»Certo! Das waren sie. Aber seit wann ist unser kleiner Geheimbund eine Diktatur, in der du der Tyrann bist? Ich finde, es wäre doch besser, wenn ich mit euch mitkomme. Mercedes und Isa sind ein eingeschworenes Team. Sie kommen gut ohne mich zurecht. Aber euch kann ich helfen«, erläuterte Marini gelassen seine Befehlsverweigerung, nachdem er den Schlüssel sorgfältig in seine Hosentasche gesteckt hatte. Er hob in opernhafter Verzweiflung die Hände vor sich, als würde er an einem Apfelbaum schütteln.
»Überlege doch mal, Elena: Drei Zeugen sind zum einen wesentlich überzeugender als zwei – schließlich kenne ich im Gegensatz zu Niccolo die ganze Geschichte. Und dann könnten wir vielleicht doch noch unseren geplanten kleinen Ausflug in die Bücherkeller des Vatikans unternehmen und nach den anderen suchen. Wie findest du das? Außerdem sind deine Ortskenntnisse über Rom schon ein wenig veraltet, non?«
Verena legte den Kopf schief und kniff ein Auge zusammen. Mit dem anderen musterte sie den kleinen Mann aufmerksam und schätzte ihn ab. Klammer erschien diese Körperhaltung wie auswendig gelernt und sehr gekünstelt. Ihm war, als hätte er diese Haltung oder eine ganz ähnliche schon einmal in einem Film oder auf einem Foto gesehen. Aber obwohl es ihm ganz vorne auf der Zunge lag, fiel ihm einfach nicht ein, bei welcher Gelegenheit das gewesen war. Das Gesicht der geheimnisvollen Frau wurde kurz vollkommen leer, dann nickte sie.
»Ja, ich gebe es zu«, gab sie sich geschlagen. »Seit dem nasskalten Sommer 1816 hat sich hier in der Ewigen Stadt einiges verändert. Und nicht nur zum Guten.«
1816? Klammer biss sich auf die Lippen. Wie alt ist diese Frau eigentlich? Kennt sie etwa das Geheimnis der Unsterblichkeit? Und geht es in Wahrheit etwa darum? Ist sie eine Art ›Ewiger Jude‹?
»Aber irgendwie glaube ich, du hast auch noch einen anderen Grund, uns zu begleiten, oder?«, fuhr Verena nun wieder gelassen fort. Sie lächelte dabei wissend, doch Marini zuckte nur mit den Schultern.
»Gehen wir endlich?«, fragte er und fügte nach kurzem Zögern geheimnisvoll hinzu: »Es wird auch mit deiner Führung schwierig genug werden, aus diesem Labyrinth herauszufinden.«
Die Strecke nach vorne zur Kreuzung, an der die Vicolo della Volpe zuerst in die Vicolo della Pace und anschließend in die Via d‘Lorenesi mündete, wo das von Efeu überwucherte Hotel Raphael seinen Haupteingang hatte, war nur einige hundert Meter lang. Die Gasse war so schmal und eng, dass sie kaum Gelegenheit bot, nebeneinanderzugehen. So mussten die drei mit Verena Salva an ihrer Spitze im Gänsemarsch laufen und sich dabei ganz eng an die schmutzigen, braunen Hauswände pressen, um für die ihnen entgegenkommenden oder sie in tollkühnen, lautstark hupenden Ausweichmanövern überholenden Vespas kein Verkehrshindernis zu sein. Diese lauten Motorroller schwärmten plötzlich, wie auf ein geheimes Signal hin, durch die eigentlich nur für Fußgänger zugelassene Vicolo. Sie glichen einem aufgeregten Hornissenschwarm. Die nahe Santa-Maria-del-Pace-Kirche läutete gerade zur Vesper. Sie verbarg sich hinter einer hohen Mauer, deren Putz schimmelfleckig war und an vielen Stellen abplatze.
Klammer drehte sich zur Seite und ließ eine stinkende, in Altrosa lackierte Vespa an sich vorbei. Auf ihr saß eine junge Römerin, deren dunkle Lockenpracht unter ihrem ebenfalls rosafarbenen Helm hervorquoll. Sie schien dem Autor etwas zuzurufen, während sie ihn überholte. Aber Klammer konnte ihre Worte wegen des infernalischen Lärms aus dem qualmenden Auspuff ihrer Maschine nicht verstehen. Merkwürdig! Er fragte sich, ob die Uhrzeit der Grund war, aus dem unvermittelt so viele Zweiräder mit knatternden Zweitaktermotoren ihren Weg ausgerechnet durch dieses unscheinbare Gässlein bahnten, als wäre es eine Hauptverkehrsader. Dieses aus dem Nichts aufgetauchte Verkehrschaos hatte schon etwas Bedrohliches und auch Apokalyptisches. Er war längst darüber hinaus, eine solche Erscheinung als zufällig abzutun. Seit er dem Avvocato Ienalli begegnet war, schien ihm alles um ihn herum voller Zeichen und geheimer Codes. Er ertappte sich bei dem Gedanken, ob nicht auch die Anordnung der kleinen, holprigen Pflastersteine am Boden eine geheime Bedeutung besaß, die ihm nur verborgen war, weil er nicht ihre Verschlüsselung verstand. Und nun erschien ihm auch der Weg durch die Gasse wesentlich länger als vorhin, als er sie auf der Suche nach der Buchhandlung vorsichtig in die andere Richtung hinuntergegangen war.
