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Tschingelbells, Tschingelbells … weihnachtliche Ohren- und andere Leiden

You gave it away …

Musik wird oft nicht schön gefunden,
weil sie stets mit Geräusch verbunden.

So. Damit habe ich auch einmal den Herrn Busch (Wilhelm, nicht George W.) zi­tiert. Das wäre auch abgehakt.

Tatsächlich jedoch erfreut mich Musik, sie ist ein wich­tiger, um nicht zu sagen, ein dominanter Teil meines alltäglichen Lebens, ich kann kaum ohne sie. Mein erster Gang am Morgen führt mich nicht ins Badezimmer oder zum geräuschvol­len Kaffeevollautomaten von Frau Klammerle, sondern noch vor dem Füttern meiner sich jeden Tag kurz vor dem Hungertod befindlichen Katze zum Radio. Auf dem Weg zur Arbeit dann und wieder zurück (immerhin eineinhalb Stunden an jedem Werktag) höre ich meine CD’s oder – ich gehe mit der Zeit –  bringe meinen neuen Bluetooth-Lautsprecher mithilfe des Smartphones zum Erklingen. Wenn ich schreibe oder lese, läuft immer im Hintergrund meine Musik (1) und ein Sonntag­morgen ohne Butterbreze, J. S. Bach oder Albert King ist kein gelun­gener für mich. Freilich goutiere ich nicht jede Art von Gesang – oder das, was manche dafür halten. Vieles ist für mich der oben zitierte an mei­nen Nerven zerrende Lärm, dazu gehören zum Beispiel moderner R&B, Hip-Hop, Gangsta-Rap, Volksgetümel, Schlager, Popgeträller, Death Metal und dazu eigentlich alles, was einen deutschen Text hat. Meine Welt sind der erdige Blues, der harte Rock, der schmelzende Soul der 60’er und 70’er, eleganter Jazz, Barock und die frühe, klassi­sche Musik mit ihren klaren, eindeutigen Strukturen. Dort fühle ich mich zuhause, in diese Kuscheldecke aus Klang wickle ich mich wohlig ein und lasse mich von ihr durch den Tag bringen und beim Schreiben begleiten.

Ich bin auch nicht unbedingt ein Feind von Weih­nachtsliedern, das will hier ich einmal deutlich sagen und auf meine weiche, sentimentale Seite hinweisen, die auf diesen Seiten viel zu kurz kommt. Wenn Slade „Merry Xmas“ gröhlen, AC/DC sich eine „Mistress for Christmas“ wünschen, Ian Anderson „Hey! Santa! Pass us that bottle, will you!“ ruft, dann singe ich voller Inbrunst mit. Wenn John Lennon „War is over“ anstimmt oder Mahi­lia Jackson mit ihrer göttlichen Stimme „Stille Nacht“ interpretiert, dann erwärmt sich sogar mein durch und durch kaltes, atheistisches Herz und ich werde ganz still und melancholisch.

Es gibt jedoch einen Popsong, den viele – aus was für Gründen auch immer, die sich mir nicht erschließen -, für ein Weih­nachtslied halten und der so furchtbar schlecht ist, dass er mir körperliches Unbehagen erzeugt, anhaltende Übelkeit und pochende Kopfschmerzen, pfeifende Ohren und einen eklen, langanhaltenden Geschmack auf der Zunge, den ich mit keiner Zahnbürste wegrubbeln, höchstens mit einem doppelten Glas Whiskey hinunterschlucken kann. Er ist noch grusliger als die grausamen Häns­chen-Klein-Melodien von Modern Talking oder das völkische Ge­winsel von Xavier Naidoo; schlimmer noch als alle Hei­no- oder Boygroup-Untaten zusammen. Meine Finger weigern sich gerade, den Titel dieses Verbrechens einzu­tippen, um zu verhindern, dass in einer Schublade mei­nes Gedächtnisses seine „Melodie“ einem Springteufel­chen gleich heraushüpft und mich quält. Obwohl man mir wahrlich kei­ne Homophobie unterstellen kann, werde ich dann für endlose 04:38 Minuten zum Schwulenhasser und suche, obwohl ich Pazifist bin,  in meiner Umgebung nach schweren Gegenständen, mit denen ich mir oder meiner Umgebung Schäden zufügen kann –  in erster Linie dem Lautsprecher, aus dem das vermeintliche Weihnachts-„Lied“ erklingt. Der eine oder andere wird es schon ahnen: Ich rede von „Last Christmas“ von Wham!, der größten musikalischen Katastrophe seit der Erfindung der „Melodica“!

