Der Prolog der großen Brautschau-Saga:
Mánis Fall
Prompt versperrte ihr eine dem Polizei-goLEM Omega nachgebildete Firewall den Weg und erkundigte sich nach dem Grund ihrer Anwesenheit. Dabei hielt sie drohend ihren an der Spitze rotglühenden Waffenarm auf sie gerichtet. Fabia war nicht direkt in Gefahr, denn ihr Gegner existierte ja nur im virtuellen Raum. Im schlimmsten Fall bekam sie einen Stromstoß ab und würde anschließend recht schmerzhaft aus der Simulation geworfen werden. Sie hatte aber schon von Fällen gehört, bei denen bei Cybernauten nach einer Attacke ernsthafte psychische Beschwerden zurück geblieben waren. Es hatte während der Simulationen auch schon den einen oder anderen Herzinfarkt gegeben.
Solch eine wehrhafte, aber hoffnungslos veraltete Schutzroutine wie dieser Omega, der Fabia den Weg verstellte, waren für eine erfahrene Cybernautin wie sie problemlos zu knacken. Da hatte die Kybernetikstudentin ihr Können schon an ganz anderen Bots erprobt. Sie konnten allerdings äußerst begriffsstutzig und hartnäckig sein, auch diese Eigenschaften hatten sie von ihren Originalen im echten Leben übernommen. Das Beste war, man überrumpelte sie. Die Kontaktaufnahme des Schutzprogramms, ohne den Eindringling sofort anzugreifen und zu versuchen, ihn aus dem Speicher zu löschen, war einer der Programmierfehler dieser martialischen, aber vollkommen veralteten Firewall. Sie gab Fabia dadurch ausreichend Zeit, zu reagieren. Während sie den vorgetäuschten Omega mit einer Unzahl unsinniger Anfragen spamte und seine Input-Funktionen überforderte, gelang es dem virtuellen Pendant ihres Omicron problemlos, ihn durch eine eingeschleuste Hintertür-Routine außer Funktion zu setzen. Der Wächter erstarrte und trudelte dann wie ein Gummiballon davon, aus dem durch ein Loch die Luft entweicht.
»War das schon alles?«, fragte sich die Cybernautin. »Das kommt mir fast zu einfach vor.«
Bevor sie den nächsten Schritt unternahm, schloss sie sich deshalb näher mit ihrem goLEM zusammen und errichtete um ihre beiden virtuellen Abbilder einen Schutzwall aus Schadcode. Keinen Augenblick zu früh! Denn nur einen Gedanken später wurden die beiden von einer Art Fluggeschwader angegriffen. Es waren Anti-Viren-Definitionen, die aber mangels Update so betagt waren, dass sie wirkungslos an der Hülle verpufften, die Fabia gebildet hatte. An einem anderen Tag hätte sie sich noch ein wenig mit den hilflosen Abwehrversuchen des Plattformsystems vergnügt und in seinen Speichern gewühlt, die sicher ein paar interessante Informationen enthielten. Aber sie hatte es eilig und übernahm nun rasch die Administrator-Rechte. Deren Passwort war durch einen so simplen Algorithmus verschlüsselt, dass Fabia fast Omicrons Verachtung zu spüren glaubte, als er ihn lässig mit einer Brutforce-Attacke knackte. Damit drang sie endlich ungehindert in das Sanctuary, das innere Primärsystem der Software vor und forderte sofort einen Schweber an. Die KI baute gehorsam eine Verbindung zum Flug-Netzwerk auf. Tatsächlich hatte das I-Net den Schweberverkehr zwar eingeschränkt, aber es war kein Problem, eine noch in der Luft befindliche, leere Kugel, die eigentlich bereits auf dem Rückweg zu ihrer Garage war, zum Henri-Gouraud-Wohnturm umzuleiten. Fabia betete, dass ihre illegale Aktion im allgemeinen Chaos nicht weiter auffiel oder zumindest von I-Net als Nebensächlichkeit abgetan wurde.
