Doch von alldem wusste Jan Philipp Rabenhorn noch nichts. Denn er war weiterhin in seinem Fiebertraum gefangen.
Und Marie-Theres kam über ihn, wurde geschichtet wie Kohl und im Fass gärte ihr Saft zu saftig Weinigem, während sie Karl-Heinzens Zunge englisch brieten: Halleluja! …
Und selbst in den wirren Gedankenlabyrinthen seiner Ohnmacht erledigte Rabenhorn noch zuverlässig seinen Job:
»So hätte Friederbusch schreiben müssen, so wird im 21 Jahrhundert zeitgemäß gedichtet! Ich nenne euch nur einen Namen und den mit der nötigen Ehrfurcht: ›Durs Grünbein!‹ Ha! Durs und nicht anders, und ›Friedi‹ wäre ein Großer. Mit einem Weihnachtshund jedoch, mit Singing Sam, diesem absonderlichen Schmuseesel und mit gefährlichen Karlnickeln aus dem Abgrund wird dieser Schreiberling zugrunde gehen … und eigentlich: In Bezug auf sein schamloses Verhalten hier im Büro ist das sogar wünschenswert!«
Rabenhorn erschrak, erwachte fast aus den bunten Bildern seiner Phantasmen. Moment, hatte er gerade von langlebigen Karlnickeln geträumt? Was war denn das für ein Unfug? Wie kam er denn darauf? Er kniff seine Augen fest zu. Aber das Fieber ließ ihn nicht los.
»Und es ging ein Raunen durch die Straßen. Ein Flüstern durch die Gassen. ER war auferstanden aus den Eingeweiden der Stadt, suchte seinen Nachkommen, um zu retten, was noch zu retten war. ER, der ER seit Jahrhunderten rumorte wie schwerverdaulicher Schichtkohl. Karl-Nickel, der Karldinalgroßfürst, genannt Karldinalkaiser und im Volksmund Karlnalrumpelstilz. Doch jetzt war ER da. Und der Karlnikolaus suchte, schnüffelte, fand. Er war mitten unter uns, mitten im Advent. Angekommen wie angekündigt in den Archiven der Stadt, wo die geheimgehaltene Weissagung hinter sieben Türen ängstlich verborgen gehalten wurde. ER, der Herr und UR-UR-UR-UR-und-so-weiter-und-so-weiter-und-so-fort-URAHNE des Geschlechts derer von Ceratias-Corvus.
Und ein Schauern fegte durch die kalten Schluchten aus Schichtbeton und Schichtkohl, durch Nachtschichten und Tagschichten, durch alle Schichten der schlichten Bevölkerung.«
Aber nur das feine, ahnungsdralle Gemüt des Lektors Jan Philipp Rabenhorn erfasste den Ernst der Gegenwart mit einem visionären Blick seines dritten Auges hinter seiner fieberigen Stirn: Karl-Nickel war adveniert und er plante etwas! Friederbusch hatte seine Aufgabe erfüllt, Verkünder und Vorbote zugleich, er war nur das hohle Gefäß, das der Rumpelstilz zum Klingen gebracht hatte. Der echte Karl-Heinz leckte dem Lektor über die schweißnasse Stirn, aber das bemerkte er kaum. Rabenhorn sprang im Fieberwahn auf. Er sah eine blinkende Kienbauer in ihrer halben Nacktheit vom Leuchter herabsinken.
»Marie-Theres, schnell weg von hier! Er kömmt über dich! Er wird dich nehmen, füllen, schichten wie Kohl. Karl-Nickel, der inkarlnalische, der untergründige, er ist aufgefahren aus den Katakomben. Nichts wie weg hier! Sonst bist du dran!«
Mit diesen Worten fasste er Marie-Theres Kienbauer, die Herrin des Kienbauer-Imperiums, beim eingebildeten Schweifstern und schleifte sie zur Tür hinaus.
Friederbusch und sein Hund blickten ihnen fassungslos hinterher.
