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Aber ein Traum Literatur Roman

Aber ein Traum – Roman (2. Kapitel – Teil 4)

Als schließlich die Nacht des 21. Juni anbrach, nach einem verregneten Tag, den ich wartend in meinem Zimmer verbrachte, konnte ich zuerst vor Aufregung nicht einschlafen. Kolja war zu mir ins Bett gekrochen und wollte mich nicht verlassen, spürte meine Angst. Ich klammerte mich an ihn, dachte, wenn ich mich gegen den Wechsel wehrte, einfach wach liegen blieb, dann würde er vielleicht nicht stattfinden. Ruben erzwang ihn dennoch. In einem Augenblick war ich noch hier, zwinkerte und fand mich im nächsten in einen dunklen, engen und muffigen Raum gestürzt, dessen Konturen sich mit der Schwärze der kurzen Nacht verwischten. Gegenstände lagen herum, die ich nicht bestimmen konnte, weil durch die hohen Fenster und die zugezogenen löchrigen Vorhänge nur unzureichender Mondschein eindrang. Ich war nicht allein. Vor mir stand aufrecht ich selbst, von dem schwachen Licht erleuchtet. Mir war schwindlig und ich versuchte, nach mir zu greifen, mich zu mir herabzuziehen; ich wollte um meine Welt kämpfen. Doch mein fremdes Ich trat nach mir, traf, auch wenn es mir überraschenderweise nicht weh tat, mein Gesicht. Ich wurde trotzdem von der Wucht des Tritts zurückgeschleudert, fiel halb auf die Seite. Aber noch wollte ich nicht aufgeben, denn mein Gegenüber gab sich – anstatt nachzugeben – eine zögernde Blöße, fasste mit beiden Händen in sein Gesicht, als wäre es und nicht ich dort verletzt. Ich sprang in die Hocke und aus dieser heraus nach vorn, klammerte mich an Rubens Unterleib fest und brachte uns beide zu Fall. Mein Feind fiel auf den Rücken und keuchte. Das war der erste Laut, der unser bis dahin stummes Ringen unterbrach. Die Situation weiter ausnutzend, setzte ich mich auf ihn und rang ihn nieder, meine Hände an seinen Handgelenken, brachte ich meinen Mund ganz nah an sein Ohr. Etwas war falsch und ich wusste gleichzeitig, was es war. Ich rang nicht mit einem Zwillingsbruder, den gab es gar nicht – ich rang hier mit mir selbst, mit einer Kopie meines Ichs. Der böse Zwilling war nur eine Konstruktion. Der dort, mein anderes Ich von jenseits der Mauer der Wirklichkeit, der mir eben gefühllos ins Gesicht getreten hatte, blutete an der Stirn, genau an der Stelle, an der sein Fuß mich getroffen hatte. Freilich hatte auch er – Ich! – diese plötzliche Erkenntnis, war von ihr ebenso überrumpelt. Er reagierte schnell, bäumte sich auf: Ich konnte ihn nicht unter mir halten, denn wir waren gleich schwer. Er warf mich unwillig ab, verscheuchte mich wie eine lästige Fliege. Bevor ich handeln konnte, lag ich am Boden und nun er kauerte auf mir, hob eine Faust, um nach mir zu schlagen, ungeachtet dessen, was ihm dabei geschehen würde.

Ich schrie und riss die Augen auf. Ich lag auf meiner Matratze, starrte zur Decke, hektisch atmend. Der Hund war nicht in der Nähe. Ich muss wohl tatsächlich geschrien haben, denn mein Vater stand plötzlich im Zimmer neben meinem Bett, er war vollständig bekleidet, mit Jackett und Krawatte, wahrscheinlich trug er sogar seine glatten, dunklen Schuhe, die er in Italien maßschneidern ließ. Ich kann mich nicht erinnern, ihn einmal in einem Hausdress, oder, egal bei welcher Temperatur, auch nur hemdsärmlig gesehen zu haben, auch nicht jetzt, mitten in der Nacht. Hatte er überhaupt geschlafen? Er sah auf mich herab, zögerte einen endlosen, schrecklichen Augenblick, bis er emotionslos feststellte:

„Du blutest.“ Das war nicht mein Vater, ein Fremder spielte ihn mit perfekter Maske. Mein anderes Ich hatte mich besiegt: Ich war wieder dort.

