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Westernheld für einen Tag (Ein Roman-Fragment) – Teil 5

Ein weiterer Ausschnitt aus meinem bislang noch unveröffentlichten Roman „Gelbe Stunden“. Er ist eine Vorausveröffentlichung aus meinem demnächst erscheinenden Buch “Noch einmal daran gedacht”.

Und da gibt es noch etwas über Ulrich berichten. Ich scheute bislang davor zurück:

Als ich noch auf’s Gymnasium ging, führte der kürzeste Weg von der Schule nach Hause nicht direkt über den alten, gut im Gebüsch alter Hecken verborgenen Spielplatz, dessen einzige Spielgelegenheiten außer einer zum Hundeklo verkommenen Sandkiste aus einer niedrigen Rutsche, dem Gestell einer Schaukel und einem merkwürdigen Karussell bestanden. Die Geräte rosteten in kaum gestörter Stille vor sich hin. Das Karussell ist heute ein Fossil und auch vor dreißig Jahren war es schon eine Seltenheit. Auf seiner fest in den Boden zementierten Achse ruhte ein großes, glatt laufendes Kugellager, das die nahe Maschinenfabrik MAN gespendet hatte. Darauf lagerten wie die Speichen eines Rades acht Holzbalken als Arme, an deren äußersten Enden jeweils auf beiden Seiten schmale Sitzkörbe montiert waren, auf denen man Rücken an Rücken sitzend sich drehen lassen konnte. Lief jemand innen an der Achse mit und schob die ausladenden Arme kräftig an, konnte das Karussell eine Geschwindigkeit erreichen, der entsprechende Jahrmarktattraktionen nichts nahmen. Die Fliehkraft presste einen schmerzhaft in die schmalen Metallbügel, welche verhindern sollten, dass man aus dem Sitz geschleudert wurde. Wer das zweifelhafte Glück hatte, entgegen der Fahrtrichtung zu sitzen zu kommen, benötigte nach ein paar Runden mehrere Minuten, bis der Schwindel soweit nachließ, dass er ohne Sturz ein paar Schritte machen konnte. Muss ich erwähnen, dass wir Kinder dieses Karussell-Monster liebten?

Obwohl das Teufelsgerät wirklich gefährlich war, wurde es nie abgebaut. Im Gegenteil: Aus unerfindlichen Gründen war das Kugellager des Karussells immer geschmiert und üppig eingefettet und entging deshalb dem allgegenwärtigen Rost, dem der Rest der Anlage ausgeliefert war.

Übrigens verirrten sich nur wenige Kinder in den Spielplatz, aber abends war er der Treffpunkt der Jugendlichen der nahen, uniformen Arbeitersiedlung, die hier in nahezu vollkommener Abgeschiedenheit ihren mir zumindest in der 5. Klasse und 6. Klasse noch recht geheimnisvollen Beschäftigungen nachgingen; die jedoch selten über ein paar Flaschen Bier und eine eilig mit schlechtem Gewissen gepaffte Zigarette hinausreichten. Ich kann mich nur an einmal erinnern, dass ich im Ginstergebüsch hinter der Schaukel ein benutztes Kondom fand, dessen Sinn mir allerdings nicht im entferntesten klar war und das ich zuerst für einen dieser Quallenleichname hielt, die ich bei einem Italienurlaub so zahlreich am Strand gefunden hatte. Ähnlich kadaverhaft erschien mir denn auch der schlaffe, durchsichtige Plastikschlauch mit seiner undefinierbaren, schleimigen Füllung. Das Ganze wirkt auf mich allerdings nur deshalb obszön, weil es mir hier in den Sträuchern fehlplatziert erschien. Ich hob das mysteriöse Etwas vorsichtig mit einem Stock auf und begrub es in der Sandkiste, wo es sicher noch heute ruhen würde, wenn man nicht nach Tschernobyl der verseuchten Sand erneuert hätte.

