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Aber ein Traum Literatur Roman

Aber ein Traum – Roman (2. Kapitel – Teil 6)

Waldescher verstummte, scharrte ein kompliziertes Muster in den Kies zu seinen Füßen. Sein einziger Zuhörer wartete darauf, dass der alte Mann mit seiner Geschichte fortfahren würde, doch er hatte sie offenbar beendet. Jonas sah sich um. Wie lang hatte es gedauert, ihm diese unglaubliche Geschichte zu erzählen? In seinem Empfinden war mindestens eine Stunde vergangen, doch noch immer spielten seine Bekannten delierend Boule, in seinem Rücken trotteten die Fußballer traumwandelnd hinter einem Ball her und auch die Taube hatte ihren Rundflug um den Sportplatz noch nicht beendet, schien nun aber wie die anderen Akteure nicht mehr wie zu Beginn der Geschichte in der Zeit eingefroren, sondern nahm ebenfalls Bewegung auf.

„Hat Ruben Ihre Erzieherin ermordet?“, fragte Jonas. Er hatte noch einige Fragen, aber diese war die wichtigste. Ihm war jetzt am Montagmorgen in der Rückerinnerung nicht ganz klar, warum er sich auf diese offensichtliche Märchengeschichte eingelassen und keine Sekunde am Verstand des Graubarts gezweifelt hatte.

Waldescher stellte die Kaffeetasse, die er während seiner Geschichte in der Hand gehalten hatte, zur Seite auf die Bank, balancierte sie sorgsam aus. Der Kaffee, von dem er nicht getrunken, an dem er nur gerochen hatte, dampfte noch.

„Damals, vor bald fünfzig Jahren – so lang ist das schon her und bei mir zählt jedes Jahr doppelt – damals war ich davon überzeugt. Ich verfolgte meinen missratenen Bruder mit unversöhnlichem Hass. Heute, nach einer so langen Zeit, bin ich mir da nicht mehr so sicher. Ich habe über vieles nachgedacht, ich hatte genug Gelegenheit. Selbst wenn Ruben das Mikrowellengerät manipuliert hat, wovon ich eigentlich weiterhin ausgehe, bleibt die Frage, wie er Lina dazu brachte, mit ihm in die Küche zu kommen, dort auf die Knie zu gehen und, ohne sich zu wehren, den Kopf in den engen Heizraum zu stecken. Wie hat er dann das Teil in Betrieb genommen? Ich denke, das überstieg doch seine Fähigkeiten und Kräfte als Vierzehnjähriger. Aber vielleicht hat er sie irgendwie betäubt, auch wenn die Polizei später keine Gewalteinwirkung oder die Anwesenheit eines Dritten während des Geschehens nachweisen konnte. Trotzdem war er in die Sache verwickelt, da bin ich sicher. Das einzige Beweismittel, das Ruben mit dem Todesfall in Verbindung brachte – der Uhrmacherschraubendreher – war durch die Aufmerksamkeit meines Onkels in meinem Besitz und ich dachte nicht daran, dies der Polizei zu offenbaren, würde ich mich doch dadurch verdächtig machen. Die Ermittlungen endeten ohne Ergebnis. Die Kriminalisten gingen von einem Unfall aus oder von einem Selbstmord und schlossen bald die Ermittlungen. Ich wurde übrigens nie verhört. Die Familie, also mein Vater oder mein Onkel oder beide, sorgten dafür und wahrscheinlich auch für das schnelle Ende der Ermittlungen. Wir Waldeschers haben es noch immer geschafft, unseren Namen von Skandalen fernzuhalten. Aber die Unfalltheorie ist nicht zu halten und für einen Selbstmord gab es keinen Grund. Es wurde auch kein Abschiedsbrief gefunden. Wer – noch dazu eine Frau – bringt sich auf solch eine bestialische Weise um, wenn im Badezimmerschrank die schweren Schlafmittel zu finden waren, die der Arzt meinem Vater verschrieben hatte? Wer bleibt also als Verdächtiger?“

