Tradition – Teil 3 (Erzählung)

9 Den ganzen Tag saß ich und lauschte. Ich begriff endlich, was sich zugetragen hatte. Wie wichtig doch dieses Wort ich war. Ich entschloss mich, alles aufzuschreiben und suchte nach Papier und einem Stift.

Der Hund störte mich in jener Nacht sehr. Ich habe ihn getötet. Er war ein Mahnmal, das ich nun vergessen will wie diese Welt, die sich so wichtig macht.

Habe ich schon Stirb beschrieben? Das fällt mir schwer. Obwohl er so ruhig ist und sich langsam bewegt, kann ich ihn kaum fassen. Er verschwimmt mir, wenn ich mich durch ihn hindurch im Spiegel betrachte. Das Draußen hat ihn geprägt. Stirb ist jung und fast einen Kopf kleiner als der Alte. Aber sein Körper ist stämmig und massiv, verwurzelt mit dem Boden. Sein Schädel ist kantig und roh geschnitzt, sein Gesicht von seiner Sonne gebräunt. An den Wangen und den Händen ist die Haut schorfig, einige Blasen sind aufgeplatzt. Aber diese Wunden werden heilen. Das Dämmerlicht der Wohnung wird ihm die bleiche Larve des Alten schenken. Seine Kleidung ist fleckig und zerrissen. Es trägt einen verblichenen Overall mit vielen Taschen, in denen er ungezählte Dinge versteckt hält.

Ist diese Aufzählung von Äußerlichkeiten schon Stirb? Ist Stirb nur Äußerlichkeit, eine Hülle? Stirb ist noch am Anfang. Aber er hat etwas in seinem Blick. Auch wenn sie schon viel zu viele Dinge gesehen haben, sind die Augen von Stirb klar. In ihnen findet sich bereits Wissen, eine Form der Erkenntnis. Viele der Dinge, die ihm der Alte an diesem Tag und in dieser Nacht sagte, hat er bereits vorher erahnt. Die Gleichnisse erschienen ihm wie das Wiederhören eines einst auswendig gelernten Gedichtes. Manchmal wusste er die Worte des Alten bereits im Voraus. Er hätte den Satz beenden können.

Stirb erhob sich nur selten, während der Alte sprach. Einmal ging er in eine Zimmerecke, um nach Papier zu suchen, einmal öffnete er gedankenverloren einen Wandschrank, der seinem scharfen Auge bislang entgangen war. Aber die restliche Zeit hockte er in seiner unbequem verkreuzten Beinhaltung auf dem Tisch. Er spielte mit seinen langen Fingernägeln an den hellen, abgeschabten Flecken der Tischplatte. Dabei lauschte er konzentriert und angespannt, erwartungsvoll. Der Alte hatte viel zu erzählen. Vieles wusste er, manches vermutete er, etliches erfand er neu. Inzwischen hatte er erkannt, dass er sicher war, solange er nur redete. Daher erzählte er ausführlicher als nötig von den Dingen, die diese Wohnung mit ihren verrottenden Überbleibseln ausfüllten. Er sprach von Toten, von ihren Sorgen, ihren Lösungen oder ihrem Scheitern. All das hörte sich für Stirb so fremd wie ein Märchen an. Der Alte erzählte von einer Welt, die es nicht mehr gab.

Ich kann nicht alles aufschreiben, was der Alte an diesem Tag gesagt hat und es damit der Zerstörung übergeben. Es ist einfach zu viel. Ich muss es in meinem Kopf aufbewahren und mir jeden Tag wiederholen. Meine Rechte schmerzt bereits. Sie ist ja noch ungelenk. Es bereitet ihr große Schwierigkeiten, den Stift zu halten. Aber ich habe mir alles gemerkt. Ich kann wiederholen und es einmal weitergeben. Auch wenn dies noch lange dauert.

Und so wurde der Lärm auf Erden größer.