Jan Philipp erwachte, rieb sich genüsslich die Augen, griff dann in die zerwühlte rechte Betthälfte, suchte, fand aber beruhigende Leere und seufzte erleichtert. Das war wohl noch einmal gutgegangen! Alles nur ein schlechter Traum: Kein bärtiger Türke schlief neben ihm, kein fetter Köter mit Weihnachtsmütze auf dem Kopf war zu einem blonden Drachen mit den Gesichtszügen von Marie-Theres Kienbauer mutiert. Helga Jolanda Weißeggerle-Rabenhorn, seine Ex-Gattin und ehemalige Muse der Schreibkunst, hockte nicht zeternd auf einem Drachenhort neben seinem Bett, sondern seit der unerfreulichen Trennung vor vier Jahren weiterhin in ihrer eigenen Wohnung, die er ihr bezahlte.
Rabenhorn erinnerte sich nur ungern an die etwas unbequeme Phase seines Lebens, als auch er, der er doch eigentlich über solchen Dingen stand, der Krise der mittleren Jahre verfiel und er sich sterblich in eine blutjunge, bemerkenswert vollbusige und dabei doch so tief vergeistigte Dichternymphe verguckt und geheiratet hatte. Wahrscheinlich hockte Helga im Moment verhuscht und verträumt vor ihrem Computer, postete in Instagram und in irgendwelchen Literaturforen Schlechtgereimtes und Weihnachtsglückwünsche – schließlich war heute der Hl. Abend.
»Ach, wie liebe ich diese stille Zeit!«, rief Rabenhorn sich rekelnd aus, schwang die ansonsten schweren Beine leicht aus dem Bett, schlüpfte in seine warmen Puschen und hüpfte wie ein Tänzer in die Küche. Dabei ignorierte er einen leichten Kopfschmerz, der ihm von seinem Alptraum oder – wahrscheinlicher – der Erinnerung an seine Exfrau übriggeblieben war.
Als er bald darauf noch im Morgenmantel mit einer Tasse seines Lieblingskaffees vor seinem privaten Internetzugang saß, um seine Mails durchzusehen, überlegte er, ob er nicht längst wüsste, was sich heute wieder alles bei ihm auf dem Bildschirm tummeln würde – in seiner eigenen kleinen Welt war es schließlich recht übersichtlich. Und das zumindest sollte auch so bleiben!
Es war so, wie nicht anders zu erwarten: Neben den üblichen Weihnachtsgrüßen von Verlegern und fernen Bekannten, neben Preisokkasionen – was für ein entsetzliches Wort! -, heiratswilligen russischen Damen und Angeboten für blaue Pillen und Krankenversicherungen waren sie über Nacht wieder aus ihren Löchern gekrochen, hatten sich in ihren literarischen Schweißausbrüchen gesuhlt, sich mit ihren glitschigen, schmierigen Fingern verkrampft über die unschuldige Sprache hergemacht und ihn als Unschuldigen mit allem überschüttet, was eigentlich Dinghaft auslösen müsste – immer und ewig auf und über ihm, dem seinem Selbstverständnis nach weltbesten Lektor! Wenn er all die unverlangten Manuskripte ausdrucken sollte, die als PDFs oder WORD-Dateien in seinem Mailkonto strandeten, würde er Tonnen an unschuldigem Papier damit besudeln müssen!
War das sein persönliches Purgatorium? Musste er wirklich über diese trüben, gelblich schillernden Bäche springen? Auch heute, am Heiligabend, da es wieder mal zu kalt war, um überhaupt irgendwo einkehren zu können, es sei denn unter einer warmen Decke?
Er öffnete die Datei-Anhänge der Autoren-E-Mails. Was war das?
›Die Mamille des Todes – Ein Engelsgesicht mit Spitzhackenbrüsten, das eine schwedische Kleinstadt terrorisiert!‹ Erbarmen! Nein, danke …
›Eishart und Gwendulina – Eine sprechende Parkbank und ein erfrorener Penner. Eine Schneekönigin-Allegorie?‹ Was wird diesem Autor noch alles einfallen, wenn ihm nichts mehr einfällt? Nein, danke!
