Die Reise zum Mittelpunkt meines Zimmers – 1. Stunde

Die Reise zum Mittelpunkt meines Zimmers

1. Stunde

Ich schrecke auf. Ich schmecke Himbeeren. Ich bin wach – warte, noch nicht ganz. Der säuerliche, ein wenig gegorene und alkoholische Geschmack entfaltet sich in diesem Moment so deutlich auf meiner Zunge, als hätte ich tatsächlich eine der köstlichen Beeren auf ihr liegen. Aber ja, ich schmecke nicht nur ihr Aroma. Ich spüre auch die Frucht. Ich schiebe sie mit der Spitze meiner Zunge, mit der ich sie durch ihre Stielöffnung penetriere, wollüstig nach vorne – von innen gegen die Schneidezähne. Die vielen kleinen Blasen zerplatzen dabei. Schlüpfrige, feuchte Kerne werden nun fühlbar, werden in die Zahnzwischenräume gequetscht. Der klebrige Geschmack füllt die ganze Mundhöhle. Ich seufze. Das darf so bleiben. Dann begreift endlich mein Geist, der ganz langsam in der Realität angelangt ist: Die Himbeere war das letzte Überbleibsel eines luziden Traums. Sein gerade noch lebhaft empfundenes und im ganzen Körper nachhallendes Drehbuch habe ich allerdings zu meinem sofortigen Bedauern in seiner Gänze vergessen habe. Nur die Fruchtsaftsüße war ist länger bei mir geblieben. An ihr habe ich mich festgehalten, doch nun entgleitet auch sie meinem Zugriff. Sie ist wie der letzte Gruß eines geliebten Menschen, der aus dem Fenster eines abfahrenden Zuges zu dem auf dem Bahnsteig Verbleibenden zurückwinkt, während er sich der Ferne nähert, immer kleiner wird und dann ganz verschwindet; zuerst aus meinem Blick und gleich darauf aus meinem unsicheren Gedächtnis.

Ich öffne die Augen. Deshalb also habe ich diese Rückenschmerzen und zwei eingeschlafenen Arme. Sie haben, so fällt mir jetzt ein, in meinem Traumgespinst eine gewichtige Rolle gespielt; auch wenn ich nicht mehr weiß, welche. Es ist Morgen und ich liege nicht in meinem Bett im Schlafzimmer. Ich habe es heute Nacht nicht mehr dorthin geschafft. Ich bin stattdessen an Ort und Stelle eingeschlafen, sprich, in meinem Großvater-Ohrensessel. In ihn setze ich mich nur, wenn ich Fernsehen will. Das habe ich offenbar getan. Ich weiß aber nicht mehr, was ich sah. Das Gerät, es steht zwei Mannslängen von mir entfernt in der Mitte meines Zimmers, habe ich nicht mehr ausgeschaltet. Es hat sich inzwischen längst selbst in den Ruhezustand eines elektrischen Apparats versetzt. Nur mehr ein rotes Licht leuchtet noch mitten in der Kunststoff-Leiste unter dem mattschwarzen Bildschirm. Es zeigt beharrlich und auch ein wenig bedrohlich, dass der Fernseher lebendig ist, auf „His Masters Voice“ harrt. Er wirkt geduldig in seinem Dämmerschlaf, aus dem er allerdings jederzeit erwachen kann.

