Die Verliese des elfenbeinernen Palastes – Flucht aus dem Elfenbein-Palast (5)
Die Verliese des elfenbeinernen Palastes
»Der Weg, der in den Tag führt«
Band 2
Kapitel 2
Flucht aus dem Elfenbein-Palast (5)
»Auf diese Weise hätte diese Nacht niemals enden dürfen!«, flüsterte Eóra ib Suda beruhigend. »Ich kann einfach nicht glauben, dass mein Vater dich verraten wollte und kaltblütig den „Bären“ vergiften ließ. Welch eine Schmach!«
Schluchzend lag der von der Allerbarmerin erwählte Herrscher über das strahlende Juwel der Wüste in den Armen seiner Hauptfrau. Sie hatten sich mit Hilfe seiner vor den Toren stehenden Leibwache gemeinsam vor der grausamen Schlacht im Speisesaal in deren Gemächer im Neuen Serail geflüchtet. Die goldene Maske mit den feuerfarbenen Rubinaugen war achtlos neben ihn auf die Polster der Liege geglitten.
Auch in diesen melancholischen, immer ein wenig dunklen Zimmerfluchten, die während der verspielten Adin-Dynastie als Gerichtsräume gedient hatten und zur gleichen Zeit wie der in einer ganz ähnlichen Farbstimmung gehaltene Thronsaal erbaut worden waren, waren Rosa und watteartige Gipsornamente die vorherrschenden Elemente. Deshalb wurde der Neue Serail auch trotz seiner ehemaligen, grausamen Bestimmung die „Abendsonnengemächer der Frühlingsdämmerung“ genannt. Nur wenige Lichtflecken fielen durch die Fensterlöcher aus hauchdünnem Alabasterstein, die oben in der von schlanken Säulen getragenen Rotunde angebracht waren und den mit Vorhängen und Teppichen in mehrere Boudouirs unterteilten großen Saal auch in der finstersten Nacht in den lächelnden Rosentraum einer alten Jungfer verwandelten. Doch hieß es auch, die Farbe der Fliesen rühre vom Blut der Unschuldigen her, die hier von den strengen Adin-Richtern Karukoras zum Tode verurteilt worden waren. Wie dem auch war, in den „Abendsonnengemächern“ war es immer kühl und dämmrig und die vielen Gobelins, die Eóra zwischen die Säulen hatte hängen lassen, um das Neue Serail ein wenig wohnlicher und heimeliger zu gestalten, trugen nicht gerade dazu bei, die Umgebung freundlicher wirken zu lassen. Zudem hatte der Namenlose, den eine heftige Migräne quälte, befohlen, fast alle Lichter und Feuerschalen zu löschen, die für gewöhnlich in der Nacht und auch am Tag den Saal ausleuchteten.
Seit Eóra schwanger war und seinen Thronfolger unter ihrem Herzen trug, hatte der Namenlose seine Hauptfrau herablassend und abweisend behandelt. Offenbar herzlos und gefühlskalt hatte er sie, soweit es die Pflichten der beiden zuließen, aus seinem persönlichen Umfeld entfernen lassen und in den Neuen Serail verbannt. Seit dem Frühjahr hatte er sich nur bei offiziellen Anlässen noch an ihrer Seite gezeigt. Aber auch wenn er sich von dem Unbekannten, das in ihr heranwuchs, fürchtete, war dies nicht geschehen, weil seine Zuneigung zu ihr erloschen war. Er hielt vielmehr Abstand, weil ihm das sein Seneschall Radik Emre dringend empfohlen hatte. Dem Vezir Ómer Sud sollte deutlich gemacht werden, dass er zwar bald der Großvater des Nachkommens des „Unterwerfers“ wurde, aber dadurch keine neuen Rechte oder Bevorzugungen erwarten konnte. Der unsichere Namenlose, der unter den Empfehlungen seines Diwans wie ein Grashalm im Wind hin- und herschwankte, hatte sich bislang an Radiks Ratschlag gehalten, auch wenn es ihm schwergefallen war. Doch nun war er entsetzt von der Katastrophe im Speisesaal in die Arme der einzigen Person geflüchtet, der er vollständig vertraute: Das war seine unscheinbare „Erste“, die ihn nun mit nicht geringer Befriedigung, um nicht zu sagen, Triumph, in den Armen hielt.