›Aber ein Traum – der aber eigentlich gar kein Traum ist, sondern aber eine geträumte Wirklichkeit in einem Traum, der aber von der Wirklichkeit träumt‹? Das passte zwar auf seine eigene Situation, aber: Wer will von so etwas schon über 400 Seiten lesen, Herr Klammer? Nein, danke!
›Karl-Heinz, der Weihnachtshund uns der König der Karlnickel‹ – noch eine Hundegeschichte? Bloß nicht! Die Welt war mit dem unsäglichen ›Weihnachtshund‹ von Daniel Glattauer gestraft genug. Zusammen mit dem Philosöphchen Richard David Precht war er der unangefochtene Herrscher über die literarischen Vorhölle! Wie war denn der große Friederbusch ausgerechnet auf solch ein ausgelutschtes Thema gekommen?
All diese E-Mails hatte Rabenhorn erwartet. Sein Zeigefinger tippte lässig im Takt von Jingle Bells und alles verschwand im Orkus des Junk-Ordners. Damit war seine Arbeit für heute getan; für heute und den Rest der Weihnachtswoche. Er hatte sich zwischen den Jahren freigenommen, um endlich seine Wohnung zu renovieren.
Rabenhorn stellte den PC aus, warf sich ungewaschen die Arbeitsklamotten über, nahm sich einen Brenner und einen alten, metallenen Eiskratzer. Er begann, von außen an der Badtür die gelbliche Lackfarbe heißzumachen und sie abzuschaben. Solch händische Tätigkeit war wenigstens noch etwas Ehrliches, Reines. Hier war der Werktätige noch nicht von seiner Arbeit entfremdet. Konstruktivität, Freilegen der Struktur. Dieses wohltuende Entfernen des Altangebrachten. Und Farbe stinkt! Holz nicht. Also weg mit der Farbe! Tod der modernden Farbe und dem Altanstrich, der sich nur modern nennt! Hatte er tatsächlich vierzig Jahre über Büchern gesessen, um zu wissen, dass er eigentlich nur ein Abbrenner und Lackierer werden wollte?
»Wenn das keine Weihnachtsbotschaft ist!«, dachte er euphorisch. »Arbeitet im Schweiße eures Angesichts, Leute, Möchtegernschriftsteller, nicht im Geiste! Vornehm ist das Handwerk. Sinnentehrend, sinnentleert ist allein das Geisteswerk!«
Und da er das dachte, lächelte er und verbrannte sich die Hand am heißen Brenner. Rabenhorn ließ das Heißluftgerät auf den Boden fallen. Es schmorte ein Loch in den wertvollen Berberteppich vor der Tür. Wütend riss der Lektor das Kabel aus der Steckdose. Das war er doch, der Unterschied zwischen der Literatur und dem wahren Leben: Das Leben schmerzt! Und es geht immer weiter. Da gibt es kein ENDE und alle singen glücklich Weihnachtslieder. Man muss sich ständig auf Neues einstellen, kann nicht im Index nachschlagen oder ein paar Seiten zurückblättern, wenn man etwas nicht versteht oder einen Namen vergessen hat. Rabenhorn rieb sich über die brennende rote Stelle an seiner Hand und überlegte, was zu tun war.
»Kaltes Wasser«, fiel ihm ein, »eine Brandblase muss man kühlen. Und dann eine Salbe drauf.« Ah, das war kein vollständiger Satz: »Und dann muss man eine Salbe über die Wunde streichen.« Jetzt hatte er eine »muss man«-Wiederholung, das war sehr schlechter Stil: »Und dann sollte man besser eine Brandsalbe über der Wunde verstreichen.«
Gut so. Rabenhorn trat also ins Badezimmer, wo er kurz die Vision eines in Fett und Filz eingewickelten Joseph Beuys hatte, der auf dem fest getrampelten Erdboden eines russischen Bauernhauses seine Brandwunden überlebte. Doch es war nur ein schlafender, müffelnder Hund, über den er beinahe stolperte.