Waldescher beulte mit der Zunge seine linke Backe aus. Dann legte er kurz den Kopf zur Seite. „Da sind auch noch ihre Schuhe. Die Pumps wurden in ihrem Zimmer gefunden, sie standen sauber neben ihrem Bett. Nein, das Ganze bleibt ein Rätsel. Anders ist das mit meinem Hund. Ihn jedenfalls hat Ruben getötet. Er brachte ihn mit Rattengift um, mit dem er ein Stück Fleisch präparierte. Der Gärtner hob das Gift für jeden erreichbar im Schuppen im Garten auf. Der arme Kolja, er nahm den Todesbissen von einer Hand, der er vertraute und seine Qual dauerte Stunden. Das weiß ich, weil Ruben mir einen Brief hinterlassen hat, in dem er diese Tat genau beschrieb. Das war ihm ein Beweis seiner Stärke. Er wollte mich einschüchtern, mir demonstrieren, dass ich ihm zu gehorchen hatte. Noch wusste er ja nicht, dass ich ebenfalls ein Druckmittel in der Hand hatte und seine Welt buchstäblich in Luft auflösen konnte. Auf dieser Basis war wohl ein Waffenstillstand zwischen uns verhandelbar.“ Der Graubart seufzte und sein mächtiger Leib erzitterte neben Jonas.

„Ich hätte noch viel zu erzählen, doch heute haben wir noch anderes vor und ich merke auch, wie meine Kraft nachlässt. Ich bin keine Zwanzig mehr. Vergiss nicht, mein Gebäude ist symmetrisch. Erinnere dich daran, wenn wir wieder sprechen.“ Er seufzte noch einmal, machte eine wegwerfende Handbewegung und richtete sich gerade. Gleichzeitig, als hätte er den Befehl dazu gegeben – und vielleicht hatte er das auch – endete das traumatisch klebrige, zähe Zeitloch:

Die Boulespieler lachten und ihre Kugeln klackten, der Ball flog hart gekickt zum Tor und krachte donnernd gegen die Latte. Die Taube schoss wie ein Pfeil durch die Luft und verschwand aus Jonas Blickfeld. Nur er selbst saß nach vorne gebeugt wie erstarrt auf der Bank neben Waldescher, der ihn von der Seite anlächelte.

„Komm, wir wollen gehen. Ein schöner Abend wartet auf uns“, sagte er und klopfte Jonas kräftig mit der hohlen Hand von hinten auf den Rücken, gerade auf die Stelle, die ihm jetzt, aufrecht im Bett sitzend und sich erinnernd, solche Schmerzen bereitete. Der sicherlich freundschaftlich gemeinte Klaps war ein Schock, als würde ihm Alban Waldescher bei dieser Gelegenheit ein Messer in die Lenden rammen. Er spürte den Schock des Schmerzes jetzt ebenso stark wie am Vortag.

Jonas schrie erschrocken auf … und erwachte.

Das Telefon neben dem Bett läutete. Jonas schreckte in die Höhe. Gleichzeitig schalt er sich für seinen Leichtsinn und fuhr schützend mit der Hand zum Rücken, wo er seinen Schmerz sitzen wusste. Aber er fand ihn nicht, so, als hätte es ihn nie gegeben. Er blinzelte überrascht in die plötzliche Helligkeit seines Zimmers. War er denn wieder eingeschlafen? Gerade hatte doch noch der Montagmorgen sein erstes graues Licht in das Schlafzimmer geworfen und jetzt war es Stunden später; die Sonne malte einen breiten Streifen heller Wärme quer über das Bett. Oder erwachte er erst jetzt wirklich? Hatte er denn all das nur geträumt: Sein erstes, von Rückenschmerzen gepeinigtes Erwachen, seine zwei in der Zeit ungeordneten Erinnerungen an diesen alten Mann mit seiner unglaublichen Geschichte, die ihm eben noch so real und nun schon wie die Wahngespinste eines heftigen, aber nichtssagenden Traumes erschienen? Diese Erinnerung begann rasend schnell wie Zaubertinte auf Papier zu verblassen. Er hätte jetzt nicht mehr sagen können, ob er dem Graubart tatsächlich am Wochenende, zuerst am Samstag im Café und dann am Sonntagnachmittag am Sportplatz begegnet war, oder ob er die durchaus alptraumhafte Ausgeburt einer fiebrigen Phantasmagorie war. Im Nachhinein betrachtet schienen ihm diese Konfrontationen und die merkwürdigen Dinge, die sich dabei abgespielt hatten, völlig absurd. Sie konnten unmöglich wahr sein.

