Kapitel 4 – Teil 6

Mit meinem Hustenanfall verging das Gefühl von traumhafter Unwirklichkeit, auch wenn der neben mir kauernde Mann einer anderen Welt entsprungen schien oder besser gesagt, einer anderen Zeit. Denn mein Retter trug über einer leichten Lederrüstung und einem abgenutzten Waffenrock einen schmutzigen, einstmals weißen Überwurf, den ich zuerst für die Tracht eines Wüstenbewohners gehalten hatte. Aber vorne auf dem dünnen Stück Stoff, mitten auf seiner Brust, prangte unübersehbar ein großes rotes, an den Kanten etwas ausgefranstes Kreuz, das sogenannte Tatzenkreuz der Templer, das dann später der Malteserorden übernommen hat. Das war ein Anblick, dem man im modernen Judäa eher selten begegnete. Ich rieb mir über die Augen. Dieser Mann war doch tatsächlich wie ein Tempelritter aus dem zwölften Jahrhundert gekleidet! War mein Retter geisteskrank oder wurde in der Nähe ein Kreuzfahrerfilm gedreht? Die Ausstattung sah erstaunlich echt und lange getragen aus. Eher wollte ich vermuten, dass ich doch einen Hitzeschlag hatte und mir mein Gehirn diesen mittelalterlichen Ritter vorgaukelte.

Ich richtete mich nun selbst auf und packte mit beiden Händen den Schlauch des als Templer Maskierten, trank so lange in gierigen Schlucken, bis er den nun fast leeren Lederbehälter mit sanfter Gewalt wieder an sich nahm. Er hatte die ganze Zeit in seinem kaum verständlichen Kauderwelsch auf mich eingeredet, schwieg aber nun und schätzte meine Kleidung ebenso neugierig ab, wie ich die seine musterte. Er hatte ein offenes, von der Sonne verbranntes Gesicht mit erstaunlich hellen, durchsichtigen Augen und trug einen unordentlichen, bereits mit grauen Haaren vermischten rötlichen Vollbart. Seine schmale Nase lag dabei so flach, dass sie im Profil kaum auszumachen war. Das Haupt verbarg er unter einer Art Palästinensertuch, das um einen spitzen Helm gewunden war. ‚Das ist ein Sarazenenhelm‘, fiel mir ein. Ich hatte so etwas wie auch die restliche Kleidung des Ritters schon so häufig auf Abbildungen gesehen, dass mir seine Kleidung nicht so fremd schien wie ihm offenbar die meine.

Er deutete auf mich und sagte etwas, in dem mir nur die Wörter Outremer, Tedeschos und, wie faszinierend, Sala addin, also ‚Saladin‘, einigermaßen verständlich waren. Dann schlug er mit einer großen Geste auf das rote Kreuz auf seiner Brust und neigte grüßend den Kopf.

Io nome est Siere Ludger de Cloterny, io son le Maestre da Rocco Akkon…“ Es war mir nicht möglich, mehr als nur ein paar Brocken seines babylonischen Sprachenwirrwarrs zu verstehen. Er klang mir nach einer halbgaren Mischung aus den verschiedensten romanischen Sprachen und einem späten Küchenlatein. Ich war auch nicht in der Verfassung, mich meiner lateinischen und italienischen Sprachkenntnisse zu besinnen. So war das einzige, was ich aus dem Wortschwall heraushörte, dass sich mein Retter „Ludger“ nannte, sich als ehemaligen Kreuzfahrer sah und damit seiner Legende treu blieb. Ich antwortete ihm auf deutsch, während er mir unter die Schulter griff und mir aufhalf, nannte ihm meinen Namen und bedankte mich für die Rettung. Verblüffend – sofort wechselte der Mann ebenfalls in ein leicht schwäbisch gefärbtes Deutsch. Damit war mir klar, dass ich durchaus nicht im Zeitalter von Richard Löwenherz gelandet war. Trotzdem, ein Unbehagen blieb und er beharrte standhaft auf seiner Geschichte:

Das erklärt einiges“, sagte er und stützte mich, weil ich recht wacklig auf meinen Beinen stand, „ihr seid aus dem Reich. Kamt ihr mit Friedrich Rotbart ins Outremer gezogen? Der Herr sei seiner Seele gnädig. Et expecto resurrectionem mortuorum, et vitam venturi saeculi. Amen.“ Er bekreuzigte sich umständlich, dann lächelte er: „Oder wandert ihr auf Pilgerpfaden gen Jerusalem? Die Festung Montjoie steht auf einem anderen Berg. Ihr seid weit ab von eurem Weg.“

Wenn ich auf das Spiel des vermeintlichen Ritters einging, was ergab sich daraus? In welcher Zeit war ich dann gelandet? Ludger hatte Friedrich Barbarossa erwähnt. Der deutsche Kaiser war auf dem dritten Kreuzzug verunglückt. Wann war das, 1170, 1180? Ich rekapitulierte, was ich von meinen lange zurückliegenden Geschichtsvorlesungen noch wusste. Das Mittelalter hatte mich nie so fasziniert wie die Antike; es ist eine dunkle, primitive Welt, ein tausend Jahre währender, blutiger und bitterer Rückschritt in der Menschheitsgeschichte, den allein das Christentum zu verantworten hat. Eine in ihren Dimensionen kaum überblickbare, gigantische Schuld vor den Menschen, der Natur und Gott, die es bis heute nicht gesühnt, ja, sich nicht einmal dazu bekannt hat.

