Der Prolog der großen Brautschau-Saga:
Mánis Fall
Wie bei jedem Aufenthalt im Cyperspace hatte Fabia ihr Zeitgefühl verloren und war einige Augenblicke orientierungslos und fühlte sich von den Gesetzen der Schwerkraft belastet. Ihr war, als hätte ihr jemand einige ihrer Gliedmaßen amputiert. Sie blinzelte die letzten Lichtreflexe der virtuellen Umgebung von ihren Augreyes weg und blickte die beiden Künstler an, die seit einer Weile neben ihr auf ihren gepackten Koffern saßen und ungeduldig auf die Rückkehr ihres Geistes in ihren Körper gewartet hatten.
»Der Schweber sollte gleich kommen«, sagte sie und tatsächlich tauchte wie aufs Stichwort einer der kugelrunden gläsernen Personentransporter vor der Brüstung der Terrasse auf und senkte sich dann geräuschlos auf die für ihn vorgesehene Landeplattform hinab. Die beiden Halbschalen der Türen klappten nach außen. Es war nur ein kleines Modell, das Fabia hatte rufen können. Es war eigentlich nur für zwei Passagiere gedacht, die nebeneinander in den Schweber passten, aber auf die Schnelle hatte sie keinen geräumigeren Schweber auftreiben können.
»Das wird ja ganz schön eng«, stellte Leon kritisch fest.
»Ich bin auch nicht begeistert, doch dies ist der einzige verfügbare Schweber. Hoffentlich kann ich ihn bei der Überlast noch ordentlich steuern«, überlegte Fabia. »Auf jeden Fall werdet ihr euer Gepäck zurücklassen müssen.«
Raphaël sprang wütend auf. »Das geht auf keinen Fall«, empörte er sich. »Meine wertvollen Gedichtbände! Meine Aufzeichnungen – meine Anzüge von Hugo Boss!«
Sein Freund versuchte ihn zu beschwichtigen, während Fabia achselzuckend ihren goLEM in die für die Roboter vorgesehene Andockstation des Schwebers hob, wo er die Kontrolle über den automatischen Pilot übernahm.
»Da!« Raphaël deutete zornig auf Omicron. »Diese Metallkugel ist wichtiger als meine Gedichte?«
Fabia platzte der Kragen.
»Und wer steuert die Kiste, wenn wir ihn zurücklassen? Etwa einer von deinen alten Dichtern? Außerdem brauche ich Omicron, um zu überleben. So einfach ist das. Ich habe eine schwere, unheilbare Krankheit und ohne regelmäßig Arzneigaben durch das medizinische Modul meines goLEMs sterbe ich. Dann kommt ihr erst von diesem Balkon herunter, wenn der Wohnturm einstürzt, weil ein Stück vom Mond in ihn gekracht ist.«
Wie auf einen Befehl sahen alle drei ängstlich nach oben, aber noch immer gab es an dem immer wolkenverhangener werdenden Himmel keine Anzeichen dafür, dass die Katastrophe knapp bevorstand. Allein der kalte Wind hatte stark aufgefrischt und blies ihnen ins Gesicht. Er trug Brandgeruch mit sich.
»Den Mond sah ich blinken,
nun stirbt und vergeht er.
Ihr Wölfe, ihr Krähen,
Ihr hungernden Horden!
Was bringt euch der Norden
mit eisigem Wehen?«,
zitierte Raphaël leise ein viele Jahrhunderte altes Gedicht.
Dann gab sich der junge Lyriker widerstrebend geschlagen. Nachdem er zögernd ein einziges Buch aus dem Koffer genommen und in die Tasche gesteckt hatte, ließ er sich von seinem Freund auf einen der beiden Schalensitze drängen. Der glatzköpfige Bildhauer quetschte sich zu ihm.
»Wenigstens meinen Verlaine brauche ich, ohne ihn zu leben lohnt sich nicht«, murmelte Raphaël beleidigt.