Was heißt ›nur‹? Das war ein Riesenvieh, das Untier! So entsetzlich groß, dass Rabenhorn nicht an ihm vorbei zum Waschbecken gelangen konnte. Aber seine Brandwunde war eh vergessen! Was hatte er eigentlich noch im Badezimmer gewollt? Der Hund, so fiel ihm siedend heiß ein, der hieß ›Karl-Heinz‹. Jetzt kam die Erinnerung wieder mit voller Wucht, und er bekam weiche Knie. Rabenhorn trat einen Schritt zurück, setzte sich schwer auf den hölzernen, wohlig vertrauten Deckel seiner Kloschüssel.
Von wegen Traum! Alles kam zurück, kristallklar schälte sich die Erinnerung an den gestrigen Tag aus seinem Gedächtnis, als wäre der Anblick des Hundes ein heißer Küstenwind, der den Nebel verjagt:
Er konnte das furchtbare Manuskript voller Rechtschreibfehler und verunglückten Halbsätzen von Friederbusch geradezu vor sich sehen, dann folgten der Fieberanfall und die oben zwischen den Neonröhren schwebende, halbnackte Witwe seines ehemaligen, geliebten Verlegers und jener entsetzliche Kalbshund, der ihm das Gesicht abschleckte. Auch der alte Familienfluch der Rabenhorns fiel ihm wieder ein, jener Jahrhunderte alte Fluch, von dem ihm Herbert Emanuel Kienbauer in seiner Sterbestunde berichtet und an den der Lektor nie geglaubt hatte – gleichzeitig die Erkenntnis, dass Marie-Theres Kienbauer in höchster Gefahr war! Gestern war der Schock des Begreifens wie ein Faustschlag gewesen, der ihn ohnmächtig vor seinem Schreibtisch niederstreckte. Dann, noch wie betäubt, hatte er handeln wollen, denn nur eine Person konnte hier noch helfen, auch wenn Rabenhorn eigentlich nicht an sie glaubte. Daher hatte er Marie-Theres gepackt und die Widerstrebende zum Aufzug gezerrt. Doch was dann geschah …
Rabenhorn konnte sich nicht erinnern. Ein unheimliches Loch war in seinem Gedächtnis. Der Aufzug öffnete sich, das wusste er noch. Aber dann? Und wie kam er in der Nacht in sein Bett, und wie dieser vermaledeite Hund von Friederbuch in sein Badezimmer? Fehlte nur noch ein singender Esel in seinem Kleiderschrank, der lautstark Felis Navidad! sang! Der Lektor sackte auf der Toilette in sich zusammen, presste die Fäuste gegen seine Stirn, aber er konnte keine weitere Erinnerung hervorquetschen. Alles war schwarz. Das erste, was er wieder wusste, war eben sein Erwachen im Bett mit dem niederdrückenden Gefühl, schlecht geträumt zu haben.
Da hörte er ein Geräusch an seiner Wohnungstür, es klang, als würde jemand an seinem Schloss herumfummeln. Rabenhorn stand auf, zog den Badschlüssel ab und sperrte so den noch immer schlafenden Hund ein. Er öffnete mit Schwung die Tür. Vor ihm stand herabgebeugt ein kleiner, untersetzter Mann mit imposantem Schnauzbart, ein ›Bürger mit Migrationshintergrund‹, wie Rabenhorn für sich feststellte. Einen Schlüssel, der dem Lektor bekannt vorkam, hielt er nach vorn gestreckt in der einen, eine Tüte mit verlockend riechendem Backwerk in der anderen Hand. Rabenhorn war sicher, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben. Das war wahrscheinlich ein entlassener Strafgefangener, der ihm ein Abonnement des Readers Digest andrehen wollte. Welch ein entsetzliches Heft, Untergangsliteratur des Abendlandes. Oder das war einer dieser Asylanten, der vielleicht um eine Arbeit als Abbrenner und Anstreicher bettelte. Den konnte er jetzt gut brauchen.
