Samstag, 03.10.20 – Ach, dieses schreckliche Jahr …

Samstag, 03.10.2020

Liebe unbekannte Leserin,

du hast bestimmt schon auf meinen allwöchentlichen Samstagsbrief gewartet, der seit Wochen der einzige, irgendwie an Literatur erinnernde Text ist, der mir noch gelingen will. Und selbst diese regelmäßige kleine Botschaft kostet mich Überwindung. Ja, du wirst es dir schon beim Lesen meiner letzten Briefe gedacht haben: Ich befinde mich gerade in einer veritablen und hartnäckigen Schreibkrise, die mich wie ein unsichtbarer Virus hinterrücks überfallen hat und gefangen hält. In den letzten, sehr fleißigen Schreibjahren voller kreativen Outputs und 12 veröffentlichten Büchern hätte ich nicht gedacht, dass mir so etwas noch einmal passieren könnte. Das war mir unvorstellbar. Ich hielt mich überheblich vor dem berühmt-berüchtigten schriftstellerischen Burnout gefeit, über den so viele Autoren jammern. Denn ich hatte ein Ziel, eine Botschaft und wusste, dass ich ein „guter“ Autor bin. Dieses ungeheuerliche, nicht enden wollende 2020 hat mich eines Besseren belehrt. Spätestens mit dem Beginn der Corona-Pandemie im März und ihren unangenehmen Begleiterscheinungen(1), dem Tod meines Vaters und der Übernahme der Betreuung meiner dementen Mutter, meinem mir immer bewusster werdenden Versagen als Autor, dem es einfach nicht gelingen will, sich eine Leserschaft aufzubauen, befinde ich mich in einer Dauerkrise. Tatsächlich befand ich mich wohl auf einem Irrweg und jetzt sehe ich mich verwirrt an einer Kreuzung um und weiß nicht mehr weiter.

Nun trage ich aber seit Vorgestern eine nagelneue und sauteure Brille, meine erste mit Gleitsicht(2). Ich habe mich noch längst nicht an sie und meinen neuen, schärferen Blick auf die Dinge gewöhnt. Aber vielleicht schenkt mir ja der Ausblick durch den schwarzen Metallrahmen neue Perspektiven und Einsichten und mir gelingt es, gelassener zu sein, den richtigen Weg wiederzufinden und endlich an meinen Texten weiterzuarbeiten. Es kann nicht länger damit weitergehen, dass ich meine eigentlich viel zu kostbare freie Lebenszeit mit Netflix, Computerspielen, Essen und dem Smartphone verplempere.

*

Ein kräftiger Föhnwind schenkt dem Augsburger Land zumindest heute Vormittag eine gewisse Wärme und viel Sonnenschein. Er soll wohl mittags zusammenbrechen. Aber er hat mit leichter Hand die trüben Wolken (auch die, die in meinen Gedanken hingen, als ich zu schreiben begann), weggeblasen und eigentlich ist es schade, dass ich in meinem Kämmerlein an der Tastatur sitze und tippe. Dieser Tag schreit nach einer Bergwanderung, aber leider hat Frau Klammerle gerade Nachtwache und schläft den gerechten Schlaf der skandalös mies bezahlten, aber überaus fleißigen »Systemrelevanz«. Dringend wäre ein Aufräumen im kleinen Garten hinter dem Haus notwendig. Er verwandelt sich gerade langsam in den »totgesagten Park« von Stefan George(3). Zumindest die Büsche müssten beschnitten werden. Aber heute ist ja Feiertag und meine Nachbarn würden es nicht goutieren, wenn ich einen lautstarken Auftritt mit der elektrischen Heckenschere hinlege. Also werde ich weiter gelassen an dieser Glosse feilen, leisen »Gypsy-Jazz« laufen lassen, würzigen Chai trinken und ab und an sehnsüchtig aus dem Fenster sehen, während Frau und Katze nach ihren anstrengenden nächtlichen Beschäftigungen noch ein paar Stunden friedlich schlummern. Vielleicht schaffe ich es und schreibe noch ein paar Zeilen vom Schlusskapitel meines Roman-Projekts »Aber ein Traum«, das ich eigentlich in diesen Tagen veröffentlichen wollte, das aber wohl noch einen Monat intensiver Pflege und ein, zwei Korrekturleser benötigt(4). Zu 99,9 % bin ich fertig mit dem 300-Seiten-Werk, aber gerade die letzte Promille macht mir ordentlich zu schaffen. Der erste Satz ist einfach, ich habe gefühlt 1000 erste Sätze im Kopf, aber der letzte ist schwer, vor allem, wenn er auf den geplanten zweiten Teil Appetit machen soll. Im Moment sieht er so aus:

Kann es sein, dass die ausweglose Düsternis des Romanendes es mir gerade so schwer macht, daran weiterzuarbeiten? Was meinst du?