Fabia setzte sich zu den beiden und die Türen des Schwebers schlossen sich langsam. Zum Glück waren alle drei schlank genug, um nebeneinander in das kleine Fluggerät zu passen. Fabia hatte die Armfreiheit, sich über Omicron mit der Steuerung zu verbinden. Der Schweber hob ab und die drei wurden nach links aufeinander gegen das Glas gedrückt, als der Flieger elegant über die Brüstung der Terrasse glitt und dann für etwa fünfhundert Meter scharf nach unten kippte, bis er auf halber Höhe des Wohnturms in den Leitstrom einschwenkte. Er ordnete sich in die unüberschaubare Vielzahl der Fluggeräte ein, die auf dieser Luftstraße zwischen den himmelhohen Gebäuden wie Forellen in einem Wildbach in alle Richtungen flitzten. Die Straßen unter ihnen waren schwarz von Menschen und Fahrzeugen, die alle durch die Häuserschluchten nach Osten unterwegs waren. In der Ferne sahen sie eine Flotte von unzähligen Fluchtbussen und fünf oder sechs gigantischen Flugkreuzern, von denen jeder über zehntausend Personen aufnehmen konnte. Mit ihnen wurden ganze Stadtviertel, Altenheime und Krankenhäuser in Sicherheit gebracht. Der logistische Aufwand, die Megapole innerhalb weniger Stunden zu evakuieren, war für einen Einzelnen unvorstellbar und konnte nur geleistet werden, weil das allgegenwärtige I-Net alles koordinierte und organisierte.
Fabia gab dem automatischen Piloten den Befehl, auf der von Sadie ausgetüftelten Route das weitläufige Universitätsgelände von Paris anzusteuern. Der von I-Nets Kontrolle abgekoppelte Schweber bog gehorsam an der nächsten Kreuzung ab.
»Wo willst du denn hin?«, fragte Leon. »Die Bunker und der Gare de l’est, von dem die Flüchtlingszüge Richtung der Deutschen Länder abfahren, liegen doch alle in östlicher Richtung. Bist du so sentimental und möchtest zum Abschluss noch einen kleinen Stadtrundflug machen?«
»Nein, ich will zur Uni. Dort werde ich kurz landen und aussteigen. Ihr könnt dann mit dem Schweber weiterfliegen, wohin ihr wollt. Das ist nur ein kleiner Umweg.«
Leon zog skeptisch einen Mundwinkel nach oben.
»Bist du dir sicher, dass du nicht lieber mit uns kommen willst? Nach den letzten Nachrichten, die ich von EDY empfangen habe, wird wahrscheinlich niemand, der in Paris zurückbleibt, diese Katastrophe überleben. Inzwischen gibt es wohl auch einen Countdown. Im anschluss an den Impact des großen Mondbrockens im Atlantik, der nach den neuesten offiziellen Schätzungen 23:30 Uhr bevorsteht, wird uns die Flutwelle etwa eine Stunde später überschwemmen. Uns bleiben vielleicht noch dreizehn oder vierzehn Stunden. Wenn wir bis dahin nicht mindestens Frankfurt erreicht haben, werden wir von dem Tsunami erfasst werden.«
Fabia benötigte einen Moment, bis sie begriff.
»Hast du dich etwa aktiv mit dem Netz verbunden? Verdammt noch mal«, fluchte sie, »kappe sofort die Verbindung! Solange deine Augreyes online sind, kann man uns problemlos aufspüren.«
»Ich bin kein Narr. Ich weiß, dass es höchst illegal ist, was wir da tun. Als wir in den Schweber geklettert sind, haben Raphaël und ich unsere Augreyes wieder komplett abgeschaltet. Wenn I-Net nach uns sieht, findet er nur deine Kontaktlinsen.«
Fabia atmete auf, aber ihr Instinkt warnte sie weiterhin. Sie kamen gut voran, doch irgendetwas stimmte nicht. Bisher ging alles viel zu gut. Am Horizont tauchte die Seine auf, die als schmutziges graues Band die Innenstadt in zwei Hälften zerschnitt. Die beiden Val-d’Oise-Wohntürme kamen in Sicht. Fabia wies den Schweber an, Höhe zu gewinnen, damit sie einen besseren Überblick bekam.