Nach dem virtuellen Stadtplan, den er zuhause am Computer studiert hatte, war die Vicolo della Volpe nicht einmal hundert Meter lang und mündete in nördlicher Richtung beim Uhrengeschäft Brandizzi in die Via dei Coronari. Doch nun erschien sie ihm wie ein schier endloser, beängstigend enger Schlauch, der sich mit jedem Schritt weiter vor ihm aufrollte und dessen Ende sich mit jedem Schritt weiter von ihm entfernte. War dies ein ähnlicher Effekt wie jener, den er gestern Vormittag auf der Kellertreppe in dem Haus in der Augsburger Altstadt erlebt hatte? Auch dort hatte es sich für ihn so angefühlt, als hätte er währenddessen Jahre und nicht nur Augenblicke erlebt. Er verzögerte seinen Schritt und wandte sich halb zu Marini um, der zwei Schritte hinter ihm ging. Der ehemalige Priester hielt die Hände in die Hosentaschen gesteckt und pfiff schräg, aber unverkennbar, die Anfangstakte der ›Kleinen Nachtmusik‹. Marini holte auf.
»Ich habe Ihr Buch über die Geheimgesellschaften gelesen«, behauptete Klammer frech, obwohl er nur den Abschnitt über die Illuminaten überflogen hatte. In Marinis Gesicht ging die Sonne auf und seine Augen wurden hinter seiner lupenartigen, schwarzen Hornbrille noch größer.
»Davvero?«, fragte er erfreut und machte synchron mit Klammer einen Sprung zur Seite, um einer weiteren Vespa-Fahrerin auszuweichen, die von hinten angerollt kam. Marini musste schreien, um deren Krach zu übertönen. Auch dieser Motorroller war rosa lackiert, genau in dem Farbton, in dem auch der Helm gehalten war, den die Lenkerin keck über ihre herrlichen, schulterlangen Locken gestülpt hatte. Rief sie den beiden etwas zu? Bei dem Lärm war das schwer zu sagen.
Kommen hier denn immer wieder die gleichen Motorroller vorbei? Wie verrückt ist das denn? Wenn das ein Traum ist, fragte sich Klammer, wann habe ich dann eigentlich begonnen, ihn zu träumen?
Marini, der die Konfusion sah, die in Klammers Gesicht erschienen war, schob ihn noch näher an die bröcklige, mit Graffitis beschmierte Mauer heran. Er fasste ihn vertraulich unter den Arm. Um das weiterhin stete und einfach nicht enden wollende Läuten der Kirchenglocken und das Knattern der Zweitakter zu übertönen, schrie er dem Autor nun direkt ins Ohr.
»Das muss dich beunruhigen, Niccolo. Du bist das noch nicht gewöhnt. Diese merkwürdigen Zustände erscheinen immer, wenn die Buchhandlung zwischen zwei Orten … wie soll ich sagen? … ›transitiert‹. Es ist, als würden ihre Räumlichkeiten in ihrer näheren Umgebung ein Vakuum zurücklassen, in dem die Wirklichkeit wie ein altes Dieselaggregat einige Anläufe benötigt, bis sie stotternd wieder in Gang kommt und die klaffende Lücke mit …, ja, mit ihrer Realität ausfüllt. Ich habe keine Erklärung dafür, denn ich bin Historiker und kein Physiker. Der Spuk müsste aber gleich vorbei sein«, erläuterte er.
Klammer verstand kein Wort. Die Römerin in Rosa fuhr ein weiteres Mal knatternd durch die endlose Gasse und an ihnen vorbei. Doch diesmal schien sie die Gruppe Fußgänger zu bemerken, denn sie drehte ihren Kopf nach ihnen.
»Was ist mit euch, wollt ihr hier Wurzeln schlagen?« Verena, die schon ein gutes Stück vor den Männern war, drehte sich nach ihnen herum. »Darf ich euch daran erinnern, dass wir es eilig haben? Welki ist in höchster Gefahr!« Ihre Stimme übertönte ohne Schwierigkeiten den Lärm von den vorbeifahrenden Vespas und dem ekstatischen Glockengeläut, das Klammer wie einen Zahnschmerz in seinem ganzen mitvibrierenden Schädel fühlte.
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Die drei bisher erschienen Bände der Geltsamer-Trilogie mit ihren neuen Titelbildern. Sie sind in jeder gutsortierten Buchhandlung und selbstverständlich überall als E-Book erhältlich.
2 Antworten auf „In den Bücherkellern des Vatikans (10)“
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