»да – Ja. Aber ich wurde auch zu Ihrem Schutz abgestellt.«
»Als ob ich den brauchen würde! Seit vier Dekaden bewahre ich den ›Schlüssel‹ für euch auf. Auch wenn ich nie daran glaubte, dass einmal der Tag kommen würde, an dem die Pagen ihn zurückfordern würden. Ich habe ihn behütet. Das war ich meinem Peptej schuldig. In all den Jahren habe ich durchgehalten. Die Hyänen haben mich bespitzelt und wie ich jetzt weiß, niemals aus den Augen gelassen. Von der ›Buchhandlung‹ jedoch habe ich nie mehr etwas gehört – bis sie gestern wieder auftauchte!«
»Das geschah ausschließlich zu Ihrer Sicherheit, glauben Sie mir. Es wäre viel zu gefährlich gewesen, wenn wir weiter Kontakt mit Ihnen gehalten hätten. Aber wir waren immer in Ihrer Nähe, hatten immer einen Blick auf Sie. Aber wir mussten vorsichtig sein. Wenn die Hyänen geahnt hätten, dass Sie den ›Schlüssel‹ besitzen, würden Sie jetzt wohl nicht mehr leben.«
»Natürlich ahnten sie etwas, mein Junge. Besonders einer von ihnen. Wie eine Spinne hat er ein Netz um mich gewoben. Darin sitzt er seit Jahrzehnten geduldig und wartet. Wenn die Hyänen etwas besitzen, dann ist es Zeit. Sie bedeutet ihnen nichts. Auch jetzt hockt er im Geheimen und beobachtet mich. Zumindest versucht er es.« Ich deutete zur Badezimmertür, aus der das Rauschen der Dusche erklang.
»Ich dachte die ganze Zeit, es sei einer dieser grotesken Zufälle in meinem Leben gewesen, dass von allen ausgerechnet Taganow der Direktor des Kolonai wurde. Ich glaubte, er hielt mir nur für einen schwachsinnigen Alten unter vielen. Niemals kam mir der Verdacht, dass auch er mich erkannt hatte. Schließlich war ich ja direkt nach meiner Entlassung aus dem Gulag in meine jetzige Tarnexistenz geschlüpft und hatte sorgfältig mit der Hilfe der Pagen alle Spuren verwischt, die mich mit meinem früheren Ich verbanden. Das war nach der chaotischen Amnestie vom 17. März 1953 kein Problem, während der auch Antenora ›liquidiert‹ wurde. Hunderttausende kehrten abgerissen und ohne Papiere aus den sibirischen Lagern zurück. Da war es nicht schwer, mir die Identität von einem Unglücklichen zu stehlen, der nicht so viel Glück wie ich hatte und in Antenora erfroren war. Ich trat ins Militär ein und begann mein zweites Leben. Ich heiratete ›Птичка моя‹ – mein ›Vögelchen‹ und stieg bis zum Adjutanten von Generalmajor Nischenko auf, dem ich meinen Platz hier im Kollontai verdanke. Ich glaubte mich in Sicherheit. Nie hörte ich etwas von den Pagen, nichts von den Hyänen, nichts vom ›schwarzen Buch‹. Dies alles lag hinter mir wie ein Albtraum, aus dem ich erwacht war. Doch in all der Zeit gab es einen, der mir auf der Spur blieb und mich belauerte. Das erkenne ich erst jetzt. Seit ich ihn in Antenora beinahe getötet hatte, war er hinter mir her. Er trägt zwar ein neues Gesicht – das alte ist ja verbrannt! – aber seine Augen haben ihn verraten. Es sind die Augen der Hyäne.«
Jetzt war es an Wyschnin, schockiert zu sein. Diese Runde ging an mich. »Alter Mann, du meinst …«
»Ja. Dmitri Alexandrowitsch Krakow und Igor Igorowitsch Taganow sind ein und dieselbe Person.«
❧
Siehst du, Freund Leser, ich war ehrlich zu dir. Jetzt weißt du schon fast alles. Aber lass mich noch schnell ein paar Lücken füllen, bevor ich ich mich auf den Weg mache. Nachdem der arme Wyschnin meine Mitteilung verdaut hatte, brachen wir unser konspiratives Gespräch eilig ab, denn er musste sofort die ›Buchhandlung‹ informieren. Wir verabredeten uns auf morgen Nachmittag. Ich würde in der Zwischenzeit den ›Schlüssel‹ aus seinem Versteck holen, das selbstverständlich nicht im Heim ist, sondern an einem anderen Ort, den ich allerdings problemlos zu Fuß erreichen kann. Selbstverständlich erzählte ich ihm nicht, was ich sonst noch zu erledigen hatte. Denn meine kleine Sünde, Lasar mit Brennspiritus zu vergiften, ging ihn nun wirklich nichts an. Würde ich nach so vielen Jahren endlich von der Last befreit worden, die mir Wastija aufgebürdet hatte? Du erinnerst dich? Ich rede von Sebastian Kerr, dessen Urenkelin nun geboren war. War damit meine Aufgabe erfüllt, die begonnen hatte, als ich als grüner Junge im literarischen Club Väterchen Bulgakows Buch gestohlen hatte? Ich hoffte es.