Eigentlich hatte die junge Frau damit erreicht, was sie wollte, aber sie nutzte die Gelegenheit und sah sich doch noch ein wenig um. Über eine nur selten verwendete Subfrequenz des weltumspannenden Netzes gab sie verschlüsselt bekannt, dass sie momentan über die IP der Schweberplattform erreichbar war. Wie sie wusste, wurde diese Frequenz von den Citoyens abgehört und häufig für ihre Kommunikation benutzt. Vielleicht bekam sie ja Kontakt zu einem ihrer Freunde, der mehr über den Putsch der 2MC wusste. Tatsächlich materialisierte sich fast augenblicklich in der virtuellen Schaltzentrale der Plattform die Avatarin von Xaver Delande. Die bleiche Erscheinung mit den todtraurigen Augen trug etwas schäbige Frauenkleider aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihre dunkelroten Haare trug sie durch einen strengen Mittelscheitel geteilt und verbarg sie größtenteils unter einem Haubenhut, den sie unter ihrem Kinn mit einer Schleife festgebunden hatte. Sie sollte Jane Eyre darstellen, die neben der Beauvoir, George Sand und Lizzy Bennet zu den beliebtesten Hologramm-Figuren überhaupt zählte.
Der mit dem merkwürdigen und veralteten bayerischen Vornamen gestrafte Xaver – er war wahrscheinlich der einzige unter den Milliarden von Menschen auf der Erde, der noch so hieß – war nicht nur zweifelsfrei ein Mann, sondern er war zudem muskulös wie ein Ringer. Sah man mal von seinerebenfalls roten Haarfarbe ab, wies er im echten Leben keinerlei Ähnlichkeit mit der Romanfigur der Charlotte Brontë auf. Aber eine solche hatte Fabia in ihrem virtuellen Dasein mit ihrem Sartre ja auch nicht. Xavers Zwillingsschwester Sadie war übrigens Fabias beste Freundin – auch wenn sie ebenso erfolglos mit ihr um die Gunst von Samuel Rosenthal konkurrierte. Trotzdem oder vielleicht auch deshalb waren die beiden nicht nur im echten, sondern auch im virtuellen Leben unzertrennlich und verbrachten einen großen Teil ihrer Freizeit miteinander. So wunderte sich Fabia nicht, dass auch Sadies Avatar, der schwarzhaarige, düstere Heathcliff aus Wuthering Heights, prompt neben Jane Eyre auftauchte. Sadies Fachbereich war die Anglistik, die sie mehr prokrastinierte als studierte. Die beiden kannten sich über Professor Rosenthal, der ja sowohl Informatik-, als auch Shakespeare-Vorlesungen hielt. Sadie und ihr Bruder Xaver hatten schon vor Fabia zum kleinen Zirkel der streitbaren Citoyens gehört.
Jane Eyre und Heathcliff sahen sich neugierig um. Fabia war längst daran gewöhnt, dass ihre Freunde im virtuellen Raum Avatare des anderen Geschlechts benutzten. Das machten sehr viele Leute im Netz; es war ein Massenphänomen. Sie selbst versteckte sich ja auch hinter der Maske eines alten Mannes.
