In den Bücherkellern des Vatikans (1)

 Nikolaus Klammer

Dr. Geltsamers
erinnerte Memoiren
„Eine phantastische Trilogie“
in 5 Büchern

4. Buch:
In den Bücherkellern des Vatikans

Zwischen den Zeilen

Welkenbaum fiel. Er stürzte nun schon seit einer Ewigkeit in gleichmäßiger, ruhiger Geschwindigkeit einen rotgeziegelten Brunnenschacht senkrecht hinab in eine schier grundlose Tiefe. Sein Zeitgefühl hatte er dabei längst verloren. Aber inzwischen musste er sicherlich schon Stunden in dieser aberwitzigen Situation verbracht haben, von der er nicht wusste, wie er in sie hinein geraten war. Er hatte sich längst an seinen Sturz gewöhnt und er erschien ihm nicht mehr absonderlich. Obwohl er sich vor dem Ende seines endlosen Falls fürchtete, den er doch unmöglich überleben konnte, und die Angst vor dem Zerschmettern auf dem Boden des Schachts wie ein Stachel im Hintergrund seiner Gedanken steckte, genoss er den Augenblick. Es war ein beglückendes Gefühl, frei wie ein Vogel zu sein und nur den Luftwiderstand um sich zu spüren. Er umschloss ihn sanft und begleitete ihn wie eine warme Decke den Abgrund hinunter.

Bereits seit vielen Jahren fühlte sich der Verleger in seinem aufgeschwemmten, unsportlichen und mit dem Altern schwächer und für Beschwerden anfälliger werdenden Körper immer unwohler. Er hatte sich von ihm entfremdet. Seine weltliche Hülle führte ein eigenes, amöbenhaftes Leben, das seinem Geist, der sich in dem fetten Leib wie ein Gefangener in einem viel zu kleinen Verlies vorkam, nicht gefiel und den er eigentlich verabscheute. Unaufhörlich bereitete ihm sein Körper Probleme: Da zwickte, dort drückte etwas, quälte, beengte und schränkte ihn ein. Häufig litt er unter Atemnot, stechendem Schmerz in den Hüften und an Krämpfen in den Schenkeln. Dazu kam eine stumpfe Taubheit in den Fingern und den Zehen. Sein täglicher und unverantwortlich hoher Alkoholkonsum, von dem er als einziger in seiner näheren Umgebung der Auffassung war, er hätte keine Probleme mit ihm, half ihm besser durch diese Beschwerden als jede Medizin. Trotzdem ließ er sie sich großzügig von seinen Hausärzten verschreiben und schluckte brav die Wässerchen, Pillen und Tabletten, obwohl er ihre Wirkungen nicht zu spüren glaubte. Er war sich freilich bewusst, dass die abendliche Flasche Rotwein und der „Betthupferl“-Whisky wahrscheinlich einen Großteil seiner Unbilden erst verursachten. Schließlich waren die morgendlichen Konsequenzen seiner regelmäßigen Besäufnisse – Übelkeit, Herzrasen und stumpfes Kopfweh -, oft grausamer als die Schmerzen des Vorabends, die seine Sauferei betäuben sollte. Doch daran etwas zu ändern, hatte er längst nicht mehr in der Hand. Das war ein Teufelskreis, dem er nicht mehr entrinnen konnte.

›Ab 50 beginnt jeder Morgen mit einer neuen Wunde‹, erinnerte sich Welkenbaum an eine Bemerkung seines Vaters Oswald an dessen 90. Geburtstag, ›und jede Stunde beschert dir ein weiteres Leid. 90‹, dachte er, ›so alt werde ich bestimmt nicht.‹

Doch all dies war nun wie weggeblasener Staub von den Regalen seiner Erinnerung und seine Seele und der verflixte Körper fühlten sich zum ersten Mal seit langer, langer Zeit im gemeinsamen Sturz miteinander versöhnt. Wenn Welkenbaum an seine Krankheiten dachte, dann hatte er das Gefühl, als wären sie jemand anderem in einem anderen Leben geschehen. Sie waren für ihn wie etwas, das er vor längerer Zeit in einem weinerlichen Buch von Nikolaus Klammer oder von Daniel Kehlmann gelesen hatte – insgesamt doch eher unerfreuliche, selbstmitleidige und unerfreulich larmoyante Lektüren, bei denen er Erleichterung empfand, wenn er sie beenden konnte.