In diesem Augenblick bestätigten sich ihre schlimmsten Befürchtungen:
Der Schweber hatte inzwischen eine kaum mehr befahrene Flugstraße hinaus aus den verstopften Routen der Flüchtlingsströme eingeschlagen, als wie aus dem Nichts von oben zwei wendige Polizeiflieger jäh herabfielen und vor ihnen drohend den Weg versperrten. Der automatische Pilot reagierte sofort, stoppte pflichtschuldig und der Schweber ruhte bewegungslos vor den beiden anderen in der Luft.
»Verdammt! Verdammt! Verdammt«, wiederholte Fabia nach einer Schrecksekunde, denn im Moment fielen ihr keine weiteren Schimpfwörter ein. »Wo kommen die so plötzlich her?«
»Landen Sie sofort diesen gestohlenen Schweber, Bürgerin Fabia Winterfeld. Aufgrund Paragraph 20, Absatz 4 der vor 52 Minuten in Kraft getretenen Allgemeinen Notstandsverordnung sind wir gezwungen, sofort von unseren Waffen Gebrauch zu machen, wenn Sie sich dieser Anordnung widersetzen. Sie sind ein Mitglied der verbotenen Citoyen-Bewegung und wir werden Sie und eventuelle Begleiter jetzt wegen schweren Verstößen gegen die Artikel 217 b, 56 und 14 a der Ersten Allgemeinen Strafgesetze der Notstandsverordnung in unmittelbaren polizeilichen Gewahrsam nehmen.«
Aus dem Lautsprecher ihres Fluggeräts ertönte eine nüchterne Stimme, die eindeutig einem Omega gehörte, dem engstirnigen, aber gefährlichen Polizei-goLEM, der in Krisenzeiten allerdings die Befugnisse besaß, Recht zu sprechen und dieses sofort auszuüben. Er besaß sogar die Genehmigung, Plünderer und Rebellen auf der Stelle zu exekutieren. An ein Verhandeln mit den sturen und schwerfälligen Robotern war nicht zu denken. Allerdings hatte es auch einen Vorteil, wenn sich unter den Polizisten auf den Schwebern nur goLEMs befanden. Ein Mensch – direkt mit einer Flugsteuerung verbunden – war jeder KI in Reflexen und Geschwindigkeit überlegen, zumal ihn keine Sicherheitsbeschränkungen behinderten. Fabias Gedanken rasten. Gab es einen Ausweg? Und woher kannte die Polizei überhaupt ihren Namen? Hatte sie doch einer ihrer Wegbegleiter verraten? Sie beschloss, diese Überlegung später wieder aufzunehmen. Jetzt gab es Wichtigeres.
»Haltet euch fest, das wird etwas holprig«, sagte Fabia und wies Omicron an, heimlich die Notfallabschaltung des Schwebers zu überbrücken und das Kommando an sie zu übergeben. Sobald das Steuer auf ihre Handbewegungen reagierte und ihr ihre Augreyes mehrere Fluchtrouten einblendeten, ging sie in einen gemächlichen Sinkflug, als würde ihr automatischer Pilot noch arbeiten und der Aufforderung der Polizei gehorchen. Doch dann gab sie Gas. Fabias Mitfahrer sperrte noch panisch ihre Münder auf, als der Schweber mit erheblichem Tempo nach unten wegsackte, aber ihr gemeinsamer Angstschrei wurde von dem aufheulenden Motor übertönt.
Wie es weitergeht:
Meister Siebenhardts Geheimnis
Buch Eins der “Brautschau”-Trilogie
Überall im Buchhandel als gebundene Ausgabe oder als E-Book erhältlich.
Und wer nicht genug kriegen kann:
Die Vorgeschichte:
Der Weg, der in den Tag führt
Band Eins und Zwei sind überall im Buchhandel als gebundene Ausgabe oder als E-Book erhältlich.
Eine Antwort auf „Mánis Fall (Kapitel 1.8)“
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