»Ja, bitte, was wollen Sie?«, fragte er unhöflich. Sein Gegenüber hob überrascht die Augenbrauen.
»Du erinnerst dich wirklich nicht mehr, Jan? Du hast mich vergessen?«, fragte der Fremde. »Weißt du nicht mehr, wie wir gestern mit dem Schaitan persönlich gekämpft haben? Du an meiner Seite und ich an deiner? Mit Dönerspieß und Degen als Waffen gegen den Karlnickelkönig? Du und ich? Kreuzritter und Gotteskrieger vereint gegen den Feind?«
Der Türke erkannte und nickte. »Tatsächlich, du hast es vergessen. Ömer Özgür bin ich, dein guter Freund. Schließlich hast du mir deinen Schlüssel gegeben.«
Dieses Argument zog. Rabenhorn erkannte seinen eigenen Schlüsselbund mit dem kleinen Plastik-Reich-Ranicki in der Hand des anderen. Kurzentschlossen schob Ömer den verdutzten Lektor beiseite und trat ein.
»Ich habe schnell Brötchen geholt«, bemerkte er und hob seine Tüte. »Kämpfer brauchen ein gutes Frühstück. Wenn der Magen gefüllt ist, ist die Schwerthand stark.«
Aus seinem übervollen Orientalenherzen rieselten jetzt die Worte wie der Sand der Wüste oder der Schnee im Winter Ostanatoliens.
»Rabenhorn, mein Freund, Kämpfer, krass, wie wir ihn in die Flucht geschlagen haben, diese Ausgeburt der Hölle. Wir beide, der Esel und der große Hund! Aber dann stürzten sich von allen Seiten – aus allen Karnalöffnungen – die entsetzlichen Karlnickel auf uns. Wie eine Tsunamiwelle waren sie und wir standen wie Felsen in der tödlichen Brandung. Aber dann bist du gestolpert und etwas traf dich am Kopf. Weiß nicht, was es war.«
Ömer zögerte und überlegte, ob er dem Lektor erzählen sollte, dass er ihn im Eifer der Schlacht aus Versehen mit seinem Dönerspieß ins Reich der Träume verfrachtet hatte. Es entschloss sich, dieses kleine Detail auszulassen.
»Egal, was es war. Du verlorst das Bewusstsein. Wir mussten uns zurückziehen! Ich warf dich über den Hund und wir flohen vor den anstürmenden Gegnern. Gerade eben noch fanden wir den letzten freien Kanaldeckel. Aber jetzt ist nur die Schlacht verloren, noch nicht der Krieg! Wir brauchten eine kleine Verschnaufpause, dann machen wir weiter. Deshalb brachten Karl-Heinz und ich dich in deine Wohnung, Jan.«
»Wie haben Sie sie denn gefunden?« Der Albtraum setzte sich anscheinend fort.
»Aber mein Freund, dich kennt doch jeder hier in Bromberg. Ich musste nur fragen und schon redeten die Leute. ›Meinen Sie vielleicht Herrn Rabenhorn, den Gelehrten?‹ oder ›Ach, der nette Herr Professor Rabenhorn, ja, der wohnt am Lärchengrund.‹ Also kein Problem, deine Wohnung zu finden, lieber Freund. Dein Bett ist sehr weich und bequem. Allerdings müsstest du mal etwas gegen dein Schnarchen unternehmen.«
Rabenhorn wuchs um fünf Zentimeter. Er wusste, dass er angesehen und geachtet war. Doch dieser Beweis seiner stadtweiten Dominanz als Kulturmensch kam überraschend, tat seiner verletzlichen Lektorenseele jedoch gut.
»Aber was ist mit Marie-Theres Kienbauer? Der Frau mit dem Stern. Die fast nackt war. Du weißt schon. Und was ist mit Friederbusch?« Und, nach einem Zögern:
»Und wo ist der Karldinalsrumpelstilz? Mein … Vorfahr?« Erinnerungen stiegen in seinem Gehirn empor wie Kohlenstoffblasen an die Oberfläche eines Weißbiers. (Das war übrigens ein Vergleich, den er jedem Autor gnadenlos gestrichen hätte!)
