In den Bücherkellern des Vatikans (15)

<– zum 14. Teil …

Auf jeden Fall konnte ich Krakows geheimes Reich ungehindert und ohne Probleme betreten. Ich machte Licht und war enttäuscht. Meine alten Erinnerungen an das Eiszeitmuseum und die Laboranlagen in Antenora hatten mich die mit allen technologischen und architektonischen Raffinessen ausgestatteten unterirdischen Hallen eines James-Bond-Bösewichts erwarten lassen. Ich betrat jedoch nur einen nüchtern und karg eingerichteten Kellerraum ohne Fenster. Er war kaum besser als eine Besenkammer: Gurgelnde Heizungsrohre liefen an der Decke entlang und die grauen Betonwände, die die Maserung ihrer ehemaligen Bauverschalung zierte, waren nicht einmal überstrichen. An einer Seite entdeckte ich eine weitere, diesmal abgesperrte Tür, in der allerdings der Schlüssel steckte. Wie ich gehofft hatte, ist dort ein Ausgang aus dem Altersheim: Wie ich durch einen schnellen Blick feststellte, gelangt man durch diese Tür in die Heizungsgänge. Von hier aus werde ich später bestimmt einen Weg ins Freie finden und unbemerkt entschlüpfen können. Sicherlich wird man dann schon nach mir suchen. Wenn der Frühdienst bemerkt hat, dass ich nicht in meinem Zimmer geschlafen habe und mich scheinbar in Luft aufgelöst habe, wird man das Heim gründlich durchforsten.

Es heißt, die Persönlichkeit eines Menschen würde sich nicht zuletzt auch in seiner Einrichtung widerspiegeln. Wenn dies so ist, dann hat Krakow keinerlei Persönlichkeit – oder er ist kein Mensch. Wenn ich je eine Bestätigung für diesen Verdacht benötigt hätte, dann hatte ich ihn hier gefunden. Die Einrichtung in diesem Raum besteht aus einem unbequemen Holzstuhl, einem großen Tisch, auf dem seitlich der blinkende Kasten der Abhöranlage, ein Magnetaufzeichnungsgerät und ein CM-1810-Personal Computer neuester sowjetischer Fertigung stehen. Von solchen technischen Geräten, von denen ich absolut nichts verstehe, lasse ich besser meiner Finger. Doch dass auf dem Sideboard neben dem Eingang Krakows Samowar bereitstand, versöhnte mich mit meinem unfreiwilligen Versteck. Ich hätte es schlechter treffen können.

Ich entschied also, es mir hier bis zum frühen Morgen gemütlich zu machen. Der Stuhl ist ungepolstert und die Sitzfläche drückt hart auf meine Hämorriden. Aber immerhin ist es wegen der kaum isolierten Rohre angenehm warm, während ich draußen im Fahrstuhlschacht wie ein Hund gefroren habe. Ich konnte mir sogar kurz erlauben, ein wenig die schweren Augen zu schließen und mich auszuruhen, bevor ich meine Aufzeichnungen fortsetzte. Die Wirkung des starken Tees hielt mich zwar wach, aber in meinem Alter benötigt man nicht mehr viel Schlaf. Außerdem fürchtete ich mich vor den Geistern, die mich nächtens in meinen Träumen heimsuchen. Nun ist ja wahrscheinlich auch noch der junge Wyschnin hinzugekommen. Anstatt in die vorwurfsvollen Augen all der Menschen zu starren, die ich überlebt habe, konnte ich stattdessen meinen heutigen Tag planen. Ich werde später versuchen, mich durch die Keller und die Wäscherei unbemerkt aus dem Kollontai hinauszuschleichen. Dann werde ich den ›Schlüssel‹ aus seinem Versteck holen und ihn zur Buchhandlung bringen. Weiter will ich nicht nachdenken. Ein weiteres meiner sieben Leben ist vorbei, aber das neue hat noch nicht begonnen. Dieses Geheimbüro ist ein Wartesaal und ich hoffe, mir wird es nicht wie Lew Tolstoi ergehen, der der Tod auf dem Bahnhof von Astapowo einholte, wo er gerade auf den nächsten Zug wartete.

Nachdem ich meine verklebten Augen wieder geöffnet hatte, fiel mein Blick auf die breite Schublade des Tischs, die ich natürlich sofort neugierig öffnete. Darin fand ich endlich ein paar wirklich nützliche Dinge: Da lag Krakows Füllfederhalter, mit dem ich jetzt auf meinen Blättern schreibe. Daneben ein ordentlich dickes, mit einer Geldklammer zusammengehaltenes Bündel Rubelscheine – insgesamt 1500 Rubel, also etwa das Zehnfache meiner Rente. Für mich ist das ein kleines Vermögen, das nun in meiner rechten Hosentasche ruht und das ich gut investieren werde. Und dann lag in der Schublade noch eine gut geölte Makarow Typ PB (pistolet bes’schumnyj) mit einem abschraubbaren Schalldämpfer. Die Armeevariante war unter Generalmajor Nischenko meine Ordonnanzpistole gewesen und ich kenne mich deshalb gut mit ihr aus. Mit einem raschen Handgriff entlud ich sie und nahm das Magazin heraus. Von den acht 9 x 18 mm Standardkugeln fehlte eine. Die Makarow war erst kürzlich abgefeuert worden. Wahrscheinlich hielt ich die Mordwaffe in der Hand, mit der sich Krakow von seinem Sekretär befreit hat und nun waren meine Fingerabdrücke drauf. Auch sie werde ich mitnehmen müssen und sie später in einem Newa-Kanal entsorgen. Oder ich behalte sie vielleicht, fällt mir gerade ein. Denn auch ein Krakow ist nicht gegen Kugeln gefeit.