Wie gesagt: Er wusste weder, wie lange dieser Zustand des unablässigen Fallens schon andauerte, noch, wieviel Zeit ihm das Schicksal noch gewährte. Doch augenblicklich stürzte er in gleichmäßigem Tempo in eine bodenlose Tiefe und er war glücklich. Dabei konnte er sich auch beim besten Willen nicht erinnern, wie er in diese Situation gekommen war. War er über den Rand eines römischen Brunnenschachts, der hinab in die Katakomben unter der Via delle Sette Chiese führte, gestolpert oder von jemandem von hinten gestoßen worden? Er wusste es nicht. Und wie tief mochte dieser kreisrunde Ziegelschlauch noch sein, dessen Ränder er berühren könnte, wenn er seine Arme nur noch ein wenig weiter ausstreckte? Er glaubte, jetzt schon einen halben Tag hinabzufallen. Wie schnell wurde noch einmal der Körper eines Fallschirmspringers? 200 Kilometer in der Stunde oder mehr? Ging das nun so weiter bis zum Erdmittelpunkt – so ein Sturz würde etwa dreißig Stunden dauern –, oder gar darüber hinaus? Und was geschah dann? Welkenbaum entschloss sich, nicht weiter in seinem Gedächtnis nach den Physikkenntnissen seiner Jugend zu suchen, sondern diesen besonderen Moment ohne Schmerzen und Kummer zu genießen, so lange er eben dauerte.

›Sorgen und Schmerzen sind kein Frosch, die hüpfen nicht über Nacht davon.‹ Das war auch ein Spruch seines Vaters; der war ein wandelnder Büchmann gewesen.

Dies war doch schon immer Welkenbaums Problem gewesen: Er war niemals vollkommen entspannt. In den unruhigen, nächtlichen Schlaf quälte er sich nur mit Bromazepam-Tabletten und altem Glenlivet und versuchte er ruhig zu sitzen, begannen seine Beine in rastloser Bewegung zu zittern und seine Füße schliefen ein. Nun jedoch war alles gut und das Leben schön. Warum konnte er diesen Moment einfach nicht mehr genießen? Aber die Frage, was mit ihm geschehen war, nagte plötzlich an Welkenbaum. Sie stach als akuter, nadelfeiner Schmerz knapp über der Nasenwurzel in seinen Verstand und störte das vollkommene Glück, das er eben noch empfunden hatte. Gleichzeitig hatte sich auch in seiner Umgebung, in jenem monotonen, endlosen Brunnenschacht, in den er fiel, etwas verändert. Auch wenn der Verleger noch nicht begriff, was anders war.

Oder war dies überhaupt kein Sturz, den er da erlebte? Vielleicht saß er ja einer optischen Täuschung auf und glitt stattdessen empor, nach oben, dem Himmel entgegen, wie ein mit Helium gefüllter Luftballon. Das würde sich, fiel ihm auf, genauso anfühlen. Vielleicht war der gemauerte Schlund ja kein Schacht, sondern ein gewaltiger Kamin! Vielleicht lag er gerade im Sterben und dieser Fall oder Aufstieg oder was auch immer war seine persönliche Nahtod-Erfahrung. Aber wurde nicht immer etwas von einem hellen Licht gefaselt, dem man entgegenflog? Wenn er sich nur erinnern könnte!

