Der Prolog zur Brautschau-Saga
Mánis Fall
»Guten Morgen, Herr Professor, ich werde mich gleich auf den Weg machen. Aber darf ich mich vorher noch anziehen? Sie sehen es nicht, aber ich bin unter der Dusche und ich stehe im Augenblick vollkommen nackt vor ihnen«, erwiderte die junge Studentin ruhig, obwohl sie sich ganz und gar nicht gelassen fühlte. Ihr Herz klopfte laut vor Aufregung. Der ältere Mann sah ihr überrascht in die Augen – das heißt, er sah ihrem auf seine Pupillen projizierten künstlichen Erscheinungsbild in die Augen, dessen dreidimensionale Umgebung nicht ihre Wohnung, sondern die Standardeinstellung war, nämlich eine grüne Wiese unter blauem Himmel. Denn obwohl es für Fabia so wirkte, als würde Rosenthal in ihrem Badezimmer direkt vor ihr stehen, hielt er sich doch etliche Kilometer von ihr entfernt auf der anderen Seineseite in seinem der Universitätsklinik angegliederten Labor auf, das alle dort nur als “das Babel” kannten. Ach, es war kompliziert, aber die Täuschung perfekt. Fabia zwinkerte kokett und lächelte verführerisch. Sie wusste, dass die dreidimensionale Projektion von ihr diese Bewegungen in Echtzeit und getreu nachahmen würde – auch die merkwürdigen Verrenkungen, die sie machte, während sie sich geschwind abtrocknete und sich eilig ihre Freizeitklamotten anzog. Sie warf sich den ausgewaschenen, ihr viel zu weiten Hoodie über, den sie mal ihrem großen Bruder aus dessen Kleiderschrank gestohlen hatte. Er war das einzige Erinnerungsstück, das sie noch von ihm besaß. Dabei ärgerte sie sich ein wenig über sich selbst. Ihr kokettes Verhalten war einer emanzipierten Frau nicht würdig. Und doch … Der Professor räusperte sich und sah verlegen zu Boden, als würde er ihr tatsächlich dabei zusehen, wie sie sich ankleidete.
»Sie haben die Nachrichten noch nicht gehört, Fabia? Diesmal ist es ernst und Sie müssen sofort zu mir!«, flehte er. Die Studentin sah ihm an, dass er sich Sorgen machte. »Nehmen Sie nicht die Metro, sondern kommen Sie, wenn möglich, mit einem Schweber. Auch wenn es länger dauert, ist der Luftweg doch sicherer – zumindest bevor uns der Himmel auf den Kopf fällt. Ich warte hier auf Sie. Lassen Sie sich nicht zu viel Zeit.«
Der Professor beendete die Verbindung und sein Geisterbild in der Dusche klappte zusammen. Sofort schob sich eine Textmeldung von I-Net in den Vordergrund, die eine audiovisuelle Übertragung über den Regierungskanal ankündigte. In dem leicht durchsichtigen Rahmen, den ihr die Augreyes gegen die leere Wand warfen, auf die Fabia gewohnheitsmäßig sah, wenn sie mit einem Augenzwinkern durch die TV-Kanäle zappte, erschien nun der dunkelhäutige Pressesprecher der Earth Defense. Er war ein glatzköpfiger Mann undefinierbaren Alters, der jeder unter dem Spitznamen EDY kannte. Er wirkte besorgt, aber gefasst und vertrauenerweckend, strahlte Zuversicht und Entschlossenheit zugleich aus. Fabia wusste, dass auch er kein echter Mensch, sondern nur ein Hologramm war, dessen Physiognomie man nach ausgeklügelten psychologischen Gesichtspunkten zusammengestellt hatte. Niemand hatte eine Ahnung, wie der echte Sprecher hinter der Maske aussah – Fabia stellte ihn sich immer untersetzt und dick vor, mit einem Stiernacken und kleinen Schweinsäuglein. Was EDY zu sagen hatte, erschreckte sie allerdings und brachte sie dazu, sich so schnell wie möglich fertigzumachen.
