Vor und nach Lukas wurde in den 60ern Hausmusik gemacht, das heißt, meine Mutter, meine Schwester und auch mein Bruder flöteten(1) oder M. spielte auf dem Akkordeon, während die Stegherr-Omi ein aus ihrem Ärmel gefischtes Taschentuch in der Hand zerknitterte, in das sie still hineinheulte, während sie den in diesem Jahr wieder besonders gelungenen Baum bewunderte. Dazu wurde falsch und nicht allzu textsicher gesungen. In späterer Zeit legte mein Vater dann nur noch seine Weihnachts-Schallplatte auf und vor der Lesung erklang in der Version von Rudolf Schock(2) und den Regensburger Domspatzen »Stille Nacht«, danach »Oh, du Fröhliche« (Über diese Reihenfolge wurde manchmal gestritten). Meist hatte er Probleme, im schummrigen Kerzenlicht, das der Baum ausstrahlte, die Nadel des Plattenspielers richtig aufzusetzen und es ertönten vor der stillen Nacht mit einem hässlichen Quietschen die letzten Takte von Eine Muh, eine Mäh: »Eine Muh, eine Mäh, eine Täterätätä … Ratadschingderattabum!«
Der Umbruch von der Live-Hausmusik zum Vinyl geschah übrigens während des besinnlichen Teils eines Hl. Abends, als M. sich standhaft weigerte, Musik zu machen, niemand singen wollte und meine Mutter schließlich wütend ihre Bibel durch den Raum schleuderte und die Besinnung in einem monumentalen Streit gipfelte.

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Sie stritten also an Weihnachten, meine Eltern: ausdauernd, lautstark und bitterböse. Sie zerfleischten sich manchmal gegenseitig in ihrem hektischen Bemühen, ein gelungenes Familienfest zu feiern. Jeder kannte die Verletzbarkeiten des anderen und besonders mein Vater hatte ein sicheres Gefühl dafür, was wirklich wehtat und dort stach er mit Vorliebe und ohne Rücksicht auf eigene Verluste hinein.(3) Die Tränen meiner Mutter flossen während der Bescherung und danach reichlich und es waren eben nicht nur Tränen der Rührung über den schönen Baum und die herzzerreißenden Gesänge während der Besinnung, sondern leider auch oft genug andere, Tränen der Verletzung, der Wut, des Leids. In meinem Gedächtnis stritten die beiden an jedem Weihnachten, Jahr für Jahr für Jahr – aber ich mag mich von meinen Erinnerungen so trügen lassen wie beim Schnee.
Man kann uns also mit Fug und Recht eine dysfunktionale Familie nennen, an der jeder Psychologe und Soziologe seine wahre Freude hätte. Jedes von uns Kindern hat aus dieser Familie einige psychische Deformationen und Neurosen ins Erwachsenenleben mitgenommen. Doch dabei darf man nicht vergessen, dass sich meine Eltern in jedem Jahr auf Neue geradezu verzweifelt darum bemühten, uns ein gelungenes und behütetes Weihnachten erleben zu lassen, uns überhaupt eine glückliche Kindheit zu schenken. Es ist ihnen im Großen und Ganzen gelungen. Das war schon damals und – ehrlich gesagt -, auch heute keine Selbstverständlichkeit, wenn ich an die vielen kaputten, ja, traumatisierten Kinder denke, denen ich in meinem Brotberuf begegne und die so etwas wie eine Familie oder ein Weihnachtsfest nur vom Hörensagen kennen.
