Nachdem er es sich auf dem Sofa so bequem wie möglich und die Brille aufgesetzt hatte, untersuchte er das Buch genauer. Dabei flatterte eine dunkelbraune Vogelfeder in seinen Schoß. Konsterniert nahm er sie zwischen drei Finger und drehte sie. Welkenbaum hatte keine Kenntnisse in Ornithologie. Er konnte die etwa fünfzehn Zentimeter lange Feder keinem Vogel zuordnen, den er kannte. Wie war sie in das Buch gelangt? Achselzuckend legte er sich vorsichtig neben sich auf das Polster und musterte misstrauisch den Titel der Memoiren. Ihm kam es so vor, als hätten sich die Farben des bunten Titelbildes und auch des Schriftzugs ein wenig verändert, aber dieser Eindruck konnte auch durch die Beleuchtung entstehen. Der Verleger drehte das Buch herum und rückte überrascht die Brille zurecht. Hinten war nicht mehr der Aphorismus von Dostojewski aufgedruckt, der dazu aufforderte, dem Trank der Wahrheit einen kräftigen Schuss Lüge beizumengen, um ihn genießbarer zu machen. Stattdessen las er dort einen Satz von Papst Pius XII.:
»Vielleicht besteht die größte Sünde der heutigen Zeit darin, dass die Menschen angefangen haben, das Sündenbewusstsein zu verlieren.«
Das war schon sehr seltsam. Aber Welkenbaum fand schnell eine einleuchtendere Erklärung für die Veränderungen als die Behauptung der beiden Alten, das Buch würde sich seinen Lesern anpassen. Dies hier war einfach ein anderes Buch! Es ähnelte nur jenem, in dem er im Hotel gelesen hatte.
Ich bin euch auf die Schliche gekommen, dachte er und öffnete endlich schmunzelnd die Memoiren, um in ihnen zu lesen. Gleich auf Seite Eins wurde er in seiner Vermutung bestätigt, denn dort fand er nicht mehr Klammers hübschen Exlibris-Stempel vor, sondern einen handschriftlich unterschriebenen Warnhinweis des Pontifex, dessen Sinnspruch er eben hinten gelesen hatte. Wieder einmal nützte ihm das große Latinum, das er in den späten Sechzigern am Erdinger Gymnasium erwarb, das heute Anne Frank gewidmet ist.
»Höchst geheim! Niemals öffnen!«, übersetzte er die Schreibmaschinenschrift, die unter dem Stempel des ›apostolisch-vatikanischen Geheimarchivs‹ zu lesen war. Das klang ja wie ein Fluch. Geltsamers Memoiren standen auf dem Index der Inquisition und dies war offenbar von keinem geringeren als Pius XII. festgelegt worden, dessen bürgerlicher Name Eugenio Pacelli gelautet hatte. Welkenbaum tastete mit seinem Zeigefinger über die schwungvolle Signatur des Papstes. Er spürte die leichte Erhebung, die die eingetrocknete Tusche hinterlassen hatte.
»Von wegen E-Book«, murmelte er, »diese Unterschrift ist echt …« Ein Rätsel blieb allerdings. Das Pontifikat von heutzutage von Historikern höchst umstrittenen Papstes hatte von 1939 bis 1958 gedauert. Da war der Autor Nikolaus M. Klammer, den der Verleger kannte, noch nicht geboren. Wenn Welkenbaum konsequent war und weiterhin Ockhams ›Rasiermesser‹ verwendete und die wahrscheinlichste Lösung seines Problems für die richtige annahm, dann war dieses Buch nicht von dem Augsburger, sondern von einem anderen, ihm unbekannten Autor geschrieben worden, der ebenfalls dieses sehr österreichisch klingende Pseudonym verwendet hatte. Vielleicht hatte sich ja der Russe so getauft, als er seine Gulagerlebnisse veröffentlichte. Das kam zeitlich eher hin. Ein Unbehagen blieb – denn schließlich spielten die Altersheimabschnitte in den späten Achtzigern. Dies war trotzdem die vernünftigste These, fand Welkenbaum.
Er blätterte zum Anfang und stellte zufrieden fest, dass die Memoiren aus dem Besitz von Pat & Patachon die direkte Fortsetzung der Abenteuer in Antenora enthielt, die er vorher gelesen hatte. Kurz überlegte er noch, was wohl der Nikolaus Klammer, den er kannte, gerade so trieb. Dann nahm er noch einmal einen großen Schluck aus der Bierflasche und begann zu lesen.