»Bürger! Dies ist keine Übung. Der heutige Angriff der niederträchtigen Mars-Rebellen hatte zur Folge, dass ein Gesteinsbrocken mit etwa 2,5 Millionen Kubikkilometer Rauminhalt vom Mond abgesprengt wurde und sich nun in einer instabilen, enger werdenden Umlaufbahn um die Erde befindet. Der Mond selbst ist nicht in Gefahr, aber in exakt …«, die Stimme klang plötzlich metallen und künstlich, »16 Stunden und 24 Minuten …«, und kehrte zu ihrem normalen Tonfall zurück, »wird dieses kleine Teilstück über dem Atlantik ins Meer stürzen. Es ist trotzdem zu befürchten, dass der Impact sowohl auf dem panamerikanischen wie auch auf dem afrikanischen und dem europäischen Festland schwerste Erdbeben der Stärke 10,5 und höher und dadurch extreme Tsunami-Wellen auslösen wird. Diese bedrohen nicht nur die Inseln und Küsten, sondern alle Regionen der genannten Kontinente existenziell; insbesondere auch die unterseeischen Rechenzentren des I-Net unter Marelona. Sie werden aufgefordert, unverzüglich die Ihrem Wohnbereich nächsten Schutzräume aufzusuchen. Ihre Augreyes werden Sie führen. Bleiben Sie ruhig, Bürger, Sie haben ausreichend Zeit, in Kontakt mit Ihren Liebsten zu treten und in den Bunkeranlagen Schutz zu finden. Warten Sie auf weitere Instruktionen. Bürger! Dies ist keine Übung! Der heutige Angriff der Rebellen …« Der Pressesprecher begann damit, seine Katastrophenmeldung zu wiederholen. Gleichzeitig klappten weitere, sich teilweise überlappende Rahmen mit Fernsehprogrammen auf, die Livebilder aus aller Welt und hektische Reporter und Kommentatoren zeigten.
Fabia schaltete den Ton leiser und vergrößerte mit einem gezielten Blick eine Filmaufnahme vom Mond. Er sah ein wenig wie ein Apfel aus, von dem jemand ein kleines Stück abgebissen hatte. Ein paar Brocken schwebten durchs Bild, aber die Hauptmasse des von den Gravitationswellenkanonen abgetrennten Gesteins war längst auf dem Weg, in einer langgezogenen Kurve auf die Erde zu stürzen. Erschüttert versuchte die junge Frau die Größe des wie ein Damoklesschwert über ihrem Haupt schwebenden Mondbrockens einzuschätzen und welche Schäden er verursachen würde, aber ihre Einbildungskraft reichte dazu nicht aus. Trotz der Bilder, die ihr die Kontaktlinsen zeigten, blieb die Gefahr noch abstrakt. Vielleicht war es auch der Schock, aber sie blieb ruhig und gefasst. Sie schaltete alle Fernsehkanäle aus, aber I-Net zeigte ihr weiterhin den Countdown bis zum Impact und blendete eine Fluchtroute zum nächsten Schutzraum ein.
Fabia starrte auf die rot blinkende Infografik, ohne sie richtig wahrzunehmen. Jetzt schnürte doch eine nie gefühlte Panik wie ein dünner, messerscharfer Draht die Luft ab. Direkt über ihrem Kehlkopf saß er und strangulierte sie, machte jeden Atemzug zu einem erstickten Röcheln. Ihre Hände fuhren zum Hals, als könne sie sich von dem eingebildeten Draht befreien. Dann atmete sie krampfend ein, schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft. Wenn sie daran dachte, dass sie eben noch überlegt hatte, ob sie wohl genug Geld für eine weitere Schönheits-OP aufbringen könnte, wurde ihr ganz schlecht. Wie schnell solche Dinge vollkommen unwichtig wurden …
»Jean-Paul, sie haben es wirklich getan«, flüsterte sie, nachdem sie ihre Stimme wieder gefunden hatte. Mit dem Vornamen des Philosophen aus einer längst vergangenen Epoche aktivierte Fabia ihren nach Jean-Paul Sartre benannten I-Net-Tagebuch-Kanal. Dessen von ihr selbst programmierte KI-Software begann sofort, ihre Worte für die Nachwelt und ihre Follower aufzuzeichnen, sie dabei in alle möglichen Sprachen übersetzte, um sie anschließend dem ausgefallenen Avatar, den die Studentin sich ausgesucht hatte, lippensynchron in den Mund zu legen.
