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Diese Sommerlektüren (5) – Gabriel Ferry

»Der Schwar­ze Falke bück­te sich lang­sam nie­der; ein Mes­ser blitz­te in sei­ner lin­ken Hand dicht beim Kopf Fa­bi­ans. Jetzt, in die­sem äu­ßers­ten Mo­ment, hörte die Hand Bo­is-Rosés zu zit­tern auf, als ein plötz­li­cher Knall ihn er­be­ben ließ. Der Schwar­ze Falke stürz­te mit zer­schmet­ter­tem Schä­del schwer auf Fa­bi­an nie­der, den er mit sei­nem Leib und des­sen blu­ti­gen Über­res­ten be­deck­te, und eine Stim­me rief zu­gleich: »Das ist mein letz­tes Wort, du rot­häu­ti­ger Hund!«

Bei den Recherchen zu meinen autobiographischen Großelterngeschichten, in denen ich durch „Wahrlügen“ den Jugendlichen, der ich mal war, wiederauferstehen lassen wollte, hatte ich mich auch mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Bücher es genau waren, die ich als 14jähriger Pubertierender im Sommer 1977 las.

Ganz sicher war weit oben auf meiner Leseliste damals die Arena-Jugendbuch-Ausgabe dieses Werks:

waldläuferGabriel Ferry
Der Waldläufer

Ferry de Bellamare, wie Gabriel Ferry tatsächlich hieß, wurde 1809 geborenferry und starb bei einem Schiffsunglück im Januar 1852. Er war ursprünglich Kaufmann und begann erst in seinen letzten beiden Lebensjahren nach einem Bankrott mit dem Schreiben mehrerer umfangreicher Romane, von denen „Le Coureur de Bois“ der mit Abstand erfolgreichste und am häufigsten aufgelegte ist. Dieses Buch machte Ferry, der selbst viele Jahre in Mexiko Handel trieb, zu einer Art französischem Fenimore Cooper. Sein „Waldläufer“ teilt mit den „Lederstrumpf“-Romanen des großen Amerikaners das Schicksal, dass es praktisch keine vollständige Übersetzungen ins Deutsche gibt und beider Werke vollkommen zu Unrecht als Jugendliteratur abgetan werden, die man beliebig kürzen, glätten, umschreiben und vereinfachen kann. Sogar von “Moby Dick” gab es extrem gekürzte Fassungen für junge Leser, die den kompletten philosophischen Gehalt des Buch streichen, was mindestens drei Viertel des Textes betrifft.

Die Jugendbuchausgabe des Arena-Verlages, die ich als Pubertierender las, stützte sich auf die erste und noch weitgehend vollständige Übersetzung dieses Romans von Dr. G. Füllner, die aber stark fürs jugendliche Publikum der 70er Jahre überarbeitet wurde. Es war sozusagen eine Ausgabe der „spannenden Teile“, um mal William Goldmans “Brautprinzessin” zu zitieren (Kennt ihr nicht? Unbedingt lesen! Ich kenne niemanden, der das Buch nicht mag). Trotzdem war diese Fassung des Waldläufers noch relativ umfangreich; mit etwa 350 Seiten bot sie ungefähr zwei Drittel des Originaltextes von Ferry, der wie Cooper seine Romane selbstredend nie als Jugendbuch konzipiert hatte. Die Bekannteste, für die Jugend eingerichtete, Fassung des „Waldläufers“ ist die gleichnamige, besser als Umdichtung zu bezeichnende Version des jungen Karl May, der Ferrys Roman als Steinbruch für seine späteren Wildwestromane nutzte und der Vorlage Figuren wie den edlen Winnetou (bei Ferry allerdings ein Häuptling der Komantschen) oder Old Firehand entnahm, die dort bereits als Prototypen vorhanden sind. Auch ein exzentrischer Engländer fehlt nicht. Ferrys Buch ist aber keine schlecht geschriebene Kolportage und seine Figuren sind lebendige Menschen aus Fleisch und Blut, die leiden und Fehler begehen und nicht jene unangreifbaren, immer überlegenen Halbgötter, zu denen Karl May sie machte.

Waldlaeufer1Bei Mobileread kann man eine vollständige E-Book-Version der gelungenen, längst gemeinfreien Füllner-Übertragung von 1851 kostenlos herunterladen, die nur wenige OCR-Fehler und nur ein einzigesmal eine längere Textwiederholung aufweist. Auf diese Weise bekam ich die Gelegenheit, den Roman in seiner Gänze kennenzulernen. Diese Erstübersetzung ist sprachlich hochwertig und auch heute noch gut und flüssig lesbar, wenn man sich auf den etwas umständlichen und streckenweise zu überschwänglichen Stil der romantischen Autoren der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einlassen will, die für ein gutbürgerliches Publikum schrieben, das dicke Wälzer mit höchst romantischen Verwicklungen, düsteren Intrigen und dramatischen Abenteuern schätzte und sich diese zur Abendunterhaltung gegenseitig laut vorlas (Leseabende waren das Netflix bon 1850). Wenn man einmal die ersten 100 Seiten des nur gemächlich in Gang kommenden Abenteuers um einen gigantischen Goldschatz überstanden hat, wird man von der immer atemloseren Handlung, die in eine große Schlacht am Red River mündet, mitgerissen.

Es war eine interessante Erfahrung, Ferry wiederzulesen; jenen Autor, der mich als Vierzehnjähriger so stark beeindruckt und auch beeinflusst hat, dass mir einige Szenen noch immer stark und greifbar in der Erinnerung verblieben sind. Meine Hochachtung gilt jedem Autor, dem solches gelingt. Wie viele Bücher habe ich schon gelesen, die keinerlei Spuren in mir hinterließen und über deren Inhalt ich bereits nach ein paar Jahren (oder Monaten) nichts mehr berichten kann? Selbstverständlich hat auch der „Waldläufer“ längst seine Einzelstellung verloren und das atemlose, begeisterte Lesen, das vollkommene Eintauchen in eine andere Welt, die einem die eigene Realität fade und uninteressant macht – das Bücherfressen -, gelingt mir nicht mehr; es ist leider irgendwann während des Erwachsenwerdens verloren gegangen. Zu viele Bücher und Jahre stehen zwischen mir und dem Jugendlichen des ziemlich verregneten Sommers 1977, in dem Elvis starb. Gabriel Ferry erneut zu lesen, war durchaus ein spannendes – auch entspannendes – nostalgisches Vergnügen, aber sein Roman, den ich früher leidenschaftlich liebte, ordnet sich nun in eine Reihe von Büchern ein, die mir einmal wichtig waren und mich eine Zeitlang begleiteten, mir heute aber nicht mehr viel bedeuten. Um es kurz zu machen: Der Jugendliche, der ich mal war, ist auf diese Weise nicht mehr unter all den alten Ich-Schichten hervorkrambar. Ein anderer Mensch hat im 21. Jahrhundert den „Waldläufer“ gelesen.

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