“Es gibt nichts Behaglicheres,
als einfach zu Hause zu bleiben”
“Ärgern wir uns nicht über die Dinge,
die wir nicht haben, sondern freuen wir uns
über das, was wir besitzen.”
Jane Austen
Tja, so ist das in diesem Jahr. Das große Sodbrennen und die frühmorgendlichen Kopfschmerzen fallen aus. Der Ausschank von Glühweinen ist verboten, die Christkindlesmärkte sind abgesagt und in privatem Rahmen darf ich nicht einmal meine Söhne gleichzeitig treffen. (1) Diese Adventszeit ist spürbar anders als die anderen, melancholischer und weniger farbenfroh. aber vielleicht hat diese Beschränkung auf das Wesentliche auch etwas Gutes und es kömmt tatsächlich ein wenig Besinnlichkeit und Ruhe in die sonst so hektischen dunklen Nächte vor dem Hl. Abend. Die gute Jane Austen ist in diesen Tagen wirklich eine gute Ratgeberin und die Lektüre ihrer Bücher die beste Begleitung, die man sich gerade wünschen kann.
Vergessen wir nicht, wie es noch im letzten Jahr war. Wollen wir eine solche Adventszeit wirklich wiederhaben?
Von allem viel zu viel
Eine Glosse aus dem Jahr 2018
Die Deutschen sterben aus!
Immer weniger Kinder werden geboren, ganze Dörfer veröden zu Geisterstädten. Kirchen und Gasthäuser müssen schließen; es lohnt nicht mehr, Postboten von Tür zu Tür zu schicken, man schickt Drohnen und Roboter auf Rädern. Die wenigen, die überhaupt noch Briefe und Päckchen bekommen, sollen sie gefälligst selbst bei den seltenen Post-Service-Schaltern abholen, die sich in den staubigen Ecken irgendwelcher Zeitschriftenläden in der fernen Stadt verstecken. In der Lausitz ist wieder Wolfsgeheul über den vereinsamten, aber durch meinen Soli aufgeblühten Landschaften zu hören und die Rudel lauern den vereinzelten Rentnern auf, die sich aufgrund ihrer Altersarmut nur noch eine Billigbusreise mit Wärmedeckenverkaufsvorführung in der Provinz leisten können.
Jeder kennt diese Nachrichten. Immer, wenn den Redakteuren dieser Tage nichts mehr einfällt, Trump seinen Mund hält – schließlich muss er ja auch mal schlafen oder Golf spielen -, irgendein Model einmal nicht mit halb- oder vollkommen nacktem Hintern in eine Kamera winkt oder uns ausnahmsweise der Bayerische Ministerpräsident mal nicht die Welt erklärt, dann wird die Titelseite der Zeitungen mit der Horrormeldung von der gefährdeten Tierart „Deutscher“ befüllt und uns ein großes, textsparendes Diagramm gezeigt, das einem Pilz ähnelt. Das aber eigentlich eine Pyramide sein sollte – oder so ähnlich. Die Renten, die Sorgen … Diese Meldung erscheint seit Jahrzehnten in schöner Regelmäßigkeit und wird ebenso erregt debattiert und kommentiert wie die gerade heutzutage so bedeutende Frage, ob man weiterhin dulden sollte, dass der Hl. Nikolaus zum Weihnachtsmann amerikanisiert wird und immer häufiger keine Mitra, sondern eine rote Mütze trägt. (2) Aber auch das Aussterben der Deutschen ist meiner Meinung nur eine dieser absonderlichen Weltverschwörungstheorien wie Chemtrails, Hohlwelt-Eidechsenwesen, geimpfte Kontrollchips und die Illuminaten. Warum fällt nur mir allein das auf?
Diese Lüge ist schnell entlarvt. Jeder kann selbst das Experiment machen und morgen Nachmittag versuchen, mit einem übervollen öffentlichen Verkehrsmittel in die vorweihnachtlich geschmückte Innenstadt zu fahren – falls er sich überhaupt in die enge, von Körperdünsten dampfende Straßenbahn hineinquetschen kann – um sich anschließend durch verstopfte Fußgängerzonen zu schieben, damit man im Kaufhaus seiner Wahl endlich einmal frühzeitig ein Geschenk für die Liebsten zu erwerben. In der qualvollen Enge allerorten, dem Gestoße, dem Gerempel und Gedränge, dem Gequetsche und Gequängel, den endlosen Schlangen an den Kassen, wird der Gedanke, der Deutsche sei in seiner Existenz bedroht, zur Groteske. Denn all die agoraphoben Bürger haben sich demonstrierend versammelt und genießen es, ohne Ängste über den übervollen mit Buden und Glühweinständen vollgestopften Rathausplatz zu wandeln, wenn sie sich zwischen den zermalmenden Menschentrauben überhaupt willentlich vorwärtsbewegen können und nicht einfach von der Flut aus schwitzenden Leibern, Einkaufstaschen und Kinderwägen mitgerissen und an Orte und Örtchen abgetrieben werden, an die sie niemals gelangen wollten.