Ömer lachte verschmitzt. »Wenn wir gefrühstückt haben, klärt sich alles auf. Karl-Nickel erwartet uns unten im Kanal. Er wird dir alles erzählen, was du im Fieberrausch gestern vergessen hast.«
Rabenhorn packte ihn bei den Schultern. »Sprich, was ist mit Marie-Theres?«
Ömer zuckte zusammen. »Der Böse, der Karlnickelkönig, der Fürst von Hölle: Er nahm sie mit, hinab ins Innere der Erde, wo die Feuer brennen, unter die Wurzeln des großen Pinkelbaums, von denen er sich und eine abscheuliche Brut ernährt. Heute Nacht muss es sich entscheiden!«
Rabenhorn wankte. Sollten alle Kämpfe, an die er sich nicht mehr erinnern konnte, vergebens gewesen sein? Alle Angst, alle Anstrengung, die Wunden an Seele und Körper, alles umsonst? Aber just an diesen Punkt seiner Verzweiflung regte sich das Blut seiner Vorfahren in ihm: Niemals! Und wenn er dem Scheusal bis in die städtische Kloake folgen müsste, er würde Marie-Theres retten.
»Los, Ömer, wir müssen sie befreien. Wir dürfen keine Zeit verlieren.« Und mit einer Kaltschnäuzigkeit, die er sich selber niemals zugetraut hätte, lief er ins Bad, packte den völlig verdutzten und tranigen Karl-Heinz-Hund bei den Ohren und schleifte ihn zur Tür hinaus.
»Ömer, auf geht’s! Auf in den Kampf! Wir retten das ehrbare Weib aus den Fängen des Untiers!« Der Dönerbudenbesitzer schleuderte die Tüte mit dem Backwerk zur Seite.
»Das ist mein Held! Hurra! So wollen wir Mord rufen und des Krieges Hund’ entfesseln!« Und mit diesem theatralischen Aufruf (Julius Cäsar, 3. Akt, 1. Szene) zogen sie von dannen, öffneten den nächstgelegenen Kanaldeckel und verschwanden gemeinsam in der Unterwelt.
Jan Philipp Rabenhorn hatte erwartet, dass die Kanäle seiner Heimatstadt eine feuchtklammer-rutschigheunsche Angelegenheit waren, erbärmlich fies nach allerlei in diesem Weihnachtsmärchen Unaussprechlichem stanken und zappen-zappeldunkel waren, aber das genaue Gegenteil war der Fall: Überall leuchtete es grün und gülden funkelnd von den speckigen, wie aus Lebkuchen geformten Wänden und es lag ein appetitlicher Geruch nach Weihnachtsstollen und allerlei anderem würzigen Backwerk in der warmen Luft.
Der Lektor rieb sich die Augen, doch die Sinneseindrücke veränderten sich nicht: Dies waren keine düsteren Abwässer mehr, in denen zwischen Herabgespültem aus zehntausend Toiletten eklige große Ratten schwammen, nein, hier unten sprudelten zwischen glitzernden Schneehäufen glühweinrote, nach Zimt und Tannennadel riechende Wasserläufe durch die Gänge, munter singende Bächlein, in denen sich fröhlich Lametta-Sprotten, Nikolausbarsche, Engelshaarrochen und Weihnachts- kugelfische tummelten.
Rabenhorn fragte sich nur kurz, woher er die Namen dieser Tiere kannte, die sich ja in keinem ichthyologischen Fachbuch fanden – schließlich hatte er das eine oder andere lektoriert – aber er hatte sich ja vorgenommen, sich über nichts mehr zu wundern. Trotzdem sah er sich staunend um. Die Unterwelt von Bromberg an der Fiesel war eine geschmacklose Weihnachtswunderwelt, ein unterirdisches Rothenburg ob der Tauber.
2 Antworten auf „Karl-Heinz, der Weihnachtshund, und der König der Karlnickel – DREI“
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