Und was die Streitigkeiten meiner Eltern angeht, die einmal sogar dazu führten, dass meine Mutter ins Hotel zog, sich einen eigenen Topf kaufte, und wild entschlossen war, sich scheiden zu lassen: Beide leben noch; mein Vater noch recht rüstig allein in der Wohnung, die er seit fast vierzig Jahren bewohnt, meine Mutter ist seit acht Jahren vollkommen dement und liegt in einem Pflegeheim ganz in seiner Nähe. Sie ist heute 91 Jahre alt geworden und längst nur noch ein ausgemergelter, bis auf die Knochen abgemagerter leidender Körper, der, hat er mal die Lider nicht geschlossen, blicklos an die kahle Decke starrt und von Krämpfen gezerrt wird. Die liebende Seele, die ihn einst belebte, ist schon vor Jahren komplett verloren gegangen – der Mensch, der meine Mutter einmal war, ist zwar noch nicht beerdigt, aber schon lange tot. Mein Vater besucht sie trotzdem regelmäßig, obwohl ihm der Gang den steilen Stephinger Berg hinauf immer schwerer fällt. Dann beugt er sich in ihrem Zimmer zu ihr herab, streichelt ihr zärtlich über die Wange und wenn sie dabei tatsächlich zufällig die Augen öffnet, dann flüstert er:
»Manchmal glaube ich, dass sie mich erkennt …«
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Bei uns Kindern herrschte nach dem besinnlichen Augenblick endlich eitle Freude. Wir hatten es geschafft, unser Hl. Abend war durch seine schier endlose Katharsis gegangen. Wir rissen die Decken von den Geschenkpaketen und bis man uns ins Bett brachte, spielten wir mit unseren neuen Sachen, klauten dem anderen die Leckereien aus seinem mit Süßigkeiten übervollen »Bunten Teller«. Ich baute an meinen Legos, ließ meine neuen Plastikguss-Cowboys und Indianer(4) ihre ersten Abenteuer erleben, blätterte im neuen Fünf-Freunde-Buch, ärgerte mich, dass ich wieder keinen Kaufmannsladen und keine Eisenbahn bekommen hatte und hatte keine Zeit, mich um die Erwachsenen zu kümmern. Meine Mutter war aber schon wieder bei der Arbeit. Die Verwandtschaft, die uns besuchte, wollte verköstigt werden. Diese konsumierte erhebliche Alkoholmengen und kalte Wurst- und Käseplatten, verputzte halbe Eier, die mit Mayonnaise und Fake-Kaviar belegt waren, Fischhappen und Schinken, fläzte hemdsärmelig und zumindest in den 60ern noch kettenrauchend auf den Sofas und Stühlen. Wir Kinder fielen irgendwann mit rotglühenden Wangen und vollkommen überdreht vom Spielen in einen unruhigen, fiebernden Schlaf, die Eltern überfressen und abgefüllt mit Bier, Wein, Sekt und Schnaps.
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(1) Durch die schlechten Erfahrungen haben es meine Eltern gar nicht erst versucht, mich an einem Instrument auszubilden. Zudem galt ich als vollkommen unmusikalisch.
(2) Es kann auch René Kollo oder ein anderer Heldentenor gewesen sein, da bin ich mir nicht mehr sicher. Ich bin zu faul, meinen Vater zu besuchen und in seiner sehr übersichtlichen Plattensammlung nachzusehen. Über den Versuch meiner Schwester, doch einmal bei der Besinnung statt Herrn Schock Mahilia Jackson die »Silent Night« singen zu lassen, breite ich den Mantel des Schweigens.
(3) Dabei war sein Herz selbst voller innerer Wundmale, die nur oberflächlich vernarbt waren und sofort wieder aufbrachen, wenn Alkohol im Spiel war. Als 17jähriger Soldat der Waffen-SS war er während des Kampfs um Berlin verwundet und für fünf Jahre in russische Kriegsgefangenschaft gekommen, wo er an jedem Tag um sein Überleben kämpfen musste und als kranker, gebrochener Mann zurückkehrte, dem die Nazis seine Jugend und seine Ideale geraubt hatten.
(4) Auch so beginnen Schriftstellerkarrieren: Im Jahr 1968 bekam ich eine Cowboy-Postkutsche mit Kutscher und ein paar bösen Indianern geschenkt und ich spielte am 1. Feiertag damit auf dem Wohnzimmerteppich. Im Hintergrund lief der Fernseher und von den Nachrichten, die dort liefen, bekam mein Cowboykutscher seinen Namen: Johnson, benannt nach dem damaligen amerikanischen Präsidenten. Mein Johnson erlebte viele, viele Abenteuer und war einige Jahre später gemeinsam mit dem tapferen Cheyenne Siosi (der Name beruht auf einem Lesefehler) der Held meiner ersten Schreibversuche.
Eine Antwort auf „Unser Weihnachten, damals … (Teil 4)“
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