»Gerade eben hielt ich es noch für vollkommen ausgeschlossen, dass mir so etwas passieren würde. Nicht heute, nicht morgen, nicht in zwanzig Jahren, nicht während meiner Lebenszeit. Das war undenkbar, also existierte es nicht. Heißt es nicht schon immer: ‘Nach mir die Sintflut’? Der Weltuntergang ist doch etwas für die nächste oder die übernächste Generation, nicht für die eigene. Sollen unsere Enkel die Verantwortung für unsere Taten übernehmen, so wie wir die zerstörte Umwelt und den radioaktiven Müll unserer Vorfahren übernommen haben.«
Fabias Augreyes zeigten ihr die Statistik für ihr Online-Tagebuch, das sie auf den Namen „Jean-Pauls kleine Existenz“ getauft hatte. Sie vermochte es sich kaum vorzustellen, aber sie hatte Publikum auf der ganzen Welt. Laut dem eingeblendeten Zähler waren es 5734 Personen, die trotz der gefährlichen Situation in diesem Moment einem älteren, schielenden Mann mit dicker Hornbrille, schütterem Haarwuchs, schlechten Zähnen und einer altertümlichen Pfeife zwischen den dicken Lippen dabei zuhörten, wie er in ihrer eigenen Sprache die Sätze formulierte, die Fabia im gleichen Moment in ihrer Wohnung flüsterte.
Eigentlich hätte ihr I-Net-Double Simone de Beauvoir heißen und wie diese aussehen sollen. Sie bewunderte die unnahbare, stolze Frau, die ihre schwarzen Haare in einen todschicken Turban eingewickelt trug, mehr als ihren Lebensgefährten Sartre, der doch eher wie ein schmuddliger Briefkastenonkel wirkte. Aber die Avatarin der legendären Schriftstellerin und Feministin war nach Elisabeth Bennet die beliebteste und bereits allzu oft an Studierende der Genderwissenschaften vergeben. Deshalb hatte sich Fabia für Beauvoirs eher unbedeutenden Philosophenfreund entschieden, als sie wegen einer von Professor Rosenthal gestellten Semesteraufgabe aus einer Laune des Augenblicks heraus diesen typischen Studentenblog eröffnet hatte. Sartre war außerhalb von spezialisierten, den klassischen Existenzialismus erforschenden Fachkreisen kaum bekannt und niemand außer ihr benutzte ihn als Avatar.
Über „Jean-Pauls kleine Existenz“ teilte Fabia seit ein paar Jahren sehr unregelmäßig ihre Gedanken und Empfindungen, ihre politischen Meinungen – so weit sie nicht der oft allzu besorgten und akribischen Zensur des I-Net anheim fielen – aber auch Gedichte und allerlei Berichte und Anekdoten aus ihrem Alltag an der Sorbonne mit. Sie hatte sich nicht vorstellen können, wen ihr Geplapper außer ihren Freuden und Bekannten noch interessieren könnte, aber der bescheidene Erfolg hatte sie doch ein wenig stolz gemacht. Gut, zehntausend Zuschauer auf ihrem sporadischen, recht exzentrischen Jean-Paul-Sartre-Augreye-Kanal waren bei einer Weltbevölkerung von ungefähr achtunddreißig Milliarden Menschen wirklich nicht viele, aber es waren ihre Zuschauer und sie fühlte sich vor ihnen in der Verantwortung. Deshalb wollte sie sich auch von ihnen verabschieden, bevor sie ihre Wohnung verließ und deren Tür zum vielleicht letzten Mal hinter sich schloss. Sie bezweifelte, dass das altersschwache Henri-Gouraud-Building den zu erwartenden Tsunami heil überstehen würde. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte Sartre plötzlich:
»Ich fühle mich in die Welt geworfen, in dem Sinn, dass ich mich plötzlich allein und ohne Hilfe finde, engagiert in eine Welt, für die ich die gesamte Verantwortung trage, ohne mich, was ich auch tue, dieser Verantwortung entziehen zu können, und sei es für einen Augenblick, denn selbst für mein Verlangen, die Verantwortlichkeiten zu fliehen, bin ich verantwortlich«, stellte er kryptisch und ein wenig rechthaberisch fest.
Was vorher geschah:
Meister Siebenhardts Geheimnis
Buch Eins der “Brautschau”-Trilogie
Überall im Buchhandel als gebundene Ausgabe oder als E-Book erhältlich.
Und wer nicht genug kriegen kann:
Die Vorgeschichte:
Der Weg, der in den Tag führt
Band Eins und Zwei sind überall im Buchhandel als gebundene Ausgabe oder als E-Book erhältlich.
Eine Antwort auf „Mánis Fall (Kapitel 1.2)“
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