Liebe Grüße, dein Nikolaus.

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(1) Als da wären: Eine beständige innere Unruhe, eine unterschwellige Ängstlichkeit, ja, Furcht, schlechter Schlaf, Gewichtszunahme, noch weniger soziale Kontakte als vorher, eine depressive, sehr pessimistische Grundhaltung und viel Arbeit im Brotberuf. Oft fühle ich mich, als wäre das Ende der Welt oder zumindest mein eigenes nah. Ich bin häufig brummig und schlecht gelaunt. Vor allem ist es aber ein heftiger, Übelkeit erregender Ekel vor dem überlauten Geschrei von Nazis, Rassisten und anderen rechtsradikalen Arschlöchern, AfD’lern(1a), Irren, zynischen ausländischen Machtpolitikern mit der Intelligenz einer Fruchtfliege und vollkommen in ihre eigene, schreckliche Welt abgetrifteten Verschwörungsfanatikern, der mir meine Tage vergällt. Überall und von allen Seiten, auch in meinem privaten Leben, wollen sie mir ihre kranken Meinungen und idiotischen Wahnvorstellungen aufdrängen und mich dabei mundtot machen. Dieser Hass, der sich schneller als der Virus verbreitet, liegt mir den ganzen Tag wie ein fauliges Stück Fleisch auf der Zunge und ich kann ihn nicht loswerden. In den 80ern und 90ern, als es noch wenig oder gar kein Internet gab, durfte ich mir noch einreden, es wäre nur eine kleine Minderheit in Deutschland, die so spinnt – tatsächlich habe ich nun den Eindruck, wenn ich die Kommentare zu Tagesnachrichten lese, es wäre jeder vierte ein geistesgestörter Nazi. Es ist grotesk, dass genau jene, die ständig schreien, man könne hier nicht mehr seine Meinung sagen, wie in einer Dauerschleife ununterbrochen zu hören sind und die Stimmen der Vernunft überbrüllen. Ich jedenfalls bin sprachlos und entsetzt und knirsche hilflos mit den Zähnen, weil ich dieser brutalen Gewalttätigkeit nichts entgegensetzen kann.

(1a) Ja, ich weiß, dass nicht alle AfD-Wähler und AfD-Politiker Nazis sind – es gibt auch eine ganze Menge Deppen unter ihnen.

(2) Ja, ja, das Alter … siehe auch hier: »Die Welt durch Glas«

(3) Damit spiegelt das Gärtlein jetzt mit seiner etwas ranzigen Überfülle, seiner überbordenden natürlichen Unordnung und dem doch überall kränkelnden Blattwerk, den klebrigen Spinnweben und bleichen Herbstblüten als Gleichnis ziemlich exakt mein Lebensalter wider. Wenn es nicht einen dramatischen Einschnitt gibt und der Tod frühzeitig die elektrische Heckenschere ansetzt, dann befinde ich mich gerade im Herbst meines Lebens. Nun, das könnte schlimmer aussehen, oder?

(4) Vielleicht weißt du ja jemanden, der/die daran interessiert ist. Okay, wohl eher nicht.

7 thoughts on “Samstag, 03.10.20 – Ach, dieses schreckliche Jahr …”

  1. Bei familiären Schicksalsschlägen ist es dann noch doppelt schwerer, etwas neues zu beginnen, sich reinzusteigern und dran zu glauben.
    Ich habe zwar nichts schlimmes erlebt, aber auch gerade noch nichts neues in der Mache. Mein letztes ist gerade raus – der Moment wäre perfekt.
    Aber da kommt schon was. Bei dir auch! 💪🏼😊