❧
Auch Nikolaus Klammer fiel. Sein unglücklicher Sturz war jedoch wesentlich kürzer als der seines Verlegers und das Ergebnis noch schmerzhafter. Klammer stolperte in die kühle, abgedunkelte Buchhandlung hinein und hatte kurz den Eindruck, Rom würde sich hinter ihm wie ein Fernsehbild schließen, das jemand mit einer Fernbedienung ausschaltet. Dann machte er auch schon Bekanntschaft mit dem Holzboden und schlug sich dabei heftig das Knie an.
„Aua“, jammerte er und drei erstaunte Augenpaare starrten den zu Boden gegangenen und nach Mitleid ausschauhaltenden Autor von dem Verkaufstresen aus an, an dem er erst vorgestern seinen überaus seltenen Balzac-Roman und den Geltsamer erworben hatte.
Es waren zwei Frauen und ein Mann, die dort standen und sich offenbar angeregt unterhalten hatten, als Klammer ihr Gespräch durch seinen ungeschickten Auftritt unterbrach. Sie verstummten wie ertappt. Der Mann, der zwischen den Frauen stand, war ein mittelgroßer Italiener, dessen schwarze Haare wie bei einer japanischen Comic-Figur steil zu Berge standen. Er trug eine dicke Hornbrille, die seine ohnehin nicht kleinen Augen so vergrößerte, dass sein Gesichtsausdruck wie ein lebendig gewordenes Fragezeichen aussah. Wahrscheinlich – nein, sicher – war das Gaetano Marini, der angebliche Herausgeber von Elena Kuipers Dschungeltagebuch. Anhand des grobgerasterten Zeitungsfotos, das Klammer von ihm kannte, hätte er ihn nicht identifizieren können. Zumal er heute zivile, legere Kleidung und keine Soutane mit römischem Kollar trug. Hatte nicht gestern Engold bei ihrem Telefongespräch erwähnt, Marini sei aus der Kirche ausgetreten und hätte geheiratet? Dann war wohl die attraktive Frau neben ihm seine Gattin Mercedes. Klammer kannte sie von seinem Bucheinkauf. Sie schien ihm noch immer an demselben Spearmint wie vor zwei Tagen zu kauen und war die Einzige, die über seine Ungeschicklichkeit kicherte. Als Klammer die andere Frau erkannte, stiegen ihm die Tränen in die Augen. Das lag nicht nur an den Schmerzen in dem Knie, auf das er gefallen war. Seine Suche hatte ein Ende:
Er kniete vor seine Tochter Isa!
Da war sie endlich; schließlich hatte er sie doch gefunden. Er konnte sein Glück kaum fassen. Seine Isa! Gesund und fröhlich stand sie zwischen den Bücherreihen und strahlte ihn an. Aber sie hatte sich verändert, seit er sie zuletzt gesehen hatte. Isa trug ihr von der Sonne ausgeblichenes Haar nicht mehr so lang wie früher, sondern kurz, fast militärisch streng geschnitten; was ihr aber nicht schlecht stand, sondern eine gewisse Abgeklärtheit und Autorität verlieh. Die Haut an Gesicht und Armen war durch ihren Aufenthalt in Südamerika dunkel eingefärbt und sie hatte das eine oder andere Pfund abgenommen. Isa war in dem halben Jahr, in dem Klammer sie nicht mehr gesehen hatte, sehr erwachsen geworden. Er musste sich wohl oder übel damit abfinden, dass sie nun wirklich nicht mehr sein „kleines Mädchen“ war. Nur mit ihren grauen, gelbgesprenkelten Augen sah sie noch immer so erstaunt und neugierig in die Welt, wie sie das schon in den ersten Minuten nach ihrer Geburt getan hatte, als die Hebamme den stillen Säugling vorsichtig in Klammers Arme legte. Diesen gleichzeitig weisen und wissbegierigen Kinderblick hatte sie sich bis zum heutigen Tag bewahrt.
Verena Salva – oder Elena oder wie immer sie auch heißen mochte –, vor der Klammer das Antiquariat auf diese ungeschickte Weise betreten hatte, mit der er im wahrsten Sinn des Wortes mit der Tür ins Haus gefallen war, beugte sich zu ihm herab und half ihm zurück in die Senkrechte. Dabei fiel Klammer auf, wie stark die Freundin von Welkenbaum war. Sie stellte den untersetzten Autor praktisch nur mit einer einzigen flüssigen Handbewegung auf die Füße, die sie überhaupt nicht anzustrengen schien. Doch dann gab es für Klammer nur noch die Freude des Wiedersehens.
❧
❧
Die drei bisher erschienen Bände der Geltsamer-Trilogie mit ihren neuen Titelbildern. Sie sind in jeder gutsortierten Buchhandlung und selbstverständlich überall als E-Book erhältlich.
2 Antworten auf „In den Bücherkellern des Vatikans (7)“
[…] [Zum 7. Teil …] […]
[…] <– zum 7. Teil … […]