Meist waren jedoch meine Streifzüge durch das Gebüsch erfolgreicher und ich fand, was ich in Wirklichkeit suchte: Halbgerauchte und achtlos zur Seite geschnippte Zigaretten. Dabei hatte ich zwar die Konkurrenz der Penner, diese verließen jedoch nur selten die Bänke am Eingang des Parks, die in so praktischer Nähe zum Mittagstisch der Caritas aufgestellt waren. Die liebsten Stummel waren mir die, an deren Filter Lippenstift hing. Dessen wächsernes, oft fruchtiges Aroma verband sich aufregend mit dem feuchten Nikotingeschmack. Das Rauchen dieser Stummel war mein erstes sexuelles Erlebnis. Ähnlich exotisch mussten auch die Küsse dieser Mädchen schmecken, die hier der begangenen Sünde bewusst ihre Zigaretten lässig zwischen ihre Lippen geklemmt gepafft hatten. Leider bin ich nie einer begegnet, da sie ja erst bei Einbruch der Dunkelheit zum Spielplatz kamen. Die Mädchen, die ich später küsste, schmeckten nachgerade enttäuschend anders.

Den Spielplatz am Lueginsland gibt es übrigens noch immer, er ist einer der magischen Orte, die nach Kindheit schmecken, er ist unverändert, die Geräte sind vielleicht etwas rostiger und scharfkantiger; schlägt man mit der Faust gegen eines der Rohre der Schaukel, kann man es wie Sand rieseln hören. Ach, ja, die Büsche sind dichter geworden. Sonst ist alles gleich. Noch immer treffen sich die Jugendlichen dort, sie haben den Platz von ihren Eltern geerbt, die ihn scheinbar vergessen haben. Heute treffen sich hier in der Hauptsache junge Ausländer, Türken, Griechen. Es wird mehr geraucht, weniger getrunken und die Mädchen heben vermutlich noch seltener ihre Röcke. Der Kies ist nun übersät von Kippen, es sind inzwischen so viele, dass ein Junge, der heute meiner damaligen Beschäftigung nachgeht, im Überfluss leben kann. Ein-, zweimal im Jahr, am liebsten im nebligen Spätherbst, wenn die verfaulende, verwesende Natur feucht und fett auf dem Laub lastet, besuche ich meinen totgesagten Park. Jedes Mal falle ich dann auf den Stillstand der Zeit herein, dieser Leiche in meinem Keller. Da mag es nicht weiter verwunderlich sein, dass es mir immer schlecht wird, wenn ich das Karussell sehe.

Für Ulrich war der Spielplatz ein Abenteuer der besonderen Art, seine ideale Folterkammer, die wenigen Geräte dort forderten seine Phantasie heraus. Besonders hatte es ihm das Karussell angetan. Es gab für ihn nur wenige Dinge, die ihn so erheiterten, wie mich in einem der Sitzkörbe zu fesseln und das Gefährt gemeinsam mit seinen Freunden zu beschleunigen. Anschließend weideten sie sich daran, dass ich wie ein Volltrunkener durch eine richtungslose Welt torkelte oder mich in die Sandkiste erbrach.

An dem hellen Frühlingstag – wir gingen gemeinsam in die 5. Klasse -, schleppte er mich bereits am Morgen vor dem Unterricht in den Park. Unterwegs begann er, sich mit Knüffen und Schlägen zu unterhalten und aufzuwärmen. Da ich wieder einmal nicht besonders auf ihn achtete, sondern den Träumereien eines Elfjährigen nachhing, kam er nach und nach in die richtige Stimmung, mehr zu unternehmen. Als sich dann uns seine beiden Kumpane anschlossen, hatte er sich längst entschieden und wir bogen ab zu der Folterkammer. Ob Uli im Physikunterricht gerade etwas über die Fliehkräfte gehört hatte, oder – ich habe ja schon erwähnt, wie einfallsreich er quälen konnte – einfach nur einen guten Einfall hatte, vermag ich nicht zu sagen. Auf jeden Fall ging er ohne Zögern und zielstrebig zu Werke.

