Mánis Fall (Kapitel 1.3)

Der Prolog der großen Brautschau-Saga
Mánis Fall

knoten

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Weil Fabia zu lange geschwiegen hatte, übernahm automa­tisch die künstliche Intelligenz ihres Kanals für sie und ließ den Avatar aus dem Aphorismenspeicher des ech­ten Philosophen diesen endlosen Satz zitieren, damit keine Pause entstand und sich die Follower langweil­ten. Obwohl die KI dabei vollkommen zufällig vorging, erschien Fabia das Ge­sagte doch erstaunlich passend.

»Ich bin in eine Welt geworfen, die ich mir nicht aus­gesucht habe«, nahm sie den Ball auf, den ihr der Fran­zose über den Abstand von vielen Jahrhunderten hin­weg zugeworfen hatte, »und ich habe lange in dieser Welt gelebt, als wäre sie eine Selbstverständlichkeit, als gäbe es nur diese eine. Doch nun wird sie mir ge­nommen – oder besser gesagt, kaputtgemacht. Das größte Verbrechen ist es nicht, jemanden etwas zu neh­men, sondern es ihm kaputt wiederzugeben. Und dabei bin ich …« Sie zögerte.

Während Fabia nach den richtigen Worten suchte, mit denen sie ihre verworrenen Gedanken deutlicher for­mulieren konnte, sah sie, wie die Anzahl ihrer Zu­schauer rapide kleiner wurde und dann plötzlich auf 0 fiel. Sie verstummte erstaunt mitten im Satz. Das war ihr noch nie passiert. Selbst wenn sie angetrunken den größten Mist von sich gab, hielten ihr ein paar dort draußen in der weiten Welt standhaft die Treue. Sie fühlte sich ein wenig beleidigt.

»AUSKUNFT!«, wandte sie sich deshalb direkt an die zentrale Informationsplattform und Suchmaschine des internationalen Computerdienstes I-Net. Erneut muss­te sie einige Zeit warten und der kreisenden, anachro­nistischen Platine zusehen, bis eine Verbindung zu­stande kam. Aber das hatte sie bei der Aufregung, die im Moment herrschte, erwartet. I-Net schufte­te gerade sicherlich am äußersten Rand seiner Leistungsfähigk­eit und alle LAN-Kabel, Router, Server und Knoten­rechner auf der Erde liefen heiß. Endlich er­schien eine plastische, aber vollkommen geschlechtslo­se, in eine schlicht, weiße Mönchskutte gehüllte Ge­stalt auf der Bildschirmfolie von Fabias Augreyes, die wie eine Kon­taktlinse auf ihrer Iris klebte. Die Figur sollte zuver­lässig und ehrlich wirken, hatte aber auf die Studentin, die der Augenwischerei der heutzutage beliebig gestalt­baren äußeren Form bei Mensch und Maschine miss­traute, eher die gegenteilige Wirkung. AUSKUNFT trug einen faltenlosen und entrückten, fast gelangweilt zu nennenden, dabei allen menschli­chen Regungen vollkommen gleichgültig gegenüberste­henden Gesichts­ausdruck zur Schau. Fabia kannte die­se Miene von den unzähligen kleinen steinernen En­geln und Heiligen, die über den drei großen Portalen der mehrmals nie­dergebrannten und erst kürzlich re­konstruierten No­tre-Dame-Kathedrale in der Innen­stadt standen und hochmütig und sophistica­ted auf die wenigen eintre­tenden Gläubigen herabsa­hen. Auch die Kleidung des Avatars war der jener Skulpturen aus der Hochgotik ganz ähnlich. Der Stu­dentin wäre es lieber gewesen, wenn AUSKUNFT wie die Wasserspeier auf dem Dach der nach dem antiken Vorbild wieder aufgebauten Kir­che ausgesehen hätte. Die spöttischen Fratzen der Gargoyles hätten viel eher zu der KI gepasst, von der Verschwörungstheoretiker munkelten, sie wäre die wahre Macht hinter allen Erd- und Kolonie-Regierun­gen. Nun, das wusste Fabia bes­ser:
I-Net und seine Personifizierungen, EDY, AUS­KUNFT, GOTTSCHALK, ASK ME und wie sie alle hie­ßen, waren nur Facetten einer zwar gewaltigen und höchst entwickelten Rechnerintelligenz. I-Net selbst führte jedoch kei­ne eigenbestimmte, unabhängige Exis­tenz. Sie tanzte wie alle KI nach der Pfeife ihrer Pro­grammierer und Admins. Sartre hätte I-Net wahr­scheinlich eine Existenz im Sinne seiner Philosophie zugestanden und die Wis­senschaftler stritten sich seit Jahrzehnten, ob der Quanten-Großrechner zwischen seinen elektronischen Schaltkreisen und neuronal-bio­logischen Netzstruktu­ren eine Persönlichkeit und ein Ich-Be­wusstsein besaß oder diese nur perfekt simulier­te. Der gute alte Turingtest funktionierte bei der mo­dernen KI längst nicht mehr. Aber damit war aber noch kein abschlie­ßendes Urteil gefällt, ob der gigantische Rechnerver­bund auch intelligent war. Für Fabia lag der Fall ein­fach: I-Net war bloß ein Werkzeug wie ein Hammer oder ein Schraubenschlüssel, hochkomplex zwar, aber eben doch nur ein Werkzeug, das allerdings gleichzeitig Milliarden von Dingen und Anfragen erle­digen konnte und Millionen öffentlicher und privater goLEMs, In­dustrieanlagen und Haushalte steuerte. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, was geschehen würde, wenn die vor unter der spanischen Atlantikküste bis weit ins Meer hinein errichtete, unterseeische Rechner­anlage ausfiel, weil ein Stück vom Mond auf sie und die 4-Milliar­den-Einwohner-Megapole Marelona herab­stürzte.