Ich greife mit der rechten Hand hinüber zu dem niedrigen, quadratischen Tischlein treu an der Seite meines Sessels, auf dem ich die Nacht verbrachte. Auf dem Tisch steht ein bauchiges Glas, in dem sich noch ein kümmerlicher Rest einer braunen Flüssigkeit befindet und daneben eine halbleere Flasche. Sie ist der Grund für mein halbberauschtes, halb ermattetes Einschlummern im Sessel. Aber nicht ihr gelten meine Handbewegung und mein seitliches Herunterbeugen. Ich will nach die Fernbedienung greifen. Sie ruht eingeklemmt zwischen Glas und Flasche. Hat das eine Bedeutung? Habe ich sie gestern Nacht absichtsvoll dorthin gelegt? Egal! Das Ergreifen der Fernbedienung soll eine energische Tat werden, bedeutungsvoll, bewusst und ohne das geringste Zögern. Das soll eben die gelungene Tat sein, mit der ich einen weiteren Tag in meiner Isolation beginnen möchte. Es ist der Tag, an dem ich Großes plane und endlich meine Expedition beginnen möchte. Ein erster Schritt … Doch ich habe nicht mit dem sofort anbrandenden Termitenschwarm gerechnet, der mit der nicht mehr unterbrochenen Blutzirkulation rücksichtslos und drängelnd wie durch eine geöffnete Schleuse in meine tauben Finger rast. So fällt meine Geste nach dem Gerät, mit dem ich den Fernseher endgültig vom lauschenden Wachkoma in das stromlose Nirvana befördern wollte, bei weitem nicht so großartig aus, wie ich es mir erhofft hatte. Meine Hand zittert und sie kann kaum den kleinen, unförmigen Kasten greifen, geschweige denn, mit einen Finger auf die Exitustaste drücken. Und dann mache ich zuerst auch noch alles falsch! Ich erwecke ungewollt wie der Messias den Lazarus den Fernsehapparat zum Leben. Ich sehe an meinem weißen Hemdsärmel herab, fokussiere meine schlafverklebten Augen, vor deren Iris allerlei merkwürdige Würmer und Punkte herabtreiben, die allerdings sofort zur Seite weichen, wenn ich versuche, sie genauer zu betrachten. Ich halte die Fernbedienung verkehrt herum.

Folgerichtig erscheint der Kopf eines Menschen vor dunkelbraunem Arbeitszimmerhintergrund ins polyphemhafte vergrößert auf dem Bildschirm. Der Mann ist riesig, ein Gigant unter uns Zwergen, die wir ihm lauschen. Seine Konturen sind schärfer als die eichenrustikalen Möbel hinter ihm, die er fast vollständig verdeckt. Dieser Eindruck mag vielleicht durch seine Hornbrille mit den dicken Gläsern verursacht sein. Er rückt sie immer wieder mit seiner plötztlich im Bild auftauchenden Hand über den schmalen Nasenrücken von den Flügeln nach oben. Gleich darauf beginnen sie wieder zu rutschen. Der Mann ist nicht sehr sorgfältig rasiert. Unter den Naselöchern und der Oberlippe sind ein paar Bartstoppeln zu erkennen, die er übersehen hat. Ist das ein Rest von eingetrocknetem Rasierschaum, der an seinem linken Ohrläppchen klebt? Ich frage mich, wie lange dieser Mann schon vor einer Kamera sitzt und einem schlafenden Publikum die Welt erklärt. Ich konzentriere mich, aber ich verstehe nicht, wovon er redet. Wahrscheinlich bin ich noch nicht wach genug. Der Mann liest Zahlen vor. Er spricht über Statistiken, Tabellen und Gauß’sche Glockenkurven. Wahrscheinlich ist das Schulfernsehen. Interessiert mich das? Heute, an meinem großen Tag?

Hektisch drehe ich die Fernbedienung, die nicht für die haptischen Fähigkeiten meiner mit blut gefüllten Neandertalerfinger entworfen ist. Deshalb nehme ich die zweite Hand zur Hilfe, in der sofort eine Ameisenarmee beginnt, den „Säbeltanz“ von Chatschaturjan aufzuführen. Fast wäre mir dabei der verfluchte Kasten aus der Hand geglitten! Ich drücke zuerst lässig mit dem Zeigefinger, dann immer wütender mit beiden Daumen auf die rote Taste oben. Doch es gelingt mir nicht, das Fernsehbild und damit den drögen Berichterstatter auszuschalten. Muss denn ausgerechnet heute das Mistding seinen Geist aufgeben? Sindetwa die Batterien leer? An diesem gewaltigen Tag, an dem ich zum Mittelpunkt meines Zimmers vordringen will! Zumindest gelingt es mir nach einigen vergeblichen Versuchen, dem Moderator die Stimme zu rauben. Er bewegt unverdrossen seinen Mund, aber außer dem Rauschen des Autoverkehrs draußen vor dem Fenster und dem zögernden Tropfen des Wasserhahns in der Küche herrscht nun wohltuende Stille. Wenigstens etwas!

Ich lehne mich wieder in meinem Sessel zurück. Ich will es nicht, aber meine Augen fallen zu. Ich schlafe wieder ein.

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