»Such, Deşda mi salem, such da‘ Weh …«, summte sie leise in dem altwendischen Singsang, mit dem man in Karukora kleine Kinder beruhigte, die sich ein Knie wundgeschlagen hatten und pustete warm auf seinen glatten Schädel, den sie vorsichtig streichelte. »Alles wird gut, such da‘Weh madiş, Dagor …« Sie war die einzige, die es noch immer wagen durfte, ihn mit seinem echten Namen anzusprechen, wenn die beiden unter sich waren. Eóra barg das Gesicht ihres Gatten in der Armbeuge und machte dann gleichzeitig über sein Haupt hinweg ein abweisendes Handzeichen hinüber zu Muhar, der plötzlich neben einem der Teppiche aufgetaucht war und sie offenbar zu sprechen wünschte. Er verstand sofort, dass er sich gedulden sollte und trat lautlos einen Schritt zurück in den Schatten, wo er für den Namenlosen unsichtbar blieb. Endlich hatte Eóra den „Unterwerfer“ dort, wo sie ihn haben wollte, reumütig war er schließlich zu ihr zurückgekehrt. Der Verrrat an ihrem Vater hatte sich gelohnt und diesen Moment wollte sie genießen, so lange es ging.
Oh, ja, sie war eine echte Sud und sie hatte viel vom Charakter des intriganten Ómer geerbt. Es war ihr zu wenig, nur die schmückende Begleitung ihres Mannes zu sein, der Edelstein, mit dem sich der Namenlose ausstaffierte, schön, aber stumm. Ihr Ehrgeiz reichte weiter, über die verräterischen Pläne ihres Vaters, in die sie selbstverständlich eingeweiht gewesen war, hinaus. Sie wollte durchaus nicht nur die Austrägerin des nächsten Namenlosen sein, der nach dem Willen von Ómer eine Sud-Dynastie in Karukora begründen würde. Oh, nein, sie würde nicht züchtig und gehorsam in den Frauengemächern sitzen und mit ihren Zofen Tiban spielen und häkeln, während ihr Vater für seinen unmündigen Enkel die Regentschaft übernahm. Denn es gab noch etwas, das der ehrgeizige und intrigante Vezir nicht auf seiner Rechnung hatte, als er seine Palastrevolte plante: Eóra liebte ihren Dagor und schmiedete zusammen mit dem ihr ergebenen Muhar ihre eigenen Pläne. Deshalb hatte sie Ómers Plan an den Namenlosen verraten. Sie bemerkte dabei nicht, dass auch sie nur eine Marionette war.
Ihre Zuwendungen schienen dem Namenlosen zu helfen, denn er richtete sich plötzlich auf. Ganz offensichtlich war er zu einem Entschluss gekommen. Er sah sich um und suchte nach einem Bediensteten, dem er befehlen konnte. Doch Eóra hatte ihre Kammermädchen weggeschickt. Da fiel sein Blick auf Muhar, dem es nicht mehr rechtzeitig gelang, sich völlig hinter einem der Vorhänge zu verbergen. Während er seine goldene Herrschermaske wieder aufsetzte, die er vorhin verzweifelt von sich geworfen hatte und die nun die Spuren seiner Tränen verbarg, winkte der Namenlose den Stummen herrisch zu sich heran. Falls es ihn wunderte, dass ein männlicher Diener in den Gemächern seiner Frau stand, ließ er sich dies nicht anmerken.
