In den Bücherkellern des Vatikans (16)

<– zum 15. Teil …

Aber dann kam der Nebel. Sein erstickender Schleier leuchtete blendend von innen heraus und merkwürdige Lichtreflexe funkelten in ihm. Er wurde auch in der Nacht kaum düsterer, sondern nur ein wenig gelber, als würde jemand Kurkuma in den Milchbrei einer каша rühren. Da war es bereits ein abenteuerliches Unterfangen, sich von den Baracken zu den Latrinen zu tasten, ohne sich dabei hoffnungslos zu verirren. Dieses Mikroklima in der künstlichen Caldera von Antenora war selbst jetzt im beginnenden Herbst einzigartig und ein Naturphänomen, das man hier im Oblast noch nie gesehen hatte. Zu dieser Jahreszeit zogen von Norden her heftige Sturmwinde über die eisigen, staubtrockenen Hochebenen des Putorana-Gebirges. Sie nagten an den Spitzen unserer aufgehäuften Erdpyramiden und verwehten deren Dreck und Staub bis weit hinunter ins Flachland und bis nach Nganatgi, auf das der Staub aus unserer Grube wie ein Ascheregen fiel. Die die LKW-Fahrer berichteten, allein unsere tiefe Grube sei mit dem merkwürdigen Nebel gefüllt und sie hatten es sehr eilig, wieder fortzukommen. Diese abergläubischen Wogulen flüsterten untereinander davon, dass Xul’ater, der Herrscher der Unterwelt, den Nebel geschickt hätte, weil er erzürnt war, dass wir in seine heiligen Stätten vordrangen und seine Gebeine entwendeten. Sie sagten, von der Ferne würde Antenora wie ein milchiger See wirken, wie das blinde Auge eines Urweltungeheuers, das hier begraben lag.

Die Gefangenen, die tief unten am Grund der Grube schufteten, waren aufgeklärte Sowjetmenschen. Sie glaubten nur an die Geister, die sie nach dem Genuss einer Flasche Wodka zu Gesicht bekamen. Aber auch sie wussten furchtsam zu erzählen, dass der Dampf tatsächlich von unten wie direkt aus der Hölle käme und nicht über Nacht vom Himmel gefallen wäre. Er würde handwarm und stickig aus mehreren Spalten aus dem Erdreich der Ausgrabung emporquellen, als wäre dort unter unseren Füßen ein tätiger Geysir. Der Dampf würde an den Austrittsorten merkwürdigerweise intensiv nach Zitrusfrüchten riechen und in unangenehm in der Nase stechen.

Wenn die Gefangenen am Morgen mal ihr Arbeitsquadrat gefunden hatten, war es in dem Nebel allerdings beinahe angenehm. Trotz des Seiles, durch das alle miteinander verbunden waren, damit sich niemand verlief oder den Wahnwitz eines Fluchtversuchs unternahm, war er fast ein angenehmerer Aufenthaltsort als die Baracken, in dem es seit einiger Zeit immer häufiger zu Streitigkeiten und spontanen Gewaltausbrüchen kam. Die Temperatur glich unterhalb des Lagers der in einem Badeort am Schwarzen Meer. Man fühlte sich in dem hell leuchtenden, fürs Auge kaum durchdringbaren Wattemeer, in dem die Wassertropfen wie Diamantenstaub glitzerten, merkwürdig geborgen. Die Wärter kontrollierten einen kaum und verließen nur selten ihre Kontrollpunkte. Erst nach Ende der Schicht holten sie die Seile ein. Doch da waren die vielen geisterhaften Stimmen und Geräusche um einen herum. Sie klangen seltsam verzerrt durch die Milchweiße heran. Es war, als hätte man seinen Kopf in Wasser getaucht. Unmöglich, festzustellen, ob die Gesprächsfetzen und Töne von nah oder fern ans Ohr drangen oder gar die Richtung anzugeben, aus der sie kamen – manche schienen von einem anderen, fremden Ort oder einer anderen Zeit zu stammen. Es gab Gefangene, die schworen bei den Honigtöpfen ihrer бабушка, sie hätten gregorianische Chorgesänge gehört. Dann wieder echoten dunkle Schlagschatten herum, tauchten aus dem Nichts, erschreckten einen, wuchsen zu gewaltiger Größe, um dann blitzartig wieder in sich zusammenzufallen. Die Schatten grotesker Fabelwesen waren zu entdecken, verwachsene Riesen und die ruhelosen Seelen der im See Ertrunkenen gaukelten einem vor den Augen.

So weit es möglich war, ignorierte jedermann diesen Irrwitz, der wie ein Albdruck auf den Gemütern der Gefangenen und selbstverständlich auch der Wächter lastete. Aber je länger die seltsame Inversionslage andauerte und wir im ›Milchsee‹ schwammen, umso nervöser und gereizter ging es in den Baracken zu und langsam breitete sich Verfolgungswahn aus. Das Gerücht machte die Runde, es wäre etwas in der Luft, das diese Zustände auslöse. Alle in Antenora sehnten sich nach der Kälte und der Finsternis zurück.