Freilich ist inzwischen alles ganz anders gekommen. Aber das weißt du ja auch schon, mein aufmerksamer Leser. Nachdem Wyschnin die ›Wanze‹ wieder an ihrem ursprünglichen Platz angebracht und sich von mir verabschiedet hatte, muss er sich irgendwie verraten haben. Vielleicht war er sogar so töricht und hat Krakow (bei diesem Namen werde ich jetzt bleiben) konfrontiert. Ich weiß nicht, ob es ihm noch gelungen ist, die anderen Pagen vor dem Direktor zu warnen, bevor dieser ihn umgebracht hat. Und ich bin bei meinem Versuch, meine kleine Giftattacke auf Lasar zu vertuschen, über Wyschnins Leiche gestolpert und musste mich in Krakows Büro vor dessen Handlangern verbergen, die mich zwar nicht entdeckten, aber einschlossen. So weit – so schlecht.
Aber nachdem ich meine Gedanken geordnet hatte, während ich im Dunkeln hektisch mein abendliches Abenteuer aufnotierte, fiel mir wieder etwas ein, das Wyschnin in unserem kurzen Austausch erwähnt hatte: Krakow besaß offenbar in seinem Büro ein geheimes Zimmer, von dem aus er mich abhören wollte. Das musste ich finden und mich darin verbergen. Dort war ich vor der Rückkehr von Renat und Petr sicher, denn sie wissen sicher nichts von diesem Versteck. Es war nicht einfach in der Dunkelheit, aber ich habe die unscheinbare Tapetentür nach einigem Abtasten und Klopfen recht schnell gefunden. Länger dauerte es dann, bis ich den geheimen Öffnungsmechanismus entdeckte. Ich will dich nicht mit meiner Suche langweilen, denn schließlich weißt du ja schon, dass sie erfolgreich war und ich gerade in Sicherheit bin. Die verborgene Tür öffnete sich von Zauberhand, als ich ein Buch im Regal neben ihr nach vorne zog. Es war übrigens Houdinis The right way to do wrong, was ein bezeichnendes Licht auf Krakows Charakter wirft.
Sein Geheimversteck liegt leider nicht auf der gleichen Ebene wie die Zimmer des Direktorats, sondern viele Stockwerke tiefer im Keller des Heims verborgen. Dorthin führte mich eine Art Fluchttreppe aus Gitterrost-Stufen, die in einen Schacht hinein gebaut war. Er wurde wahrscheinlich ursprünglich vom Architekten des Kollontai für den Einbau eines Fahrstuhls entworfen. Da ich in dem Halbdunkel, in dem auf meinem Weg hinab nur ab und an mal ein kleines Notlicht brannte, nur wenig sah, tastete ich mich langsam und vorsichtig in die Tiefe. Zu meinem Glück gab es ein Geländer. Ich will nicht wieder über mein Alter jammern. Aber Treppensteigen, auch wenn es abwärts geht, zählt nicht zu dem bevorzugten Zeitvertreib eines bald neunzigjährigen Säufers mit Herzproblemen. Ich benötigte für meinen Abstieg eine gute halbe Stunde. Dabei bat ich die Wladimirskaja, die Gottesmutter von Wladimir, dass dies keine Sackgasse war und ich später den ganzen Weg wieder hinaufsteigen musste.
»Du bist doch Marxist und Atheist!«, sagst du unwillig. »Warum flehst du eine alte Ikone an, auch wenn sie ein Nationalheiligtum ist? Glaubst du, ein Götzenbild kann dir helfen?« Du hast recht. Ich glaube nicht an die Macht eines bemalten Holzbretts, auch wenn ich es manchmal bedauere. Aber ich habees nie bereut, wenn ich mir eine weitere Option freigehalten habe. Ein Stoßgebet an die Madonna schadet doch nicht. Schau mal: Die Tür am Fuß der Treppe, die ich endlich keuchend und abgekämpft erreichte und sich gefühlt kurz vor dem Mittelpunkt der Erde befand, wäre wahrscheinlich auch offen gewesen, wenn ich die Gottesmutter nicht darum gebeten hätte. Aber weiß man es?
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Die drei bisher erschienen Bände der Geltsamer-Trilogie mit ihren neuen Titelbildern. Sie sind in jeder gutsortierten Buchhandlung und selbstverständlich überall als E-Book erhältlich.
2 Antworten auf „In den Bücherkellern des Vatikans (14)“
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