  2. Dein Jahr klingt wirklich nach keinem Zuckerschlecken. Ich musste noch manches Mal an deine Schilderung vom Tod deines Vaters denken, was durch Corona ja alles auch nicht unbedingt leichter wurde… Ich denke, nach diesen familiären Belastungen ist es recht nachvollziehbar, dass sich eine Krise einstellt, gerade, wenn dieses Jahr auch ansonsten etwas ungewöhnlich ist.
    Die Perspektive mit neuer Brille auch einen neuen Blick zu bekommen, finde ich darum um so schöner. Vielleicht klappt es ja 😉 Zumal ich sagen muss, dass sie dir gut zu stehen scheint.
    Bezüglich des Neuanfangs ist mir auch aufgefallen, dass du deine Ansage verwirklicht hast, deine Follower auszumisten. Ich denke, das war ein guter Schritt.
    Das Roman-Ende klingt nicht schlecht, wie ich finde. Ungewöhlich und neugierig machend. Obwohl natürlich der Kontext fehlt, um das abschließend zu beurteilen^^
    Generell wollte ich mal fragen, wie du das mit Testlesern handhabst. Hast du da einige Freunde/Kollegen, auf die du zurückgreifst? Beziehst du auch ein Lektorat mit ein?
    Was den Aufbau einer Leserschaft angeht: Welche Wege gehst du da? WordPress und Instagram sind mir bekannt, doch gibt es noch andere Plattformen, auf denen du es versuchst (die reale Welt mit einbezogen)?

    Liebe Grüße mal wieder von deiner gespannten bekannten Leserin 😉

  3. Ich fange mal mit den Fragen an: Außer auf WordPress und Instagram findet man mich noch auf Facebook (mit einem offiziellen Autorenkonto Nikolaus M. Klammer auf Facebook und einem privaten). Dann bin ich noch auf Twitter und Lovelybooks. Das sollte eigentlich genügen, doch überall habe ich nur wenige bis überhaupt keine Leser gefunden. Ich bin bloß ein Tropfen in einem Ozean. Wahrscheinlich müsste ich Geld in Werbung investieren, aber das gebe ich lieber für andere Dinge aus. Mich stößt das ganze Geschäftsmäßige rund um die Literatur ab und ich meide es so gut es geht. Lesungen organisieren, Zeitungsmenschen belästigen, in Verlagen oder Buchhandlungen betteln, um Rezensionen bitten, bei anderen Autoren einschleimen, der Kulturszene lästig fallen, netzwerken, beim „Wir haben uns alle lieb“-Spiel mitmachen usw… Das ist alles nicht mein Ding, dazu bin ich schon psychologisch kaum in der Lage. Die bitteren und verletzenden Erfahrungen, die ich als junger aufstebender Autor in Augsburg machte, hindern mich daran. Aber wahrscheinlich sollte ich statt zu jammern genau hier wieder ansetzen, meine Hemmungen endlich überwinden und loslegen. Ich plane demnächst ein paar Lesungen über Instagram zu machen. Mal sehen …

    Testleser? Da gibt es nur Frau Klammerle, vielleicht noch meine Schwester M. oder die Freundin meines Sohnes. Alle würden aber lieber ein fertiges Buch von mir lesen und haben eigentlich keine große Lust, sich auf die kritische Fehlersuche zu machen. Da muss ich immer lange betteln. Mein Lektor bin ich deshalb meist selbst und das merkt man leider meinen Büchern an, da ich trotz neuer Brille für meine eigenen Fehler blind bin. Ein Lektorat kann und will ich mir jedoch nicht leisten. Die Schlange beißt sich selbst in den Schwanz.

    Grüße an meine „bekannte Leserin“

  4. Ich kann sehr gut verstehen, dass es dir schwer fällt, in der analogen Welt zu Netzwerken, wenn du da früher schlechte Erfahrungen gemacht hast. Aber früher ist früher. Vielleicht kannst du nun, als erfahrener Autor, der vielleicht nicht mehr die Fehler eines Anfängers macht, anders an die Sache heran gehen. Ich denke, unversucht solltest du es nicht lassen.

    Gute Testleser zu finden ist mit Sicherheit schwierig, doch sich selbst kritisch zu hinterfragen ist wohl das Schwierigste. man ist ja gerne Betriebsblind (siehe meine Texte 😉 )
    Ich weiß nicht, ob dir ein junger Schreiber, der selbst voller Fehler steckt, etwas nützt, doch gern würde ich mich als Testleser anbieten.

  5. Ich schicke dir gerne die Rohfassung „Aber ein Traum“, wenn du dir die Arbeit machen möchtest. Das Buch ist irgendwie der ernsthafte Gegenpol zum Geltsamer. Der „erfahrene Autor“ (da musste ich doch ein wenig lachen) dankt. Wie möchtest du denn das Werk? Als Word-Datei oder PDF, denn E-Books magst du ja nicht, wenn ich mich recht erinnere.

  6. Oh, die Arbeit mache ich mir sehr gern sogar!
    Richtig erinnert. Ich denke, eine PDF wäre am besten. Du kannst mich ja nochmal diesbezüglich über meine Seite kontaktieren.

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