»Ich entschuldige die Verzögerung und bin nun bereit. Stelle deine Frage, Bürgerin … Fabia Winterfeld,« sag­te AUSKUNFT in ihrer sonoren, aber gleichmütigen Stimme, die jeder der achtunddreißig Milliarden Men­schen auf der Erde kannte. Die asketische Mönchsge­stalt sah der Studentin dabei direkt in die Augen, als hätte sie allein seine Aufmerksamkeit. Die Farbe ihrer Iris schillerte wie Bernstein.

»Warum habe ich auf meinem Kanal plötzlich keine Zuschauer mehr?«

»Aufgrund Paragraph 4, Abschnitt 2 der Notstands­verordnung der Second-Moon-Corporation, die die Re­gierungsgeschäfte übernommen hat und im weiteren von mir 2MC genannt wird, ist mit sofortiger Wirkung jegliche private Nutzung des I-Netzes verboten und de­aktiviert. Dies gilt für Blogs ebenso wie auch für sämt­liche Meinungs- und Nachrichtenkanäle. Allein drin­gende familiäre Kontak­te sind in eng begrenztem zeit­lichem Rahmen erlaubt, unterliegen aber den Zensur­bestimmungen nach Para­graph 4, Abschnitt 7 der Ver­ordnung und müssen ein­zeln angemeldet werden. Bitte habe für diese Maßnah­me der 2MC Verständnis, Bür­gerin Winterfeld«, erklär­te AUSKUNFT so gelassen, als würde sie nur den Wet­terbericht vortragen. Dass in dieser prekären Lage der Notstand ausgerufen wurde, verwunderte Fabia nicht. Aber weshalb in Dreiteufels­namen regierte mit einem Mal die 2MC? Ihr blieb die Luft weg und sie verstand plötzlich, warum Professor Rosenthal es so eilig hatte, sie zu sehen. Die schlimms­ten Befürchtungen des alten Verschwörungstheoreti­kers waren in Erfüllung gegan­gen.

»Hast du noch weitere Fragen? Auch der Informati­onskanal unterliegt wegen der Notstandsverordnung und der momentanen Situation gewissen Einschrän­kungen und muss sich auf die nötigsten Grundfunktio­nen begrenzen. Ich empfehle dir nun dringend, Bürge­rin, augenblicklich die für dein Stadtviertel vorgesehe­nen Schutzräume aufzusuchen.«

»Und ob ich noch Fragen habe!«, rief Fabia eilig, bevor AUSKUNFT die Verbindung einseitig trennte. »Seit wann gilt diese Notstandsverordnung? Und was ist mit dem Eurasischen Parlament geschehen?« Sie konnte es nicht fassen. Erlebte ihr Land gerade einen Putsch? Der 2MC-Trust war der mächtigste Wirtschaftsverband der Welt. Er unterhielt I-Net, besaß das Patent auf die gorgeous Living Electronical Machines-Serie – die soge­nannten goLEMs -, hielt das Transportmonopol, rüstete die Roboterarmeen aus, organisierte die Ernährung der noch immer dramatisch anwachsenden Erdbevölke­rung und diktierte über seine Lobbyisten die Weltpoli­tik nach seinem Gutdünken. Aber das Konsortium, das doch im Moment alle seine Kräfte dafür bündelte, der Erde einen zweiten Mond zu schenken, hatte noch nie so offen eingegriffen oder gar die Regierungsgewalt ei­nes Landes übernommen.