Seit Jahren entspinnt sich in der schönen Vorweih­nachtszeit ein Kampf zwischen mir und George Michael. Wird es ihm gelingen, mir seinen Katzenjammer erneut um die Ohren zu blasen oder werde ich diesen Song  vier Wochen lang vermeiden können? Denn es vergeht kein Tag in der Adventszeit, an dem er nicht schleimig und schmalzig aus dem Radio, einem Glühmarkt- oder einem Kaufhauslautsprecher tropft. Auf vielen Top-Ten-Listen der beliebtesten Weihnachtslieder steht er tatsächlich ganz oben! So viel zu der Hoffnung von Immanuel Kant, der Mensch fände doch noch einen Ausweg aus seiner selbstgewählten Dummheit. Was muss in jemandem vorgehen, der dieses Lied mag, das wahrscheinlich ganz allein daran schuld ist, dass jedes Jahr vor dem Hl. Abend der Schnee weg­taut und sich Menschen von Brücken stürzen? Ich will es mir gar nicht vorstellen.

In den letzten drei, vier Jahren ist es mir gelungen, dem „letzten Weihnachten“ aus dem Weg zu gehen, die­ser Heimsuchung, gegen die die apokalyptischen Reiter ein heiterer Ausritt auf einem Pony sind. Diese Weihnachten je­doch sind Wham! die Sieger. Sie haben mich fertigge­macht. Dreimal haben sie bereits gnadenlos und un­barmherzig zugeschlagen, überraschend aus einer De­ckung heraus, ohne dass ich ihnen entfliehen oder meine Ohren abdecken konnte.

Es begann am Donnerstag, am Nikolausabend: Aus altruistischen Motiven heraus half ich meinem Vornamen verpflichtet auf dem Günzburger Altstadt-Weihnachtsmarkt jungen Menschen beim Crêpes- und Glühweinverkauf, als George Michael plötz­lich aus dem Lautsprecher neben dem Stand heraus sein Herz verschenkte. Eilends stellte ich mit Kennerblick fest, dass der Belag für die Crêpes knapp zu werden drohte und hetzte in einen nahegelegenen Supermarkt. Als letzter an der Kassenschlange – Sie wissen ja, ich bin immer der letzte – wurde ich mit sechs gro­ßen Nutellagläsern in den Armen zwischen Einkaufswü­tigen und meinem Nuss- und Mandelkern verteilenden Namensvetter eingezwängt und so zur völligen Bewe­gungslosigkeit verurteilt. Und im Kaufhausradio erklang 04:38 Minuten lang: „Last Christmas“! Die tür­kische Mutter, die vor mir zehn Schoko-Nikoläuse auf das Förderband legte, sang selig mit.

Auf dem langen Heimweg zurück nach Diedorf gelang es mir in der Nacht endlich, mithilfe meines Twitter-Freundes Eric Burdon die Ohrmuscheln zu reinigen und ich hoffte, dass es jetzt auch gut war. Aber George Michael hatte wohl Blut ge­leckt, denn am Wochenende schlug er wieder zu, vollkommen über­raschend und so hinterhältig, dass ich überlege, ob ich ihn über seinen Tod hinaus nicht mit einer Zivilklage überziehen und Schmer­zensgeld verlangen kann. Und das kam so:

Frau Klammerle hat in ihrem unnachahmlichen Sinn für Humor ausgerechnet den letzten Freitag dazu aus­erwählt, für mich einen Termin beim Zahnarzt zu ver­einbaren. Um 09:41 Uhr lag ich wehrlos auf seinem Stuhl. Er hielt mir etliche metallene Gegenstände in den Mund und kratzte hartnäckig und mit zunehmender Begeisterung an irgendwelchen Belä­gen. Und wer  begleitete aus dem Praxisradio heraus be­geistert meine Tortur 04:38 Minuten lang mit seiner un­vergleichlichen Stimme, die schmerzhafter und spitzer in meinen Zähnen bohrte, als das mein Zahnarzt je ver­mag? Begleitet von der Helferin, die begeistert mits­ang und den Absaugschlauch im Takt in meinen Gau­men stieß? Na, wer in der Klasse kann mir das sagen?

You gave it away …

Wann ist endlich diese endlose Vorweihnachtszeit vorbei? (2)

Eine schöne Adventswoche mit der Musik Eures Geschmacks wünscht Euch allen

 

 

 

 

Nikolaus Klammer

 

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(1) Im Augenblick singt sich gerade James Brown die Seele aus dem Leib: I’m A Sex Machine…

(2) Diese und viele weitere Geschichten findet ihr hier:

Noch einmal davon gekommen

Dieser schöne Band ist für wenig Geld überall im Buchhandel erhältlich und ein ideales Weihnachsgeschenk für jung und alt. Kommt Leute! Unterstützt mal zur Abwechslung einen hungernden Autor.

 

 

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