Und wenn er jetzt genau überlegte: Gab es diesen – wie hatte er sich noch genannt? – diesen alten Mann wirklich? Jonas wusste, wie plastisch morgendliche Träume sein konnten und auch durchaus folgerichtig, weil das erwachende Gehirn ordnend eingriff. Doch jetzt – wirklich erwacht – zerrannen diese Traumgebilde wie Sand zwischen seinen Fingern, lösten sich vom Licht des Morgens verdrängt auf. Nein, er war am Wochenende keinem Magier begegnet, der die Zeit anhalten konnte. Das waren nur wirre Träume ohne Sinn.

Er konnte sich allerdings nicht genau erinnern, was er tatsächlich am Sonntagnachmittag und danach am Abend gemacht hatte. Hatte er denn nicht, wie er vorgehabt hatte, Boule gespielt, war über einem ereignisarmen Fernsehkrimi eingeschlafen und dann mit Kopfschmerzen ins Bett gegangen? Machte sich denn bei ihm schon über dreißig Jahre früher als bei seinem Vater eine Alzheimer-Erkrankung bemerkbar? Nein, er war sicher: Er hatte am Abend einen ‚Tatort’ gesehen; er konnte sich sogar noch an ein paar Handlungsfetzen erinnern, an einem Mord in einer Küche.

‚Und am Nachmittag – ganz sicher – da habe ich stundenlang mit meinen Freunden vom Boulefreunde e. V. gespielt, mit ihnen Kaffee getrunken und vom Kuchen genascht’, versuchte er sich selbst zu überreden. Aber die Zweifel blieben, sie waren es, die sich jetzt statt der Schmerzen in seinen Rücken bohrten. Warum hatte er eigentlich überhaupt glauben können, er hätte Rückenschmerzen?

Das Telefon läutete weiter, regelmäßig und ruhig, schon eine halbe Ewigkeit. Es schien völlig unbeirrt von dem Emotionswirrwarr, in den es Jonas gestürzt hatte, als es ihn – erneut? – weckte. Der Klingelton wiederholte sich sicher schon zum zwanzigsten Mal, als sich Jonas endlich entschied, abzuheben und sich zu melden. Mit einem Seitenblick sah er dabei zur Uhr – es war nach Neun. Eigentlich wollte er um diese Zeit schon in der Stadt sein. Eine Weile war nichts zu hören. Er nannte seinen Namen noch einmal und wollte schon verärgert auflegen, da wurde ihm geantwortet. Es war eine leise Stimme, die er nicht sofort erkannte:

„Jonas! Gott sei Dank. Habe ich dich geweckt?“

„Katharina? Bist du das?“ Jonas konnte es kaum glauben. Warum rief ihn seine Ex-Freundin plötzlich an? Von ihr hatte er doch schon seit einer kleinen Ewigkeit nichts mehr gehört. Er hatte gar nicht gewusst, dass sie überhaupt noch in der Stadt wohnte. „Ist etwas passiert?“, fragte er besorgt nach. Er hatte den flüchtigen Eindruck von kurzen rotgefärbten Haaren, einer lachenden, schlanken Gestalt, die in diesem Schlafzimmer den Tag mit dem Sonnengruß begann. Die Erinnerung tat ein wenig weh.

Katharina zögerte mit ihrer Antwort. „Als erstes muss ich dich fragen: Wie geht es dir heute?“

„Du hast mich geweckt. Was soll ich sagen – ganz gut, eigentlich. Ich hatte nur ein paar wirre Träume.“ Während Jonas das sagte, bereute er es bereits. Bei Katharinas Hang zu allem Okkulten und ihrem Glauben an Wahrträume begab er sich gerade auf ein glattes Parkett. Und richtig, sie antwortete ihm geradezu begeistert:

„Du hast auch geträumt? Erzähl mir.“

„Ach, das Meiste habe ich inzwischen schon wieder vergessen,“ wiegelte Jonas ab und sagte dabei die Wahrheit. Nur noch ein paar bunte Bilder hatte er jetzt noch von seinen Träumen im Gedächtnis und auch sie verschwanden, wenn er sich nicht auf sie konzentrierte. Wie war das? Ein alter Mann und eine Taube und das war noch etwas mit …

Nein! Was ihm eben noch sehr bedeutsam erschienen war, entpuppte sich jetzt sehr schnell als Unfug, den er unmöglich an Katharina weitergeben konnte. „Lass gut sein,“ sagte er und setzte sich aufs Bett, tastete mit den nackten Füßen nach seinen Hausschuhen.