Meine Gefangenschaft in der anderen Welt dauerte diesmal die sieben Ferienwochen, in denen ich wegen meiner – seiner – schlechten Französischnoten in ein Internat geschickt wurde, das recht idyllisch an einem kleinen See in den Schweizer Alpen lag. Das war ein Glück, denn das Exil war leichter zu ertragen, wenn ich nicht von den entsetzlichen Karikaturen meiner Familie umgeben war. Nachdem man im Internat bemerkte, dass meine Sprachkenntnisse durchaus angemessen waren, ließ man mir dort viel freie Zeit, die ich für ausgedehnte Wanderungen in die Bergdörfer und zu anderer körperlicher Ertüchtigung nutzte. Obwohl ich kein Eigenbrötler bin, mied ich den engeren Kontakt zu Mitschülern und Lehrern, denn ich wollte ja in dieser Welt nicht heimisch werden. Ich suchte die Einsamkeit der Bergwelt, denn ich hatte viel nachzudenken. Eines war mir nach der Traumbegegnung klar: Ruben war zwar eine andere Ausgabe meines Ich, aber es gab trotzdem Punkte, an denen wir uns auseinander entwickelt hatten, trotz gleicher Anlagen und nahezu deckungsgleichem Milieu. So sprach er ja wesentlich schlechter Französisch als ich, war überhaupt ein schlechterer Schüler, dafür aber handwerklich um einiges geschickter. Wo ich in meinem Zimmer ein Bücherregal und mithilfe eines Korbsessels und eines kleinen Tisches eine Leseecke hergerichtet hatte, stand bei ihm eine Werkbank, auf der sich elektronische Bauteile und Profiwerkzeuge stapelten. Er war unordentlicher als ich, trug sein Haar etwas kürzer; ich kaute im Gegensatz zu ihm an den Fingernägeln.

Der Hauptunterschied jedoch war ein innerer – er liebte niemanden, denn das war, ich habe es schon erwähnt, das Kreuz der Welt, die der meinen so glich. In seiner gab es keine Liebe. Sie war nur vorgetäuscht. Ruben besaß keinen Hund, keine Freunde und auch keine Erzieherin, deren Anwesenheit allein ihm den Tag erhellen konnte. Er war ein bemitleidenswerter Gefangener eines kalten, sterilen Universums, das nach den gleichen, starren Prinzipien funktionierte wie die Schaltkreise, die er an seiner Werkbank lötete. Sie funktionierten, wie man es erwartete, waren exakt berechenbar, aber unbeseelt. Ich meine, eine perfekte Simulation von Gefühl ist noch keines, oder?

Als ich all das erkannt hatte, entschloss ich mich, die Unterschiede zwischen uns zu vergrößern, mich von meinem anderen Ich zu entfremden – innerlich wie äußerlich. Das begann damit, dass ich trainierte und mich für unsere nächste Begegnung körperlich fit machte. Ich kratzte mir jeden Morgen den Schorf von der Stirn, wo mir sein Fußnagel die Haut aufgerissen hatte, denn ich wollte eine Narbe behalten. Zugleich vertiefte ich meine Kenntnisse. Ich absolvierte in den knapp sieben Wochen ein mir heute im Rückblick kaum fassliches Lesepensum. Völlig willkürlich und unreflektiert fraß ich mich quer durch die Literatur- und Philosophiegeschichte und das auch noch auf Französisch, denn es gab keine deutschen Bücher in der Internatsbibliothek. Es ist begreiflich, wie wenig ich verstand und das meiste davon auch falsch – was kann man auch von einem Vierzehnjährigen erwarten, der Dumas, Descartes und Dostojewski, Dante, Durkheim und Doc Savage durcheinander liest, weil ein alphabetischer Zufall sie im Regal zusammen geführt hatte? Aber eine Grundlage wurde gelegt, auf der ich aufbauen konnte. Diese orgiastischen, naiven Leseerlebnisse am Beginn der Pubertät können später nie mehr wiederholt werden. Sie sind eine glückliche, ferne Erinnerung – wohl dem, der sie erlebt hat.