»Du, Beschnittener, dort hinter dem Vorhang. Tritt näher«, rief er streng, »ich habe einen Auftrag für dich!« Offensichtlich erkannte er in dem schummrigen Licht des Raums in dem zerlumpten Mann weder den Diener Ómers noch den Märchenerzähler, der ihn in seiner Jugend mit allerlei Sagen und heiteren Geschichten unterhalten hatte. Muhar verneigte sich sofort tief und trat mit weit herabgebeugtem Oberkörper und gesenktem Haupt näher. Den Blick hielt er dabei fest auf den Boden und auf seine nackten Füße gerichtet. Hätte Muhar aufgesehen und die Besorgnis in Eóras Gesicht bemerkt, hätte er wahrscheinlich so wie sie unkontrolliert zu zittern begonnen. Falls dem Namenlosen auffiel, dass ein Untergebener des Renegaten Ómer mit seiner Frau in Verbindung stand, dann hatten die beiden ihr Leben verwirkt. Muhar grunzte einen kehligen Laut, zu dem er trotz des Fehlens seiner Zunge noch fähig war und der nach einer Frage klang. Dem Namenlosen, der sich wie immer nur mit sich selbst beschäftigte, fiel es nicht weiter auf.
»Lass sofort meinen Ser‘Asker herholen«, befahl er, »ich brauche Paşha Ultem an meiner Seite, denn ich muss erfahren, was im Palast vor sich geht.« Muhars gesenkter Kopf fiel noch tiefer hinab, bis sein Kinn seine Brust berührte. Es sah nun so aus, als würde er in jedem Augenblick nach vorne kippen und dem Namenlosen in den Schoß fallen, doch er brachte das Kunststück fertig, sich in dieser Lage zu halten und dazu auch noch, leise Zustimmung brummend, langsam rückwärts zum Vorhang zu tappen. Hinter ihm verborgen, konnte er sich endlich aufrichten. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, aber es war noch einmal gutgegangen. Muhar spuckte verächtlich aus und drehte sich herum.
Erschrocken zuckte er zusammen. Vor ihm stand der vom Bişra angeforderte General. Er war so plötzlich wie ein Zauberer aus dem Erdboden gewachsen. Tatsächlich hatte sich Ultem schon eine ganze Weile hinter den Teppichen verborgen gehalten, gelauscht und versucht, die Situation einzuschätzen. Er ging mit keiner Bemerkung oder auch nur mit einem Stirnrunzeln auf Muhars Beleidigung des Namenlosen ein, aber sein scharfer Blick unter den buschigen Augenbrauen glich einem geworfenen Dolch, der sich in die Brust des Stummen bohrte. Ultem hielt unentschlossen einen kleinen Zettel in der Hand. Muhar erschrak erneut, denn das Papier sah genauso aus wie ein Blatt von seinem eigenen Notizblock, den er ja an einem Band jederzeit griffbereit um den Hals trug. Dies war die Stelle, an der ihn Ultems messerscharfer Blick traf. Er beeilte sich, eine weitere Verbeugung zu machen, dann drehte er eilig ab und flüchtete an dem General vorbei aus den Gemächern Eóras. Der Ser‘Asker der Wüstenfüchse des „Unterwerfers“ beulte nachdenklich seine Wange mit der Zunge aus und sah dem heruntergekommenen Diener zu, bis die Tür hinter dem Stummen ins Schloss fiel. Die schlechten Nachrichten, die er bei sich trug, hatten ihn im Antichambre zögern lassen. Der Namenlose pflegte gerne einmal im ersten aufbrausenden Zorn statt den Verursacher den unschuldigen Überbringer einer Botschaft zu bestrafen und Ultem war klar, wie wütend sein Herr werden würde, wenn er erfuhr, was der General zu berichten hatte. Doch dann ermannte er sich und trat forsch aus seinem Versteck, stellte sich vor den Namenlosen und seine Gemahlin. Seine Ehrbezeugung war nur ein kurzes Nicken mit dem Kopf.
