Zum ersten Teil des 3. Kapitel bekam ich die private Nachricht, ich würde eventuelle Leser überfordern, weil er nicht ans 0., sondern an das 2. Kapitel anknüpfe, das er ja fortsetzt. Daher meine Frage: Soll ich das schrittweise Veröffentlichen des 3. Kapitels stoppen und zuerst die Kapitel 1 und 2 – obwohl es sie als Gesamtdownload auf diesen Seiten gibt – in den Blog setzen oder so weitermachen?
Ich bin für jede Anmerkung und jeden gefundenen Fehler dankbar.
Nur eine Darstellung fand ich bei meiner oberflächlichen Untersuchung des Kirchenschiffs überraschenderweise nicht: Es gab nichts Eschatologisches hier, nichts Dämonisches, Blutiges, nur die positiven Seiten des Glaubens waren zu sehen: Ich fand keinen Engelssturz, keinen Luzifer, kein jüngstes Gericht mit der so beliebten Darstellung der Höllenqualen, nicht einmal eine Kreuzigungsszene, keine Pieta, keinen von Pfeilen durchbohrten Michael, kein abgeschlagenes Märtyerhaupt; alles war ins Glückliche, Helle gewendet, die Sünde und ihre unappetitlichen Folgen komplett ausgeklammert. Das imposante Gemälde auf dem Hochaltar zeigte auf einem Flügel Jesu’ Geburt, auf dem anderen die Bergpredigt, dazwischen hockte der Heiland als Pantokrator: Ein abgeklärter, strahlender Herrscher blickte milde auf die irdischen Dinge.
Bei dieser Gelegenheit fiel mir noch eine andere Seltsamkeit auf, die ich vorher übersehen hatte: Auf dem Stützpfeiler des Taufbeckens waren nicht wie ich erst vermutet hatte vier, sondern fünf Evangelisten in der schlichten kindlichen Einfalt der frühen Romanik dargestellt: neben Mensch, Stier, Löwe und Adler, deren Vielzahl an Flügeln miteinander zu einem kunstvollen Ornament verwoben waren, fand ich noch eine weitere Tiergestalt, jedoch mit einem menschlichen Antlitz: Sie sollte wahrscheinlich einen Ziegenbock darstellen, der keine Flügel, aber einen Fischschwanz um seinen Körper gewunden hatte. Noch erstaunlicher war jedoch der Eindruck, dass eben jene mit mächtigen nach innen geschwungenen Hörnern ausgestattete satyrhafte und heidnische Wasserspeiergestalt, die sich da klammheimlich unter die Apostel geschlichen hatte, trotz der schlichten Ausführung unverkennbar die Züge des Mannes trug, den ich neben mir im Arm hielt.
Ich wollte ihn schon fragen, was er sich dabei gedacht habe, ob er sich als Apostel oder als Marsyas sah, als er sich von mir losmachte und ein paar unsichere Schritte nach vorn tappte, wo er einen Platz in der hinteren Reihe der Kirchenbänke fand. Er winkte mich zu sich, nun flüsternd, als wäre dies die einzige angemessene Lautstärke in dem Dom.
„Ich weiß, du hast viele Fragen“, kam er mir zuvor, „und ich will dir auch gerne die Antworten sagen, so weit ich sie selbst kenne, aber jetzt müssen wir uns beeilen. Ich kann den Lauf der Dinge nicht mehr lange bremsen, das ist wider die Natur und zerstört mehr als es bewahrt. Dieser Tag wird einmal enden. Vorher musst du hinauf zur Burg und Lina holen. Sie ist der einzige Sinn von dem allen hier und wenn mein Bruder es schafft, sie fortzubringen, wäre mein Spiel verloren. Noch wehrt meine Lina sich gegen seinen Willen.“
„Dein… Bruder?“
„Ja, mein verrückter Bruder, der glaubt, er wäre Linas Mann. Aber jetzt gehe, geh! Ich werde dir jemanden schicken, der dir vielleicht helfen kann – eine Frau, der du vertrauen sollst – und vielleicht noch jemanden weiteren.“ Er lächelte kurz. „Ich habe ihn schon in deinen Gedanken gefunden.“
Ich zögerte, wollte Einwände machen, aber er hob sofort abwehrend die Hand.