»Wo du dich überall herumtreibst. Das ist doch wirklich nicht die beste Gegend«, stellte Sadie etwas mokant fest. Ihr gut aussehender, dunkelhäutiger Avatar brachte diesen Gesichtsausdruck mit einem Lippenkräuseln hervorragend zum Ausdruck. »Aber es ist schön, von dir zu hören. Wir waren schon in ernsthafter Sorge.«
»Wir haben nur nicht allzu viel Zeit«, mischte sich Jane Eyre, also Xaver, ein. »Diese Verbindungsfrequenz wurde vorhin von EDY für Privatübermittlungen gesperrt und wird nun vom I-Net überwacht. Zuwiderhandlungen ziehen eine sofortige Internierung nach sich. Also, bevor unsere Firewall zusammenbricht und wir erwischt werden: Wo bist du? Wir befinden uns alle in Babel und warten auf dich. Ohne dich können wir hier nicht weiter machen!«
»Ich bin schon auf dem Weg zu euch. Ich muss allerdings noch einen Zwischenstopp an einer Hämolyse-Station machen.«
»Auf dem großen Platz vor der Bibliothek ist eine Notfallstation vom Roten Kreuz. Nimm die, denn die Uniklinik wird bereits evakuiert. Aber beeile dich! I-Net hat den Countdown für den Impact schon gestartet.« Xaver nickte ihr zu und löste sich dann auf. Er hatte seine Verbindung gekappt. Sadie sah sich um und trat einen Schritt näher. Ihr Heathcliff sah plötzlich besorgt aus. Sie hatte seine Stimme zu einem Flüstern gesenkt.
»Du kommst mit einem Schweber von deiner Wohnung zu uns, richtig? Dann solltest du die Flüchtlingsströme weiträumig umgehen und versuchen, dich von der anderen Seite her der Universität zu nähern. Ich rate dir dringend, uns von Nordosten über Bezons anzufliegen und schon bei den Val-d’Oise-Zwillingstürmen die Seine zu überqueren. Ich habe diese Route als den schnellsten Weg ermittelt und schicke sie dir«, schlug Sadie vor. »Hast du das empfangen?«
»Danke, ja. Ich habe die Route an Omicron weitergeleitet. Nur die Ruhe; noch ist Zeit. Ich bin ja bald bei euch.«
»Hoffentlich, denn ich mache mir Sorgen um dich, Chica!«, fügte Sadie nach einem kurzen Zögern hinzu. Dann verließ auch sie den virtuellen Raum. Alleine gelassen, sah sich Fabia noch einmal in dem abstrakten Tumult um, in dem sie sich bewegte. Hier gab es nichts mehr für sie zu tun. Wie immer kostete es Fabia einige Anstrengung und Willen, sich von der künstlichen Welt zu lösen und in die sogenannte Realität zurückzukehren. Auch diese entstand wie die VR in der Schweberkonsole nur aufgrund von elektrischen Impulsen in den Nervenbahnen ihres Gehirns und war vielleicht ebenso falsch und nur ein luzider Traum. Fabia hatte den Eindruck, dass es ihr jedes Mal etwas schwerer fiel, wieder aufzutauchen. Sie kannte die Gefahr, von dem virtuellen Leben abhängig zu werden, eine Sucht, die VR-Junkies dazu verführte, ihr ganzes Leben in imaginären Welten zu verbringen, während sie in der Realität langsam verhungerten und verdursteten. Doch so gerne sie auch geblieben wäre, den bevorstehenden Weltuntergang konnte sie nicht im Cyberspace aussitzen. Fabia fragte sich besorgt, wie viele Menschen genau dies trotzdem versuchten und sich auch von I-Net und EDY nicht davon abbringen ließen, mit einem Computer verbunden in ihren Wohnungen und in erträumten Orten auszuharren, die ihnen ihre Interfaces und Augreyes vorgaukelten.
Seufzend gab sie Omicron den gedachten Befehl, ihre Verbindung mit der Steuerungseinheit zu lösen und öffnete die Augen.
Wie es weitergeht:
Meister Siebenhardts Geheimnis
Buch Eins der “Brautschau”-Trilogie
Überall im Buchhandel als gebundene Ausgabe oder als E-Book erhältlich.
Und wer nicht genug kriegen kann:
Die Vorgeschichte:
Der Weg, der in den Tag führt
Band Eins und Zwei sind überall im Buchhandel als gebundene Ausgabe oder als E-Book erhältlich.
Eine Antwort auf „Mánis Fall (Kapitel 1.7)“
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