Welkenbaum konzentrierte sich auf seine rechte Hand, durch deren gespreizte Finger er den Fallwind fühlte und wollte sie drehen, um dadurch die Richtung festzustellen, in der er unterwegs war. Es misslang ihm vollkommen; er hatte keine Kontrolle über seine Muskeln.

›Wahrscheinlich ist das alles nur ein luszider Traum und ich schlafe morgens unruhig kurz vor dem Erwachen in meinem Bett‹, kam ihm beruhigend in den Sinn und seine Kopfschmerzen wurden dabei stärker. ›Ach, wie langweilig. Träume will ich weder erleben, noch sie von jemandem erzählt bekommen. Das ist doch öde. Es gehört zu den sieben Todsünden eines Autors, von einem Traum zu berichten oder mit ihnen gar einen neuen Roman zu beginnen. Das geht schon dreimal nicht. Niemand will das lesen. Und ich will jetzt aufwachen! Auf der Stelle!‹ Er öffnete die Augen.

Welkenbaum konnte die Ziegelwand und aus den Augenwinkeln seinen fetten, fallenden Körper sehen. Er trug übrigens einen leichten, sommerlichen Leinenanzug und unter dem Sakko, dessen kurze Schöße fröhlich im Wind flatterten, ein hellblaues, von Bierflecken besudeltes Hemd. Dies erschien ihm aus irgendeinem vergessenen Grund ein wichtiges Indiz zu sein. Trotzdem fragte er sich, ob er seine Augen tatsächlich geöffnet hatte oder es sich nur einbildete. Wenn er träumte, dann konnten diese Sinneseindrücke auch von seinem Geist an die Innenseite seiner geschlossenen Lider projiziert worden sein. Aber wenn er diese auseinander zwang, würde er unzweifelhaft erwachen. Er fokussierte seinen ganzen Willen und versuchte krampfhaft, seine Augen nicht erneut in den Traum, sondern jetzt in die Wirklichkeit hinein zu öffnen. Der Schmerz, den diese Anstrengung verursachte, jagte wie eine alles überwältigende Hafenwelle vom Kopf ausgehend durch seinen gesamten Körper und erschütterte ihn. Er schnappte entsetzt nach Luft und konnte seinen unruhigen, eiligen Herzschlag an der Halsschlagader pulsieren fühlen. In diesem Moment sah er wie in einer Vision ein Gesicht vor sich auftauchen, dessen kleine, von unzähligen Krähenfüßen eingefasste Knopfaugen ihn gleichzeitig spöttisch und auch besorgt und abschätzend anblickten. Nein, er irrte sich, nicht ein verwittertes Antlitz war es, sondern es waren zwei, die – weil Welkenbaum vielleicht schielte – halb ineinander übergingen und ein Monstrum aus drei Augen, zwei Nasen und einem endlos breiten, verkniffenen Mund bildeten. Die Lippen bewegten sich, gelbe, braunfleckige Zähne wurden sichtbar, aber der Verleger konnte die Worte nicht verstehen, die der Zwitter flüsterte. Die beiden verschmolzenen Uralten waren sich sehr ähnlich. Es waren ein Mann und eine Frau. Sie hatten überaus faltige, ledrige, beinahe haarlose Köpfe, mumienhaft und starr. Was war das? Wer war das? Hatten etwa diese beiden Monstren ihn in den Brunnen gestoßen?

Welkenbaum konzentrierte sich von Neuem. Er zählte langsam bis drei. Anschließend versuchte er ein weiteres Mal, das Gespinst, das sich inzwischen in einen Albtraum verwandelt hatte, zu verlassen, indem er seine Augen aufschlug. Verzweifelt zog er seine Stirn in Falten. Und dann gelang es ihm – überraschend schnell und einfach. Er starrte an die graue Betondecke eines schlecht ausgeleuchteten Kellerraums.

[Zum 2. Teil …]

Die drei bisher erschienen Bände der Geltsamer-Trilogie. In jeder gutsortierten Buchhandlung und selbstverständlich überall als E-Book erhältlich.

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