„Beeile dich“, drängte er, „jedes Zögern kann Folgen haben, die nicht wieder gut zu machen sind. Ich sage es noch einmal: Wenn mein Bruder es schafft, Lina mit sich zu nehmen, habe ich verloren. Die Welt stirbt – und wir mit ihr. Du bist meine letzte Karte, die eine Chance, die uns geblieben ist. Du bist mein Joker! Mit dir rechnet er nicht, dein freier Wille, der dich wegen meiner Schwäche hierher geführt hat, kann alles noch ins Gute wenden. Du wolltest hier sein. Nun mach auch etwas draus.“ Er sackte in sich zusammen; das Sprechen hatte ihn über Gebühr angestrengt. Seine Stimme war nun kaum mehr zu verstehen. „Geh!“ flehte er mich an, „geh endlich und rette das Mädchen. Sei der Held.“ Er schloss die Augen, erstarrte wie die tote Welt, die er beherrschte. Von ihm konnte ich nichts mehr erwarten.
Verwirrt stolperte ich aus der Kirche auf den leeren Domplatz. Hier draußen war es noch heißer und stickiger geworden. Neu waren ein paar dünne Wolkenschleier über dem Meer, auf dessen Wellenkämmen sich Schaumkronen gebildet hatten. Es roch salzig und feucht. Ich gebe es zu: Plötzlich begann das Ganze, mir Spaß zu machen. Hatte mich vorher die surreale Situation erschreckt und mir das Nichts hinter den Häuserfassaden Angst gemacht, fand ich nun einen gangbaren, halbwegs bequemen Weg, mich der Situation zu stellen. Es war das beste, das Ganze wie ein – wenn auch sehr stoffliches – Gespinst anzunehmen und die absurden Wendungen so selbstverständlich wie in einem Traum zu tragen. Hier in dieser Welt konnte ich in der Tat ein Held sein, eine Rolle spielen, die mir durchaus lag und zu mir passte.
Ich sah hinüber zur Burg, die sich den Strand aufwärts auf einer ins Meer ragenden Klippe erhob und wie ein mahnender Zeigefinger über der Stadt drohte. Sie schien mir näher gerückt, als wäre die trotzige Klippe ein mächtiger Dampfer, den der Wind gegen den Strand drückte. Jetzt konnte ich auch einen Weg erkennen, der, von niedrigem Mastix und schimmligem Salbei gesäumt, aufwärts bis vor die gewaltig in die Höhe ragenden, massiven Mauern dieser alten Malteser-Feste führten. Ich sah kurz zurück zu der Dompforte, dann ging ich die breite Promenade zum Strand hinunter, die Trutzburg fest im Blick, die mit jedem Schritt düsterer und bedrohlicher wirkte.
Ich zuckte erschrocken zusammen: Jetzt löste sich ein mächtiger dunkelgrauer Fels von der imposanten Zyklopenmauer dort oben; gegen alle Gesetze der Schwerkraft fiel er nach oben in den milchigen Himmel über der Klippe. Er war das einzige, das sich außer mir bewegte und das war das schockierendste, da war plötzlich eine Bewegung, die die leichenhafte Starre der Welt besudelte. Ich kniff meine im grellen Licht halb geblendeten Augen zusammen und starrte auf die Erscheinung, die rasch empor stieg und dabei noch an Größe zunahm. Ich erkannte zu meiner Erleichterung, dass ich mich getäuscht hatte: Der Stein entpuppte sich als Teil einer Gewitterwolke, die sich hinter der Burg zusammenballte. Deren oberen Rand hatte ich für den unregelmäßigen Abschluss der gewaltigen Wehranlage gehalten, die sich nun als viel niedriger herausstellte. Dennoch hielt ich diesen über den Himmel segelnden Schmutz für ein schlechtes Zeichen, nicht, weil ich Angst hatte, nass zu werden, sondern weil ganz offensichtlich die Kräfte des Alten weiter nachließen und er den endlosen Nachmittag nicht weiter aufrecht erhalten konnte.
