert hatte, denn er selbst hatte es ja nicht geschafft, rechtzeitig den Palast zu verlassen und an der Karawanserei zu ihr zu stoßen. Schweren Herzens hatten die beiden Wägen ohne ihn gen Paradis aufbrechen müssen, denn die Zeit lief ihnen davon und mit jedem Augenblick, den sie alten Märchenerzähler warteten, wuchs die Gefahrn von den Treuwächtern des Namenlosen gefunden und festgenommen zu werden. Ob ihr Vater sich nur verspätet hatte und noch nachkommen würde, ob er gefangen, verletzt oder gar bei der blutigen Schlacht im Palast getötet worden war, wusste Sirtis nicht, denn sie hatte keine Nachricht mehr von Muhar erreicht, aber sie befürchtete das Schlimmste. Doch es war gut, dass der Ludo überraschend beschlossen hatte, sie und Selin nach Paradis zu begleiten. Über seine Gründe sprach er nicht, aber er war sicherlich ein Gewinn für die Unternehmung. Sirtis hätte auch gerne Semira oder den Mönch gefragt, wie sie zu der Gruppe gestoßen waren und warum sie beide wild entschlossen waren, mitzukommen, war aber in der Hektik des Aufbruchs nicht dazu gekommen. Der dürre, ausgemergelte Alte hatte nur mit den Achseln gezuckt und sich aus den Waren in Juels Wagen wüstentaugliche Kleidung herausgesucht. Das hatte auch Semira getan, die ihren schmutzigen, nur noch aus Fetzen bestehenden Sarê gegen eine knielange, robuste Hose und ein weites Männerhemd getauscht hatte, die ihr einigermaßen passten.
Und nun schlief sie neben Sirtis an ihren Selin gelehnt auf dem Kutschbock und ein zufriedener und glücklicher Gesichtsausdruck erzählte von den angenehmen Träumen, die sie dabei hatte. Sirtis lächelte und schnalzte mit der Zunge.
Welch seltsame Wege ging doch die Liebe …