Er gab seinen Folterknechten knappe, präzise Anweisungen, die diese prompt ausführten. Sie zogen mich an das Karussell und setzten mich entgegen ihrer normalen Praxis nicht auf eine der Sitzflächen, sondern banden mich seitlich mit meinem Gürtel an einen der langen Ausleger. Dreck am Stiel, kommentierte Ulrich und erntete sogar von mir einen kurzen Lacher. Noch hatte ich nämlich nicht erfasst, was auf mich zukam. Wenn sie mich die üblichen Runden drehen ließen, war immer auch etwas Lust für mich dabei, vor allem, wenn sie mich so ausdauernd herumschleuderten, dass ich die Übelkeit überwand und in einen Rauschzustand gelangte.  Doch diesmal wurde es entsetzlich. Alle drei gingen in die Mitte und setzten das schwere Karussell in Bewegung. Meine Arme wurden nach vorn gerissen und ich begann stolpernd, dann immer schneller hinter dem Sitz, an den ich gebunden war, herzurennen. Nach zwei Runden war das Tempo allerdings zu groß für mich. Ich fiel schwer nach vorn in meine Arme und wurde ohne Erbarmen weiter geschleift. Ich schrie vor Schmerzen. Das war ein Fehler, dadurch spornte ich sie noch an. Es war genau das, was sie von mir hören wollten. Meine Sandalen rutschten nach außen über den Boden, ein kompliziertes Muster im Sand hinterlassend. Dann, angefeuert durch Ulrich, gelang es ihnen, die Geschwindigkeit so zu steigern, dass meine Füße endlich den Kontakt zum Kies verloren. Als sich mein Körper nach oben drehte und ich im Kreis durch die Luft flog, knackte es bedrohlich in meinen Schulter- und Handgelenken, ich hörte das Geräusch deutlich, es übertönte den Jubel meiner Peiniger. Der Schmerz, der sich längst nicht mehr auf eine Stelle lokalisieren ließ, sondern im ganzen Körper brannte, machte mich so atemlos, dass ich nicht einmal mehr schreien konnte. Wieder und wieder und immer noch schneller drehte sich das Karussell. Die hellen Blätter des Baumes über mir wurden mir zu verwischten Schlieren, zu pulsierenden, zuckenden Ringen. Ich schloss die Augen.

Als ich aus meiner Ohnmacht erwachte, war ich allein auf dem Spielplatz. Ich lag unter dem Karussell; sie hatten mich losgebunden, bevor sie feige geflohen waren. Meinen nun blutigen Gürtel hatten sie achtlos zur Seite geworfen. Ich konnte mich lange nicht bewegen. Jedes Mal, wenn ich meine Lider schloss, dann tanzten wieder jene gelben, platzenden Ringe vor meinen Augen, bis ich sie wegen eines stechenden Schmerzes in den Armen erneut aufriss. Es mag angesichts der Schmerzen, die ich empfand, unglaubwürdig klingen, aber ich war nicht gefährlich verletzt. Gut, die Arme waren überdehnt und gezerrt, genauso eines der Beine, die Handgelenke und die Fersen waren blutig aufgescheuert, ich hatte viele blaue Flecken und einen mächtigen Bluterguss am Gesäß, von dem ich nicht wusste, wie er entstanden war, aber das war auch schon alles. Nachdem ich wieder stehen konnte, humpelte ich davon, säuberte mich notdürftig am nahen Hexenbrunnen. In der Schule war meine Ausrede vom Fahrradunfall, wegen dem ich auch über eine Stunde zu spät kam, glaubwürdig. Der Konrektor, ein Überbleibsel aus dem “Tausendjährigen Reich”, examinierte mich oberflächlich und streng, behandelte meine offenen Wunden mit Wasser und Jod. Dann stellte er fest, dass ich durchaus in der Lage war, am restlichen Unterricht des Tages teilzunehmen. Meine Eltern wurden nicht informiert.

An diesem Tag kamen Gerd und Albert in die 5a, um für ihre Jugendgruppe beim ND zu werben.

[… wird fortgesetzt …]

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