„Und was war gestern Abend mit dir los?“

„Wie meinst du das?“ Einen Pantoffel hatte er gefunden, die Suche nach dem zweiten brach er ergebnislos ab und trat mit dem Hörer am Ohr zum Fenster, um nach dem Wetter zu spähen. Er hatte schon immer Schwierigkeiten gehabt, zwei Dinge gleichzeitig zu tun und lauschte deshalb nur abgelenkt.

„Na, bei Linus. Du warst so komisch und bist dann auch gleich verschwunden. Und was war das für ein seltsamer Kerl, mit dem du unterwegs warst? Dein Vater war das doch nicht.“

„Bei Linus? Den habe ich nicht mehr gesehen, seit ich hier raus aufs Dorf gezogen bin. Ich weiß überhaupt nicht, wovon du sprichst. Ich war gestern brav zuhause und habe ‚Tatort’ gesehen. Du musst mich verwechseln.“ Einen Moment herrschte betretenes Schweigen am anderen Ende der Leitung. Jonas schüttelte den Kopf. Er hatte schon immer gewusst, dass das ganze Esoterikzeug, die Räucherstäbchen und die Jogaverrenkungen nicht gesund waren. Jetzt sah Katharina schon Gespenster.

„Bist du dir sicher?“ fragte sie erstaunt nach. Jonas lachte.

„Brauche ich ein Alibi? Nein, wirklich – ich saß den ganzen Abend im Wohnzimmer vor der Glotze. Rufst du mich nach all den Jahren deshalb an?“ Auch wenn Katharina ein wenig durchgeknallt wirkte – so ganz normal war sie ja noch nie gewesen – war es doch schön, wieder einmal ihre Stimme zu hören und sich an einige Dinge zu erinnern, die ihm einmal viel bedeutet hatten. Deshalb begann er von seinem Vater zu erzählen, dem Archäologen, der vor einigen Jahren so vergesslich geworden war, dass Jonas die Sorge hatte übernehmen und ihn vor sechs Monaten in die Demenzabteilung eines Altersheims hatte einweisen müssen. Dabei verließ er sein Schlafzimmer im ersten Stock und ging, nur mit Pyjamahose und einem Pantoffel bekleidet, die schmale Treppe hinunter in die Küche, um sich einen Morgenkaffee zu machen.

„Wie geht es denn dir?“ fragte er, den Hörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt, während er mit der Kaffeemaschine hantierte. Er hörte Katharina seufzen. Dann hatte sie sich offenbar entschieden.

„Hör zu, Jonas. Ich mache mir große Sorgen um dich. Ich kann das nicht näher erklären, aber ich spüre, dass da etwas vorgeht und es mit dir zu tun hat. Du weißt, ich habe dafür ein besonderes Organ.“ Das wusste Jonas nicht, das heißt, ihm war bekannt, dass sie sich einbildete, ein Katastrophenfrühwarnsystem zu besitzen, aber er unterbrach sie nicht. „Seit Tagen habe ich diese Unruhe; du gehst mir nicht aus dem Kopf, obwohl ich schon so lange nicht mehr an dich gedacht habe. Ich habe auch Träume… seit kurzem. Es sind unheimliche Dinge, die ich da erblicke: Immer bist du in Gefahr und immer liegt es an mir, dich zu retten.“ Jonas schaltete die Kaffeemaschine an und setzte sich an den Küchentisch. Abgelenkt schob er ein kleines schwarzes Notizbuch zur Seite, eines wie jene, in denen er seine Redeentwürfe skizzierte und von dem er im Moment nicht wusste, wie er hierher gekommen war.

Traum 2-6

‚Aber mir geht es gut,’ wollte er einwerfen, doch seine ehemalige Freundin ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Und was war das gestern bei Linus? Wir haben miteinander geredet und jetzt erzählst du mir, du wärst gar nicht dort gewesen. Jonas, was ist los?“

„Ich weiß wirklich nicht, was du meinst. Vielleicht habe ich einen Doppelgänger.“ Er lachte bei dieser Vorstellung kurz auf, spürte aber trotzdem ein Unbehagen, das er nicht eingrenzen konnte. Katharina hörte sich wirklich besorgt an. Aber sie schien langsam zu resignieren.