Durch die Lektüre wurde mir noch ein Problem bewusst, das mir Rubens und meine Welt aufwarfen: Es war der freie Wille. Hier in der Kopie gab es ihn ganz offensichtlich nicht. Die kleinen Pausen in den Gesprächen waren vielleicht dadurch zu erklären, dass die Kopien den Antworten der Originale lauschten und sie dann wiederholten. Aber wenn es so war, woher kamen dann die kleinen Abweichungen im privaten Bereich, die diese Welten unterschieden? Nicht nur Ruben und ich hatten uns auseinander entwickelt. Ich erklärte es mir so: Die Welt meines zweiten Ich war erst bei unserer Geburt entstanden und in dieser Geburtsstunde war sie eine vollkommene Kopie. Aber dann trennten sich die Wege, entwickelten sich selbständig. Die Ähnlichkeit war deshalb noch so groß, weil allein Ruben Einfluss auf die Dinge nahm. Er war hier die einzige Person mit freiem Willen, denn diese Welt existierte nur wegen ihm. Er mochte keine Hunde, hatte keine Begabung für Sprachen – kleine Dinge nur, aber sie wirkten wie ein Stein, der in die bewegungslose Wasserfläche eines Sees geworfen wird. Von einem Mittelpunkt kommend breitet sich eine Welle aus.

Wie sie ging, diese Schöpfung aus dem Nichts und ob tatsächlich Ruben ihr Demiurg war, weiß ich nicht. Heute denke ich, aber das ist nur eine kühne metaphysische Anmutung, die mehr Faust als Schopenhauer meint – dass Ruben selbst mit seinem Geburtsschrei, seinem Willen zum Sein, diese seine Realität schöpfte, sie schaffen musste, damit er überleben konnte. Ohne dass es ihm selbst bewusst war, war er Herr und Gott seiner Travestie der Wirklichkeit. Er war der Treibstoff, der ihren Motor in Bewegung hielt und wenn er mit mir den Platz wechselte, fehlte das Benzin, der Motor stotterte und lief Gefahr, abzusterben. Die Bewegungen wurden langsamer und die Pause zwischen den Sätzen länger.

Und noch ein Gedanke: Wenn ich Rubens Platz übernahm, dann war ich die einzige Person mit einem freien Willen in seiner Welt. Ich musste also in der Lage sein, nicht nur mich zu verändern, sondern auch meine Umgebung zu manipulieren, ihr diesen meinen Willen aufzuzwingen. Ich kam selbstverständlich erst auf diesen Gedanken, nachdem es mir durch Zufall gelungen war, etwas zu ändern. Ich weiß den Moment noch genau: Ich saß im Speisesaal des Internats vor einem ungenießbaren Teller Rahmsuppe, geschmacklos und fade wie jede Speise dort und starrte in das traurige Schlammgrün, in dem ein paar Gemüsestücke schwammen. Ich konzentrierte mich ganz auf meinen Widerwillen, als ich eine Bewegung in der Flüssigkeit wahrnahm, als würde jemand von unten gegen den Tisch schlagen. Aber da war nichts, alles war ruhig, ich habe sogar nachgesehen. Trotzdem bewegte sich der Teller, wie von einem Poltergeist berührt rückte er ein paar Zentimeter hin und her, als würde er mein verwundertes Kopfschütteln imitieren. Bei jeder seiner Kehrtwendungen verschüttete sich etwas von der Suppe.

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Ich sah mich um. Um mich herum im Speisesaal ging alles seinen gewohnten Gang. Vierzig, fünfzig Schüler rührten in ihr Schicksal ergeben in ihren scheußlichen Suppen, niemand wurde auf meine ‚Telekineseversuche’ aufmerksam oder sah auch nur von ungefähr in meine Richtung, auch die aufsichtsführenden Lehrkräfte nicht. Lag diese Bewegung des Tellers wirklich an mir? War mein Wille ihre Ursache? Ich schob einen Zeigefinger unter den Tisch und malte mit ihm einen Kreis unter die Platte, dann immer kompliziertere Muster. Der Suppenteller folgte, als wäre mein Finger ein starker Magnet und er selbst nicht aus Porzellan, sondern aus Eisen. Ich beschäftigte mich eine ganze Weile mit meinem neuen Spiel, das mir, ich gestehe es ein, selbstverständlich eine gewaltige Freude bereitete. Wer will im Alter von Vierzehn keine Superkräfte? Plötzlich schien mir eine Karriere wie die von Doc Savage in greifbarer Nähe. Eine Welt der Abenteuer wartete auf mich. Ich weitete meine Versuche auf kleinere Gegenstände in meiner Nähe aus: Salzfässchen und die unvermeidliche Flasche Maggi an den Nebentischen, Gabeln, Messer, Löffel, alle gehorchten meinem Willen und sorgte für erhebliche Unruhe unter den anderen Schülern. Mit etwas Konzentration gelang es mir sogar, meinen Stuhl und den Tisch, an dem ich saß, zum Wackeln und Rutschen zu bringen. Was in meiner Welt nur ein Taschenspielertrick von Geistersehern und sogenannten Parapsychologen ist, gelang mir auf Rubens Seite tatsächlich: Ich konnte meine Umgebung allein mit der Kraft meiner Gedanken manipulieren! Wie weit mochten meine Möglichkeiten wohl noch gehen?