Der bemerkenswerteste Fund aber war meine mit ein paar Blutspritzern besudelte Wodkaflasche ohne Etikett, in der noch ein paar Schlucke durchsichtige, mit öligen Schlieren versetzte Flüssigkeit schwamm. К черту! – ›Zum Teufel!‹ Selbstverständlich ließ ich die Finger von dem Schnaps, denn diese Flasche hatte ich sofort wiedererkannt. Es war meine eigene, mit deren Hilfe ich Lasar vergiftet hatte. Sie war die ganze Zeit – wie ich es vermutet hatte – im Besitz von Krakow gewesen. Er hatte sie tatsächlich an sich gebracht und sie hier verborgen. Es lag auf der Hand, weshalb er dies getan hatte. Das Blut war wohl das von Wyschnin …

So! Nachdem ich dich nun auf den neuesten Stand gebracht habe, mein lieber Leser, will ich die Stunden bis zum Morgen nutzen, um meine Erlebnisse in Antenora fortzusetzen. »Na, endlich«, höre ich dich sagen, »das wird auch langsam Zeit, Towarischtsch!« Gut, dann gib mir noch einen Moment, damit mein Geist wieder durch die Zeit zurückwandern kann. Mit einem Gläschen in meinen vom vielen Schreiben krampfenden Fingern fiele es mir leichter …

›С лёгким паром!‹ – ›Möge dich der Dampf umschmeicheln!‹

Diese Tage im Herbst waren aus Watte gemacht. Glaube mir, mein eifriger Leser, der Nebel fühlte sich genau so an und er sah auch so aus, als sei eine feuchte, kalte Wolke direkt aus dem Himmel in die Grube von Antenora gefallen. Sie lag nun gärend in der Kuhle des Gulags wie ein Brotteig in seinem Backkorb. Der nasse Nebel war beinahe greifbar dicht; er besaß eine schwere Stofflichkeit, die jedermann das Atmen so erschwerte, als würde er an einer Wasserlunge leiden. Man sah keine drei Meter durch sein Wabern hindurch. Wäre es in der Grube wärmer gewesen, hätte man den Eindruck bekommen können, man genieße einen freien Tag im баня einer der zwei großen Leningrader Badeanstalten, die Aleksandr Nikol‘skij Anfang der Dreißigerjahre erbaut hat. Doch du kannst ruhig mich beim Wort nehmen, Freund. Es war keine Oase zum Entspannen und Wohlfühlen, sondern ein Land, das aus schier undurchdriglichem Dampf und bald auch aus Tod errichtet war. Begonnen hatte das alles urplötzlich in der Nacht, nach der wir die eiszeitliche Frauenhand und ihr Armband entdeckt hatten, und es dauerte nur wenige Tage, bis sich die Antenora-Grube mit dem unheimlichen Nebeldunst füllte.

Nachdem mich Krakow ins Labor bestellt hatte, legte man auf seine Anweisungen hin auch vorsichtig den Rest des Leichnams freigelegt und brachte sie ebenfalls nach oben in seine Privatanlage. Die Männer, die die Mumie auf einer Krankenbahre abtransportierten, mussten dabei Gasmasken tragen und durften den wertvollen Körper nur mit Kunststoffhandschuhen berühren. Obwohl die federleichte Mumie steifgefroren und unbeweglich wie ein Stück Astwerk war, hatten die Träger den verstörenden Eindruck, die Tote würde nur schlafen und könnte in jedem Augenblick die Augen aufschlagen. Ihre Wangen waren eingefallen und die Haut dunkel und lederartig. Aber ihre Kleidung, die aus einer Hose aus grob zusammengenähten Fellstücken, einem langen, an der Taille gegürteten Hemd aus Hanffasern bestand, war nahezu unversehrt und von der Zeit kaum in Mitleidenschaft genommen. Dazu trug sie an den Füßen hohe Schnürstiefel aus Robbenfell – war also insgesamt nicht wesentlich anders angezogen als die örtlichen Jäger und Hirten, die im Gebirge lebten. Nach Aussage der Männer wirkte die Frau aus der Eiszeit, die sicher schon 12.000 Jahre alt war, lebendiger als mancher unter ihnen. Alle waren froh, als die Mumie ohne Zwischenfall im Labor hinter verschlossenen Türen angelangt war und der Alltag wieder beginnen konnte.

[Zum 16. Teil …]

Die drei bisher erschienen Bände der Geltsamer-Trilogie mit ihren neuen Titelbildern. Sie sind in jeder gutsortierten Buchhandlung und selbstverständlich überall als E-Book erhältlich.

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