Oder er sollte in diesen Tagen auf einen Christkindelsmarkt gehen, um dort einen übersüßten, Sodbrennen erzeugenden Glühwein, eine verkohlte Bratwurst in einer staubtrockenen Semmel oder als Vegetarier eine undefinierbare, fetttriefende Masse – die sich aus welchem Grund auch immer „Kartoffelpuffer“ nennt – zu genießen und sich dazu vom Band überlaut schmalzige Weihnachtslieder interpretiert von Wham!, Heino, den Regensburger Domspatzen und Freddy Quinn in die Ohren blasen lassen. „Oh, du fröliche“ (sic!), um den Herrn Friederbusch aus meinem Weihnachtsmärchen „Karl-Heinz, der Weihnachtshund“ zu zitieren. (3)
Es ist ein Gelüst, das mich – ich gebe es unumwunden zu – zur Adventszeit ebenso suchtartig packt wie das generalstabsmäßige Vernichten aller Plätzchen von Frau Klammerle, die diese gerade in mühe- und liebevoller Kleinarbeit zubereitet hat. Dies ist übrigens eine ab- und suchtartige Abhängigkeit, die mich längst nicht mehr glücklich macht (der Glühmarkt, nicht das Vertilgen der „Loibla“), sondern wie die Qual einer unerwiderten, manischen Liebe in mein Herz sticht. Ich bin in dem Alter, in dem man erkennt, dass früher tatsächlich mehr „Lametta“ war und weniger Menschen, die sich gegenseitig zwischen den Buden zerquetschten, es war noch keine abendfüllende Beschäftigung, einen Glühpunsch zu ergattern und anschließend einen klebrigen, wackligen Bistrotisch zu finden, auf dem man das dampfende Getränk abstellen kann.
Es beginnt schon mit dem Problem, dass mein Dorf keinen Weihnachtsmarkt hat. Da man in Diedorf nicht arbeitet oder lebt, sondern nur zum Schlafen aus der Stadt herausfährt, ist das wahrscheinlich auch überflüssig, verlangt aber von mir – der ich ja ein bekennender und begeisterter Anhänger der Sportart Extreme-christkindlesmarket-going bin – dass ich den Witterungsverhältnissen zum Trotz ins Auto steigen und fahren muss, wenn ich nicht Frau Klammerle überreden kann, dies zu tun. Wenn ich dann doch einen Parkplatz gefunden habe – meist so weit vom Geschehen entfernt, dass ich gleich hätte laufen können – und mich tatsächlich wie ein Dschungelforscher durch den dampfenden Urwald zum Glühweinstand durchgekämpft habe und bei der Gelegenheit meinen armen studentischen Namensvetter St. Nikolaus über den Haufen gerannt habe, der dort für einen Hungerlohn von einer gierigen Kindertraube umgeben Nuss und Mandelkern verteilen muss, kommt das nächste Problem.
„Ich hätte gerne einen Glühwein.“
Verständnislos sieht mich der Verkäufer an, deutet stumm auf das Schild über seinem Haupt und ich merke: Es gibt keinen Glühwein mehr … Es gibt heißes Bier mit „Stich“, kochenden Amaro im Weinglas, Marillen-, Mirabellen-, Heidelbeer-, Holunder-, Brombeer-, Kirschwein, drei Sorten Kinderpunsch, Eierpunsch, „Eggnog“, warmen Weißwein mit und ohne Zucker, vegan, aus biologischem Anbau, fair gehandelt oder einfach aus dem Tetrapack, Jägertee, Tee mit Schuss, mit Rum, mit Whisky, mit Absinth, mit Kandis und mit Rahm. Es gibt Grog. Von hinten werde ich gegen die Theke und schmerzhaft an den Topf gepresst, in dem ein Glühpunsch seit Stunden vor sich hin köchelt und inzwischen außer Alkohol so ziemlich alles enthält, was ungesund ist. Ich deute kurzentschlossen auf das Heizgerät:
„Zweimal“, rufe ich kurzentschlossen, ohne zu ahnen, was dort drinnen vor sich hin blubbert – eh egal, das kostet alles dasselbe und es schmeckt auch gleich widerlich. Ich zahle den Punsch und einen ungeheuerlichen Pfand, den ich nie einlösen werde, da die Schlange vor der Rückgabe, an der ich mich als letzter anstellen würde, länger ist als die vor der Getränkeausgabe, verschütte die Hälfte über einer von einer Rentnerin gezogenen Einkaufstasche auf Rädern und als ich endlich Frau Klammerle im Gewühl wiederentdecke, ist das pappige Gesöff kalt und ungenießbar.
Die Deutschen sterben aus? Ha! Jedenfalls nicht in der Vorweihnachtszeit. (4)
Ernsthaft? Wollen wir, dass es im nächsten Jahr wieder so ist?
Ich wünsche eine schöne Adventszeit.

(1) In meinem Brotberuf treffe ich übrigens werktags 30 Personen aus unterschiedlichen Haushalten und dies in einem kleinen Raum bei schlechter Belüftung und mehrere Stunden lang. Aber das spielt anscheinend keine Rolle. Wenn wir arbeiten, sind wir offenbar immun …
(2) Ich – Nikolaus M. Klammer – trage im Winter übrigens meistens eine schwarze Baskenmütze. Das wollte ich nur mal bemerken.
(3) Ich erinnere an das wundervolle Weihnachtsmärchen, das ich an den Adventssonntagen auf Instagram live vortrage. Aber ich will dafür eigentlich überhaupt keine Werbung machen, denn die Qualität spricht für sich. Doch jetzt mal ehrlich: „Karl-Heinz, der Weihnachtshund“ ist wirklich eine tolle Geschichte; wer sie nicht liest, wird sich noch in Jahren Vorwürfe wegen dieses Versäumnisses machen!
(4) Diese Glosse und viele, viele weitere findet sich in meinem wunderbaren Buch:
Noch einmal davon gekommen
Dieser schöne Band ist für wenig Geld überall im Buchhandel erhältlich und ein ideales Weihnachsgeschenk für jung und alt. Kommt Leute! Unterstützt mal zur Abwechslung einen hungernden Autor.