10 Es wurde Nacht. Der Alte schwieg erschöpft. Er kippte einfach zur Seite, fiel zurück auf sein Bett. Mit Mühe gelang es ihm noch, die zitternden Beine in die Höhe zu ziehen und sich auf den Rücken zu legen. Sein Atem pfiff krank. Lange lastete bewegungslose Ruhe in dem dunklen Zimmer. Stirb überlegte. Er wiederholte im Geist die wichtigsten Sätze, die er gehört hatte. Plötzlich lächelte er wieder. Er stand leise auf und ging ins Beerdigungszimmer. Dort entzündete er das kahle Deckenlicht, suchte sich nahe an der Wand eine Stelle, die noch nicht zum Grabhügel aufgeworfen war. Hier grub er mit den Händen. Es entstand ein kleines Loch. Stirb wusch sich anschließend sorgsam die Hände in der Küche, kehrte zurück und nahm den dünnen Band, den er im Spiegelzimmer entdeckt hatte, aus dem Overall.

Stirb las erneut ein paar Verse. Einen oder zwei von ihnen sprach er sehr laut und deutlich, um ihren Reimfluss zu genießen. Danach legte er das Buch, das er nun nicht mehr benötigte, in die kleine Grube und verscharrte es sorgfältig. Befriedigt klopfte er seine Hände aneinander ab, dann trampelte er die Erde fest. Ihm war wieder zum Lachen zumute. Das Gelächter drang ihm lauthals aus der Kehle. Stirb war zufrieden. Alles war gut, nur eines noch zu erledigen.

Er trat wieder in die Küche und suchte in den Schubladen der Schränke. Sie waren leer. Der Alte hatte vorgesorgt. Also brach Stirb eine schwere Holzlatte aus einem Schrank heraus. Mit ihr bewaffnet kehrte er zurück ins Schlafzimmer, legte sie jedoch auf den Tisch. Ein Gefühl sagte ihm, er müsse noch warten.

Kurz wand er seine Aufmerksamkeit dem Alten zu. Dieser hatte sein nächtliches Spiel aufgenommen, er starrte fasziniert auf sein steifes Geschlecht. Stirb zuckte mit den Schultern. Um sich die Langeweile zu vertreiben, probierte er ein paar Wandtüren aus. In einige Gänge trat er, untersuchte umständlich die seltsamen Gegenstände, die er fand. Schließlich entdeckte er einen wuchtigen Schrank. Abgestandene Luft schlug ihm beim Öffnen entgegen. Der Schrank schien leer und ausgeräumt. Er wollte ihn bereits wieder schließen, da sah er in einem der oberen Fächer ein Stück Papier liegen. Es erregte sofort seine Aufmerksamkeit. Stirb nahm es in die Hand. Es war nicht groß und das untere Ende abgerissen. Das Bruchstück eines Textes stand darauf, geschrieben mit einer fahrigen, engen Handschrift, die immer hektischer und unleserlicher wurde. Die Rückseite des Papiers war leer. Dem ersten Satz fehlte der Beginn:

„… endlich tun. Das habe ich mir gesagt. Die Stunden sind Stunden des Wartens und Denkens. Alles in mir reduziert sich auf Warten. Jede Bewegung ist eine wartende. Jedes Denken kennt nur das eine Ziel.

10.2. Die Gefahr ist in mir. Sie existiert möglicherweise nur in meiner Einbildung. Nichts dringt von Außen herein. Ich lebe noch unbedroht. Ich habe mich entschieden, der Gefahr zu trotzen. Die Nadel liegt griffbereit. Ich kann noch fliehen. Das ist deutlich hier, in diesem Raum, in diesem Körper. Ich bemerke ein nervöses Zittern meiner linken Hand. In meinem Kopf ist Bewegung, die ich nicht verstehe, der ich mich nicht nähern kann. Da ist etwas, das platzt, das immer wieder aus seiner Mitte heraus platzt. Es dreht in einem schnellen, wahnwitzigen Kreis und die Geschwindigkeit nimmt zu.

1.4. Was ich bezwecken will, habe ich fast erreicht. Es fehlen noch ganz kleine Mosaiksteinchen, nur noch wenige. Das Gesamtbild ist bereits deutlich zu erkennen. All das erstaunt mich. Es wühlt Erinnerungen in mir auf. Ich habe Empfindungen, an die ich nicht mehr geglaubt habe.

12.4. Ein seltsames Mosaiksteinchen liegt vor mir auf dem Tisch. Es ist längst vertrocknet und mumifiziert. Staub liegt darauf. Es ist ein Rätsel. Aber ich komme der Lösung täglich ein Stück näher.