Hier am Strand allerdings war alles noch unverändert: Selbst wenn ich mich bemühte, konnte ich an den wie festgefrorenen schaumigen Wellen keine Bewegung erkennen, was das Emporstreben der Wolke noch unheimlicher machte. Ich entschied, mich besser zu beeilen und wechselte in einen Dauerlauf, der mich die Mole eines alten Hafens entlang zur Klippe mit der Burg führte. Immer mehr graue, ins schmutzig-grüne chanchierende Wolken stiegen dort in den Himmel.
Obwohl ich nicht gerade trainiert war und körperliche Anstrengungenmied, fiel mir das Laufen leicht und ich konnte sogar noch Geschwindigkeit zulegen. Doch dann stach ein plötzlicher Schmerz grausam tief unten in meinen Rücken. Es fühlte sich an, als würde dort etwas durchtrennt, ein Wirbel mit brutaler Wucht verschoben. Ich wäre beinahe gestürzt, weil ich plötzlich die Kontrolle über meine Beine verlor. Ich blieb hektisch nach Atem ringend stehen und spürte meinen jagenden Puls am Hals klopfen. Etwas war in mir kaputt gegangen und zerbrochen. Mir kamen die letzten Momente vor meinem Wechsel in diese Welt in den Sinn: Da stürzte ich die Treppe vor meiner Wohnung hinab. War ich in diesem Augenblick auf dem Zement des Hofs aufgeschlagen? Endete jetzt mein Traum?
Ich sah verzweifelt hinauf zur Burg. Ich stand inzwischen am Fuß der Klippe, auf der sie thronte, am Beginn eines ausgetretenen Pfades, der sich wie eine große Schlange in weitläufigen Serpentinen hinauf wand. Das war ein Fußmarsch von vielleicht noch einer Viertelstunde, wenn hier Zeit eine Bedeutung gehabt hätte. Aber im Moment konnte ich mir nicht vorstellen, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Der Schmerz in meinen Lendenwirbeln schien es mir unmöglich zu machen; er trieb mir Tränen der Verzweiflung in die Augen.
Ich hörte den Schrei einer Frau, er schallte vom Bergfried herab, verstärkt und vervielfacht durch eine Laune des Echos. Sie rief um Hilfe und dabei klang ihre Stimme resigniert, ein letzter, verzweifelter Widerstand gegen ein Schicksal, dass sie nicht ertragen konnte. Sie schrie, ohne etwas zu erhoffen, aus Verzweiflung, aus Trotz. Sie musste wissen, dass es in dieser leeren Welt niemanden gab, der ihr helfen konnte.
Aber genau deshalb war ich doch hier, hatte mich der Alte in der Kathedrale von meiner Welt in seine gebracht, im dem Augenblick, als ich sie während meines Sturzes sehnsüchtig berührte, weil ich sie mir herbeisehnte. Er hatte mich ergriffen und mich als seinen ‚Joker’ geholt. Das war ich, die unwägbare Karte in diesem mir nicht verständlichen Spiel, das er mit seinem Bruder ausfocht, ich war das Zünglein an der Waage und da stand ich nun, von einem Schmerz, wie ich ihn noch nie empfunden hatte, zur Bewegungslosigkeit verdammt.
„Kann ich etwas für Sie tun? Sie sehen mir so aus, als könnten Sie Hilfe brauchen“, sprach mich plötzlich eine Stimme aus dem Nichts an.