Palästina war im 12. Jahrhundert in den Händen des Sultans Saladins, des al-Malik an-Nasir, ebenso Ägypten und Syrien. Löwenherz eroberte während des dritten Kreuzzugs die Küstenstädte Akkon und Jaffa zurück, musste Jerusalem allerdings den Sarazenen überlassen. War nicht der französische Kaiser ebenfalls in diese äußerst blutige Auseinandersetzung verwickelt? Wie hieß er noch? Ein paar Namen und Daten schwirrten in meinem Kopf. Ach Jonas, das Alter ist ein grausamer, hässlicher Ort: Wenn ich nur daran denke; es ist so frustrierend, wie viel ich schon einmal gewusst und dann wieder vergessen habe. Guy de Lusignan und Konrad von Montferrat, die legendären Könige von Jerusalem, Berhard von Clairvoux, Papst Gregor oder war es schon Urban? Der Alte vom Berge und seine Assassinen… Ivanhoe, Robin Hood.

Ich wusste über diese Zeit so wenig, dass ich unmöglich in meiner eigenen Fantasie oder aber einem Traum gefangen sein konnte. Also blieben nur zwei logische Möglichkeiten: Dieser Ludger log das Blaue vom Himmel herunter oder er war komplett irre. Aber er hatte mir das Leben gerettet und war der einzige Mensch, der mir in der Gluthitze dieses Tafelberges zur Hilfe gekommen war. Da durfte ich nicht wählerisch sein. Mit seiner Unterstützung würde ich bestimmt wieder zurück in die Zivilisation finden; schließlich musste der Mann ja von irgendwo her kommen und ein Ziel haben. Niemand machte einfach einen Ausflug hier oben, so verrückt konnte auch kein Mann sein, der sich für einen Tempelritter hielt.Und er hatte sich perfekt für seine Rolle vorbereitet, das musste ich ihm lassen.

Der Kreuzfahrer wartete kurz und mich neugierig musternd auf eine Antwort von mir. Als von mir keine kam, deutete er schulterzuckend nach hinten, wo tatsächlich nicht weit entfernt ein Pferd und ein bepacktes Muli bereitstanden und mit ihren Schnauzen vergeblich den Wüstensand nach ein paar trockenen Gräsern durchwühlten. Der mitleiderregend dünne Falbe, dessen Widerrist kaum höher als der eines Ponys war, trug einen Umhang mit dem Templerkreuz über der Kruppe, einen hohen Sattel, daran befestigt Steigbügel, die wie Metallschuhe geformt waren und einen schweren eisernen Schutz über dem Mähnenkamm.

„Komm, ich bringe dich an einen sicheren Ort. Dort können wir reden. Aber erst einmal müssen wir dich vor der Sonne schützen, mein armer Freund, sie leckt dir sonst den Verstand aus dem Kopf.“ Ludger fasste mich entschlossen unter der Schulter und ging mit mir die wenigen Schritte zu seinem Pferd, gegen dessen Flanke er mich vorsichtig lehnte. Das Tier wand interessiert den Kopf und schnaubte mir ins Gesicht.

„Wird es denn gehen?“ fragte er. Ich nickte zuversichtlich, obwohl mir bei dieser Bewegung schwindlig wurde. Ludger kramte in seiner Satteltasche und beförderte ein langes, schmales Tuch und eine kleine elfenbeinerne Dose ans Tageslicht. Aus dem Tuch formte er mir mit schnellen, geschickten Griffen eine improvisierte Kopfbedeckung und band sie mir um den Kopf.

„Die Salbe hilft gegen die Sonnenröte, sie brennt ein wenig beim Auftragen. Aber dann kühlt sie“, erläuterte er, während er das Döschen öffnete und zwei Finger von einer scharf riechenden Salbe nahm, die er mir dick auf den Wangen und auf der Nase verstrich. „Sie hat mir die here Frouw Edaine gemischt. Sie…“

„Edaine? Vater!“ Jonas biss sich sofort auf die Lippen, aber er hatte seinen erstaunten Ausruf nicht unterdrücken können. Er hatte den alten Mann mitten in seiner merkwürdigen Geschichte unterbrochen und diesmal setzte er sie nicht mehr fort. Georg Habakuk verstummte sofort, aber er sah nicht zu seinem Sohn hinüber. Nach einem kurzen Moment, in dem er verwirrt an sich herabsah, begann er mit seiner Linken, an seinem Sicherheitsgurt zu kratzen, der ihn offenbar störte. Obwohl er noch angeschnallt im Beifahrersitz saß und die Tür des Autos geschlossen war, versuchte er dann, sich aufzurichten, was ihm freilich misslang. Aber er versuchte es erneut und dann noch einmal, strengte sich immer mehr dabei an, stieß sich dabei mit den Füßen ab und stemmte sich mit durchgebogenem Rücken gegen den Gurt. Er wirkte auf seinen Sohn wie ein gefangenes Tier und er beeilte sich, ihn von der Fesselung zu befreien. Das half. Er beruhigte sich sofort und blieb nun sitzen.

„Wir gehen jetzt ins Bad“, sagte der Demenzkranke für sich und wiederholte seine Worte wie ein fröhliches Mantra. „Wir gehen ins Bad. Mein Sohn und ich. Wir gehen ins Bad.“

Jonas gab sich geschlagen, startete den Motor seines Wagens und reihte sich wieder in den Verkehr der Straße ein. Er hoffte, dass ihn nicht die Polizei wegen seines nicht angeschnallten Beifahrers anhielt.

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