Übermütig geworden, riss ich wie ein Magier die Arme in die Luft und wirklich: Auf allen Tischen im Saal gehorchten die Teller der Aufforderung des Zauberlehrlings, sprangen gut einen Meter in die Höhe, wackelten dort in dem von mir als Dirigenten vorgegebenen Takt hin und her und fielen dann laut scheppernd wieder herab, als ich meine Arme abrupt senkte. Ich erzeugte dadurch einen ungeheuren Aufruhr. Teller zersprangen, überall spritzten Suppenschwaden durch die Luft und verwandelten den Saal in ein dampfendes Chaos, in dem sich Ausrufe des Erstaunens mit den Schmerzensschreien derer vermischten, die den heißen, fetten Gemüseschleim abbekommen hatten. Nur ich selbst, der Verursacher, konnte still und vergnügt den Aufruhr um mich genießen; saß im Sicheren mitten im Auge des Taifuns. Dann stand wie aus dem Boden gewachsen plötzlich ein Lehrer neben mir, sah kopfschüttelnd auf meinen Tisch, auf dem als einzigem der Teller noch auf seinem Platz stand und nur ein Weniges an Suppe verschüttet war. Er musterte mich streng, zögerte kurz, sagte anschließend mit monotoner, emotionsloser Stimme, die nur ein leichter Anklang von Dialekt und Vorwurf färbte: „Ruben Waldescher, ich weiß absolut nicht, wie du das gemacht hast und wahrscheinlich will ich es auch nicht wissen…“, er machte eine längere Pause, in der er sich damit beschäftigte, seine Augenbrauen immer höher in die Stirn zu schieben und gleichzeitig mit dem Kopf nach hinten zu gehen, bis er endlich seinen typischen Lehrersatz beendete, „…aber ich weiß, dass du hierfür verantwortlich bist. Das sehe ich dir an der Nasenspitze an.“ Er machte eine ausladende Geste und dann wartete er einfach auf eine Reaktion von mir, mich weiterhin scharf unter seiner Brille hindurch fixierend. Zwischen uns beiden war es sehr still, während um uns herum Bewegung und Stimmengewirr brodelten.

Und da wünschte ich es mir eben! Man kann mich dafür verdammen, aber ich war nur ein Junge, der kaum in die Pubertät gekommen war. Ich wünschte mir, dieser Lehrer, der mich durchschaut hatte, möge endlich verschwinden und mich für immer in Ruhe lassen. Ich konnte seinen anklagenden Blick keine Sekunde länger ertragen, ohne in die Knie zu sinken und alle Sünden dieser Welt zu beichten. Mein Wunsch ging sofort in Erfüllung. So einfach war das hier: Es geschah nichts Spektakuläres. Der Lehrer war sofort weg, als hätte es ihn nie gegeben. Im einen Augenblick stand er noch neben mir und musterte mich finster in seiner überlegenen Haltung puritanischer Rechthaberei, zuversichtlich auf mein Schuldeingeständnis wartend; nach dem nächsten Wimpernschlag war er weg, aus der Welt radiert wie ein flüchtiger Rechenfehler im Matheheft. Wie ich später feststellte, war das wirklich so. Vorsichtige Nachfragen ergaben, dass es diesen Lehrer nie an dem Schweizer Internat gegeben hatte. Ich hatte ihm im Wortsinn ‚ausgelöscht’. Ich war der Mann aus Bronze.

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