2.6. Ich denke, heute ist mein Tag der Lösung. Das Warten wird ein Ende nehmen. Ich werde endlich begreifen. Die letzten Bilder werden sich zu erkennen geben. Ich benötige die Nadel nicht mehr. In meinem Kopf wird sich alles klären. Die platzenden Ringe werden in sich selbst zusammenfallen, in sich stürzen. Sie werden dabei ein gewaltiges, dunkles Nichts gebären.

14.6. Heute ist der Tag der Lösung. Heute weiß ich den Namen von dem, der kommt. Ich weiß, wer er ist. Er wird den Namen solange brauchen, solange ich mit ihm rede, ihm mein Wissen weitergebe. Er wird erkennen, wie ich erkannt habe. Wer nicht für mich ist, ist gegen alle. Ich will den Namen nicht aufschreiben. Er gehört auf kein Papier. Er ist Klang. Er muss ausgesprochen werden. Er ist der Klang zweier Silben, die sich innig umarmen, vereinen. Es ist ein schöner, guter Name.

27.9. Er wird versuchen, die Erinnerung an mich auszulöschen. Er wird alle Bücher, die ich gesammelt habe, vernichten. Damit werden all die Toten vergessen sein, die dann mit mir gemeinsam ein weiteres Mal sterben. Nichts wird von mir übrig bleiben als meine Erzählungen, die er sich bruchstückhaft merken und fehlerhaft weitergeben wird. Diese Notizen will ich verstecken. Er soll sie nie finden. Ich weiß einen Ort, an dem er nicht suchen wird. Das beste Versteck ist das offensichtliche. Verstecke Bücher unter Büchern, Papiere unter Papieren und Menschen …“

Voller Ehrfurcht senkte Stirb den Zettel.

Er stammte nicht von dem Alten. Dieses Papier war älter. Vielleicht hatte es der Vorgänger des Alten geschrieben oder sogar dessen Vorgänger oder der davor. Dieses kleine Papier war immer und immer wieder der Vernichtung entgangen, weil sie in dem leeren Schrank so offen gelegen hatte. Stirb wünschte sich, ebenfalls einen Text zu hinterlassen, der seinen Nachfolger überdauern würde.

Vielleicht war das nicht der einzige Zettel. Vielleicht waren überall in dieser Wohnung Papiere und Aufzeichnungen versteckt, in Truhen unter staubiger Kleidung vergraben, an die Rückseiten von Schränken geklebt, hinter halb gelöste Tapeten geschoben, unter einem Haufen Abfall verborgen, eingemauert, vergraben, getarnt. Vielleicht lagen sie auch offen auf den Tischen. Stirb würde die Wohnung sehr genau durchsuchen müssen. Dieses Papier hatte er jedenfalls gefunden. Er warf einen letzten Blick auf die verzitterte, unsichere Handschrift. Er zündete das Papier mit seinem Feuerzeug an, ließ es brennend zu Boden flackern, zermahlte die Aschereste unter seinen Absätzen.

11 Er fand noch mehr. Aber ich muss ein Ende machen. Ich werde zu müde.

12 Stirb kehrte von seiner Erkundung zurück, trat an den Tisch, der nun seiner war. Der Alte schlief wieder.

Du hast deine Chance vertan“, flüsterte er. „Fast hättest du mich getötet. Einen Augenblick lang hoffte ich, du würdest es tun. Dann hätte alles ein Ende gehabt. Das wäre doch eine gute Tat gewesen …“

Er sah hinunter auf die Holzlatte.

Ich werde nicht zu versagen. Ich werde schlauer sein als alle vor mir. Ich werde meine Fallen nutzen, die Verwandten fangen und töten. Einmal werde ich auch den Namenlosen verscharren. Wenn ich nicht zu alt dazu bin.“

Das war es, was Stirb noch sagen wollte. Nun hatte er zu schweigen. E nahm die schwere Holzlatte vom Tisch, wog sie prüfend in der Hand. Es war kein leichtes Stück Arbeit, das vor ihm lag. Ihm musste gleich beim ersten Mal der entscheidende Schlag gelingen. Er trat an das Bett, schwang das Stück Holz hoch über sein Haupt. In diesem Augenblick öffnete der Alte die Augen. Sie weiteten sich überrascht. Er hob die Hände zur Abwehr. Stirb kniff seine Lider zusammen und schlug als er mit aller Kraft zu. Das Holz pfiff und traf splitternd. Ein Stöhnen drang aus dem Mund des Alten.