Ihren allgemeinen Höhepunkt erreichte die Hysterie in der zweiten Woche, als kurz hintereinander ein Anschlag auf das Leben von meinem Fedor verübt wurde und Sascha Senjunin, der das Planquadrat neben ihm bearbeitete, spurlos verschwand. Es war, als hätte ihn eines der Nebelungeheuer gefressen. Habe ich dir schon von Sascha erzählt, mein Freund? Ich glaube nicht, deshalb lasse es mich hier rasch nachholen und verzeihe mir die Wut, mit der ich zurückblicke: Um Senjunin von den anderen Saschas, die wir zuhauf im Lager hatten, zu unterscheiden, wurde er von allen голубое саша – ›himmelblauer Sascha‹ gerufen. Er war vor seiner Karriere als Gulageinsasse Tänzer im Kirow-Ballett der berühmten Waganowa gewesen. Sascha, was ja eigentlich ›der Männer Abwehrende‹ heißt, war wirklich kein sehr passender Name für jemanden, der als Prinz Siegfried im ›Schwanensee‹ einige Erfolge feiern konnte und mit unserem großen Nationalkomponisten die Vorliebe fürs eigene Geschlecht teilte. Er hatte auch das gleiche verschreckte Mopsgesicht Tschajkowskys, in dem der gleiche kurz geschorene und hellbraune Vollbart wuchs. Die zärtliche Pflege seiner Manneszierde kostete Sascha fast seine ganze freie Zeit. Er war aber trotzdem eine zartgliedrige, überaus elegante Erscheinung geblieben, die in keine Schublade passte und für die das Wort androgyn erfunden wurde. Trotzdem war er wie jeder Balletttänzer sehr muskulös und zäh.

Seit 1934 ging das homophobe Väterchen Stalin auch massiv gegen Schwule vor und ließ sie zu Tausenden in Arbeitslager deportieren oder gleich exekutieren. Sie gehören zu den vielen vergessenen Opfern seiner Säuberungen. Die miefig bäuerlichen Vorstellungen unseres ›Stählernen‹ von Gesellschaft und Familie hatten die Vorstellungen der kulturell-liberalen Avantgarde der Zwanzigerjahre verdrängt und fanden bei uns Russen einen überaus fruchtbaren Nährboden. Auch heute sind noch in der realsozialistischen Gesellschaft der UdSSR fest verankert, wo jeder Homosexuelle als ›Päderast‹ bespuckt und geächtet wird. Dennoch ließ man den ›himmelblauen Sascha‹ in Antenora meist in Ruhe. Tatsächlich erweckte er bei einigen kaum eingestandene Begehrlichkeiten, über die ich lieber Stillschweigen bewahren möchte. Rückte ihm doch einer zu nahe, war er durchaus in der Lage und auch willens, ihn sich notfalls mit einem gezielten Fausthieb vom Leib zu halten. Er war ein Einzelgänger und hatte eigentlich nur näheren Kontakt zu Fedor und damit auch zu mir. Mein Freund, der sich ja als ein geschickter Schwarzmarkthändler entpuppt hatte, ließ Sascha häufig an seinen kleinen Geschäften teilnehmen und besorgte für ihn die Döschen mit ungarischer Bart-Wichse, Borodist-Öle und die Bürsten aus Wildschweinborsten. Frage mich nicht – ich habe keine Ahnung, über welche Kanäle Fedor im tiefsten Sibirien an solche exquisiten Dinge kam. Obwohl ich ebenfalls von seinem Handel profitierte, hielt ich mich ja von der illegalen, aber äußerst lukrativen Schattenwirtschaft fern, in die die Hälfte der Gefangenen, Wärter und Arbeiter von außerhalb verwickelt war.

Aber nun lass mich von dem Anschlag auf Fedors Leben berichten. Es war bereits später Nachmittag. Fedor, der nicht besonders fleißig den ganzen Tag unten in seinem Planquadrat gearbeitet hatte, stand am Rand seiner Ausschachtung. Er stützte die gekreuzten Arme entspannt auf den Querholm seiner Schaufel und wartete geduldig auf das zweimalige Zerren an dem Seil, das mit einem Haken an seinem Gürtel befestigt war. Dies war das Signal für die Gefangenen, dass es Zeit für den langen und blinden Rückmarsch war. Fedors ›Ariadnefaden‹ war wie der der anderen weiter oben mit einer dicken Hauptleine verknotet, die auf dem Weg zurück zum Lager lag. Mit dieser sinnreichen Erfindung war es dem Direktor gelungen, trotz des dichten Nebels weiter an seiner Ausgrabung arbeiten zu lassen. Wenn dann am Abend endlich die Lagersirene heulte, gingen mehrere Wächter von dem dicken Tau geleitet den Weg ab. Dabei zogen sie an den Seilen und sammelten auf diese Weise langsam die Arbeiter ein. Bisher hatte das sehr gut funktioniert.

 

[Zum 17. Teil …]

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