»Das Parlament der Eurasischen Republik und seine geschäftsführenden Minister haben heute Morgen um 07:00 Uhr abgedankt und die Regierungsgeschäfte ver­trauensvoll in die Hände des Aufsichtsrates der 2MC gelegt, der aufgrund der Weltlage den sofortigen Not­stand ausgerufen und die Armeen in Bereitschaft ge­setzt hat. Seit 07:05 Uhr kommt es südöstlich des Schwarzen Meeres zu ersten Kampfhandlungen mit der Indopazifischen Union. Die Raumflotte ist gestartet und auf dem Weg zum Mars. Bürgerin Winterfeld, su­che nun auf der Stelle die Schutzräume auf. Nur dort bist du sicher. AUSKUNFT – Ende.«

Der Mönchsavatar von I-Net verschwand und Fabias Augreyes zeigten erneut den Fluchtweg aus ihrer Woh­nung an. Sie schluckte und hatte das Gefühl, das Zim­mer würde um sie kreisen. Sie hatte nicht geglaubt, dass sie nach den Horrormeldungen von eben noch von irgendeiner Nachricht schockiert werden konnte, aber dass zusätzlich zu dem in sechzehn Stunden herabstür­zenden Mondbrocken auch noch der befürchtete Krieg mit den östlichen Nachbarn der Republik ausgebrochen war, ließ ihren Verstand wie einen Boxer nach einem unfairen Tiefschlag taumeln. Aber dann bemerkte sie, dass sie wirklich schwankte! Sie begriff: Ein Erdbeben erschüt­terte die Stadt und ließ den Wohnturm in sei­nen Grundfesten wanken. Der Küchenschrank öffnete sich. Teller und Tassen polterten heraus und zerschell­ten klirrend auf dem Boden. Der inaktive Omicron roll­te unter dem Tisch hervor. Fabia war der Naturgewalt hilflos ausgeliefert. Sie suchte vergeblich Halt und stürzte schwer auf ihre Knie. Sie schrie schmerzerfüllt auf. Gleichzeitig fielen der Strom und auch der Au­greye-Kontakt zu I-Net aus.

Dann war das Beben so schnell vorbei, wie es gekom­men war. Es hatte nur zwei, drei Sekunden gedauert und sich doch wie eine Ewigkeit angefühlt. Die Kli­maanlage sprang surrend an, Fabias Augreyes funktio­nierten wieder und der Thermix entschied sich, eine Portion Gulasch auszuspucken, die mangels Teller un­ter der Nahrungsmittelausgabe des verflixten Geräts wie Katzenfutter auf den Boden klatschte und merk­würdigerweise einen ähnlich fauligen und fischigen Ge­ruch verbreitete.

»Omicron … Status«, keuchte Fabia und holte auf die­se Weise ihren kleinen goLEM aus dem Ruhemodus, in den sie ihn vorhin selbst verbannt hatte. Er erwachte, fiepte wie beleidigt und rollte sich einmal um sich selbst, damit sein Antennenhaupt wieder nach oben zeigte.

»Alle Systemprozesse laufen fehlerlos. Ich warte auf deine Befehle, Citoyen«, schnarrte er prompt mit seiner blechernen, hohlen Stimme. Sie wurde von einem sünd­haft teuren Sprachmodul in seinem Kugelbauch gebil­det, das Fabia erst hatte erwerben müssen, da die Omi­cron-Reihe serienmäßig nicht mit einer Sprachaus­gabe ausgestattet war. Die Studentin, die mehr um sich selbst als um die Funktionen ihres privaten goLEMs besorgt war, musste trotzdem über die anachronisti­sche Anrede schmunzeln, die Samuel Rosenthal dem Kleinen wie einem Papagei beigebracht hatte. Citoyen, der im Gegensatz zum Bourgeois politisch interessierte und im Geist der Aufklärung aktive Bürger – das wuss­te Faibia aus dem Geschichtsunterricht -, war die re­spektvolle Anrede, mit der sich die französischen Revo­lutionäre vor achthundert Jahren angesprochen hat­ten. Sie diente nun auch als Erkennungszeichen und Losung für den Geheimbund des Professors. Ci­toyen, wie passend war das für eine Einwohnerin der 3-Milli­arden-Seelen-Megapole Paris, deren Wohngebiete das halbe ehemalige Frankreich überdeckten!

[Zur Fortsetzung …]

Was vorher geschah:

Meister Siebenhardts Geheimnis
Buch Eins der „Brautschau“-Trilogie

Überall im Buchhandel als gebundene Ausgabe oder als E-Book erhältlich.

Und wer nicht genug kriegen kann:

Die Vorgeschichte:

Der Weg, der in den Tag führt

Band Eins und Zwei sind überall im Buchhandel als gebundene Ausgabe oder als E-Book erhältlich.

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