Stille.

Stirb öffnete vorsichtig ein Auge. Der Alte hielt seine Arme noch immer erhoben. Sie bluteten. Der linke Unterarm war in der Mitte gebrochen, auf groteske Weise abgeknickt. Der rote Blick des Alten war vorwurfsvoll. Schamröte schoss Stirb ins Gesicht.

Ich, der ich bin, bin der, der ich bin“, sagte er, um sich selbst Mut zuzureden. Ich bin Stirb.“ Der Alte senkte ergeben seinen Kopf zurück auf das Kissen. Er legte resigniert seine Arme zur Seite. Stirb sah, wie er sich bei dieser Anstrengung die Lippen blutig biss. Noch einmal hatte er Mitleid mit dem Alten. Er schlug wieder zu, noch einmal und dann noch einmal. Aber seine Schläge waren schlecht gezielt. Der erste traf den Alten auf der Brust. Etwas brach dort. Der zweite ging daneben. Erst der dritte schrammte grausam über den Schädel, riss einen langen, schmalen Streifen Kopfhaut heraus, der an der Latte kleben blieb. Jetzt schrie der Alte endlich. Er schrie gurgelnd und laut, atemlos wie ein Tobsüchtiger. Stirb schlug jetzt immer schneller und ungezielter, wahllos, hektisch. Er hielt dabei den Kopf halb in die Höhe gereckt, die Augen fest geschlossen. Panik stieg in ihm empor. Warum war das Leben des Alten so zäh? Warum quälte er ihn so? Seine Stirn wurde schweißnass.

Auch als der Alte längst nicht mehr schrie, schlug Stirb noch zu, wieder und wieder. Er hatte sich weit fort begeben. Unermüdlich wie eine Maschine führte er die Bewegungen seiner Arme aus. Nie war ihm eine Tötung schwerer gefallen. Schließlich hatte er keine Kraft mehr. Tränen rannen die Wangen von Stirb herab. Er schluchzte. Ein halber Blick auf den zerstörten Leichnam unter ihm genügte. Er sah an sich selbst herab. Über und über war er vom Blut des Alten besudelt.

Stirb wand sich ab und übergab sich. Er würgte krampfend, die Adern an seinem Schädel schienen ihm zu platzen. Doch es war nur bittere, gelb-grüne Galle, die er keuchend zu Tage förderte. Er ließ sich hart auf den Boden fallen, schloss krampfhaft die Augen, suchte Vergessen in einem Schlaf, den er nicht fand.

Lange lag der Mann, den der Alte Stirb genannt hatte, hingestreckt zwischen seinem Erbrochenen und dem Bett mit der Leiche.

13 In der darauf folgenden Nacht erhob ich mich endlich und beendete mein Werk. Ich verscharrte den Toten in dem Beerdigungszimmer bei seinen Verwandten. Ich las zu ihrem Andenken aus einem Buch, das ich mitgebracht hatte.

Ich sagte auch: „Amen.“

Das war der Augenblick, an dem ich mich erkannte, mich und mein Ziel.

Der Hund ist verstummt. Bald wird er verwest und vergessen sein. Ich werde aufhören zu schreiben. Ich habe schon zu viel geschrieben. Nachdem ich gerade das Manuskript durchgelesen habe, weiß ich auch nicht mehr, warum ich es überhaupt begann. Wem wollte ich ein Denkmal setzen? Mir oder dem Alten? Und wie soll ich diesen Text vor meinem Nachfolger schützen, dessen Namen ich noch nicht weiß? Ihn zu besiegen, das ist nur eine billige Illusion, ein schöner Traum. Antworten habe ich noch immer keine.

Jetzt beginnt also mein Tageslauf. Ich werde mir Essen besorgen müssen. Ich werde auf meinem Tisch sitzen und meinen Verwandten von dem Heiligen Buch erzählen, bevor sie sterben. Vielleicht werde ich nachts mein zitterndes Geschlecht beobachten. Meine Lunge wird dann voller Krankheit sein. Noch bin ich jung. Wichtig ist die Wohnung und die Suche nach alten Papieren, die ich verbrennen muss. Ich werde ein Versteck für diesen Text suchen.

Und ich werde warten.

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