„Weißt du, das zwischen uns war schön, wir hatten eine Bindung, die über das Normale hinausging, eine tiefe Verwandtschaft, aber es ging eben nicht…“ Jetzt war es an Jonas, zu seufzen. Er hoffte, das Geräusch würde vom Telefon nicht übermittelt, den er wollte seine Freundin nicht kränken; schließlich klang ihre Sorge um ihn sehr aufrichtig und ein wenig schmeichelte sie ihm auch. „Aber das ist alles schon so lange her,“ fuhr sie unbeirrt fort, „und ich habe das Kapitel auch schon lange abgeschlossen. Da muss es mir doch zu denken geben, wenn du dich plötzlich so heftig in meine Träume mischt und ich auch tagsüber immer wieder voller Angst an dich denken muss. Und dann begegnest du mir tatsächlich auf Linus’ Fest und redest wirres Zeug, als hättest du Drogen genommen. Plötzlich verschwindest du wieder mit dieser Ärztin – das muss dir doch auch zu denken geben!“ Ärztin? Was war denn das schon wieder? Jonas wusste nicht, was er erwidern sollte und versuchte sich an ein paar beruhigenden Floskeln. Katharina unterbrach ihn sofort.

„Tu mir einen Gefallen, ja? Geh zu Linus. Besuche ihn noch heute. Vielleicht glaubst du mir dann. Er würde sich wahnsinnig freuen, das weiß ich. Wirst du das tun?“

Jonas stimmte sofort zu. Das erschien ihm tatsächlich eine gute Idee zu sein, allerdings nicht aus den Gründen seiner alten Freundin, die er für arg überspannt hielt. Aber er hatte in der Tat plötzlich Lust, nach so vielen Jahren mal wieder seinen Freund zu besuchen, den Künstler, mit dem ihn während seiner Studienzeit so viel verbunden hatte. Wenn enge Freunde sich eine Weile nicht mehr treffen, wird es beinahe von Tag zu Tag schwieriger, mit dem anderen in Kontakt zu treten; man schämt sich, hat ein schlechtes Gewissen, denkt, der andere könne sich schließlich auch mal melden und überhaupt – nächste Woche rufe man ihn unbedingt mal wieder an. Man legt sich schon die Worte zurecht und hofft auf eine Zufallsbegegnung, die allerdings nie kommt. Und über diesen zyklisch auftauchenden Gedanken vergeht die Zeit und die Mauer, die ein Zusammenkommen verhindert, wird in den Jahren immer höher, bis es dann so weit kommt, dass ein doch noch zustande gekommenes Treffen nach ein paar peinlichen Worten und der Versicherung, sich wieder zu treffen, endet.

Jetzt schenkte ihm Katharina einen Grund, Linus Binderseil aufzusuchen. Er hatte nicht gewusst, dass sie die Beziehung zu seinem Freund nach der Trennung noch gepflegt hatte. Diese Gelegenheit durfte er nicht ungenutzt verstreichen lassen. Die Kaffeemaschine hatte ihre heiße, dunkle Last in die Glaskanne getropft und meldete sich mit einem anklagenden, röchelnden Ton.

„Kathi …,“ zögerte Jonas.

„Ich weiß. Ich ruf dich morgen wieder an. Um die gleiche Zeit, ja?“ Und entschlossen legte sie auf. Jonas wog nachdenklich den Hörer und wollte ihn gerade auf den Tisch legen, als es erneut klingelte. Er drückte die Annahmetaste.

„Katharina? Was ist denn noch?“, fragte er. Doch diesmal hörte er eine andere, bedrohlich flüsternde Männerstimme, die ihm vollkommen unbekannt war.

„Ich warne dich. In diesem Spiel wird es Sieger geben. Doch du wirst verlieren.“

„Bitte? Ich glaube, Sie haben sich verwählt.“

„Du kannst nicht gewinnen. Vergiss nicht, Abakoum: Ein Gedanke kann dich töten wie ein Messerwurf.“

„Aber … Abakoum? Bist du das, Linus? Hallo?“ Am anderen Ende wurde aufgelegt. Jonas hörte die Stille. Sie dröhnte in seinen Ohren.

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