»Das ging ja außerordentlich schnell«, staunte der Bişra. Ultem räusperte sich missbilligend und warf einen kurzen Blick auf Eóra. Dadurch wurde dem Namenlosen erst bewusst, wie kompromittierend seine momentane Situation war. Der Herrscher über die reichste und größte Stadt der Überlebenden Lande, der Gott der Wüsten und Oasen, Herr über Leben und Tod, Liebling der Allerbarmerin und unsterblicher Zermalmer aller Feinde Karukoras, lag weinerlich in den Armen eines Weibes! Pasha Ultems Plan, von sich abzulenken, ging auf. Der Namenlose errötete unter seiner Maske und stieß Eóra, die sich gegen seine Seite lehnte, fast grob von sich.
»Du bist entlassen, Frau«, sagte er kalt. Fast sah es so aus, als würde Eóra aufbegehren, aber dann senkte sie nur ihr Haupt.
»Ja, mein liebreizender Gebieter, die Staatsgeschäfte rufen dich. Karukora braucht in dieser Krise deinen Weitblick und deine Stärke«, sagte sie und stand aufgrund ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft etwas mühsam aus der niedrigen Liege auf. »Hören und Gehorchen sind mir eine Einheit, Sonne meines Lebens. Nutze nur meine Gemächer als deinen vorübergehenden Thronsaal, bis wieder Ruhe im Palast eingekehrt ist. Ich werde mich nun zurückziehen.« Sie lächelte Ultem an, der durch sie hindurchblickte, als wäre sie nur eine phantomhafte Geistererscheinung. Noch wusste er nicht so recht, in welchen Wind er seine Fahne zukünftig hängen sollte und hielt sich daher für den Moment zurück, obwohl er, solange ihr Vater der mächtigste Minister im Land gewesen war, immer freundlichen und aufmerksamen Umgang mit der Gattin seines Herrn gepflegt hatte. Eóra trat würdevoll an dem General vorbei hinter die Vorhänge. Kurz überlegte sie, ob sie lauschen sollte, aber es gab in dieser Nacht noch Wichtigeres für sie zu tun. Ein schwerer Gang stand ihr noch bevor und vor der Tür zu ihren Gemächern stand bestimmt noch Muhar und wartete auf sie, um sie zu begleiten.
»Also«, fragte der Namenlose, als er mit seinem General allein war, und nahm seinen ganzen Mut zusammen, »ist die Schlacht um mein Königreich endlich entschieden?«
»Der Palast ist längst noch nicht zur Ruhe gekommen. Das wird er in dieser Nacht auch nicht mehr. Er gleicht einem aufgeschreckten Hornissennest. Ich stimme deiner Hohen Gattin zu und denke ebenfalls, dass es das Beste sein wird, wenn du vorerst im abgeschiedenen Neuen Serail verweilst und geschützt von deiner Leibwache draußen die Entwicklungen hier abwartest, mein Gebieter. Lass mich zur Sicherheit eine weiter Abteilung der Treuwacht vor den Fenstern abstellen. Zu deiner Frage: Es war eine blutige und verlustreiche Schlacht, aber die Lamarger sind inzwischen fast vollständig besiegt und bis auf wenige Gefangene erschlagen. Zudem gilt es, ein paar Brände zu löschen und nach Ómers Mitverschwörern zu fahnden. Eines der Murlane des Regno ist übrigens im Kampfgetümmel entkommen und streicht wahrscheinlich durch die Gärten. Ich habe schon nach dem Tierbändiger des „Unterwerfers“ rufen lassen.« Ultem zögerte. Nun kam der Teil des Gesprächs, den er fürchtete.
»Mach ganz so, wie es dir beliebt. Du hast mein Vertrauen, Ser’Asker. Ich will morgen Früh als erstes meinen Soldaten und Treuwächtern für ihren Einsatz danken. Bereite eine Zeremonie vor, in der ich ein paar Orden verteilen und den Witwen mein Beileid aussprechen kann. Jetzt möchte ich die wenigen Stunden, die noch bis zum Sonnenaufgang verbleiben, dazu nutzen, etwas zu ruhen.«
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