Danach ging es endlich mit der Schtrossaboh (Tram) nach Hause. Von der Haltestelle an der Frauentorstraße war es nicht mehr sehr weit bis zum Pfärrle 19, wo wir unter dem Dach gegenüber vom Alten Kautzengässchen wohnten(1). Obwohl sie höchstens drei oder vier Stunden gedauert haben mögen, sind mir diese endlosen Wandernachmittage mit abschließendem Friedhofsbesuch am Hl. Abend in meiner Erinnerung als die längsten verblieben, die ich je erlebte – nicht einmal der Vormittag vor den Sommerferien in der Schule dauerte so lang. Ich habe diese Nachmittag grundsätzlich als eisig kalt, düster, grauver-hangen und neblig im Gedächtnis; obwohl sicher auch mal die Sonne schien oder Schnee auf der Landschaft glitzerte. Um mal ein Klischee zu bemühen: Zeit ist durch und durch relativ und vom Empfinden und der Tagesform abhängig. Am Hl. Nachmittag tropfte sie so zäh und feucht aus den niedrigen Wolken und dehnte sich so weit aus, dass sie mindestens für zwei Leben auszureichen schien. Der Versuch, uns Kinder auf diese Weise ruhiger zu stellen und gar müde zu machen, ging selbstverständlich schief und nach hinten los. Je länger der Marathon-Lauf durch die pittoresken Landschaften rund um Augsburg andauerte, um so hippeliger, kindischer und aufgeregter wurden wir.
In der Zwischenzeit hatte meine Mutter, die in Berlin aufgewachsen ist und in einer Art Torschlusspanik in den Süden der Republik geheiratet hatte, jedoch den besten Nachmittag in ihrem Jahreslauf und ihrer verfloss deshalb viel schneller. Die Stegherr-Omi war zu Verwandtschaftsbesuchen und anschließend zum Rosenkranz und zur Kindermesse gewatschelt(2). Meine Mutter hatte also ihre Ruhe in der sonst so quirligen Wohnung. Sie machte es sich, wie sie es ausdrückte, »besinnlich«, zündete ein paar Kerzen an, trank Tee und genoss ihr Leben. Sie wusste sehr gut, dass dies nur eine kurze Atempause war und danach die übliche Weihnachtskatastrophe folgen würde, die jedes Jahr aufs Neue damit begann, dass sie die Würstchen, die es vor der Bescherung zum schnellen Abendessen gab, zu lang im Topf beließ und oft auch noch mal schnell aufkochen ließ. Deshalb waren sie natürlich alle bis auf die fette Knacker, die sie als Gourmet-Höhepunkt als Curry-Wurst genoss, geplatzt und nur der Senf konnte ihnen noch etwas Geschmack geben. Und unweigerlich war dies der Grund für den ersten Hl. Abend-Streit meiner Eltern, wenn mein Vater und wir durchgefroren vom Friedhof kamen und, nachdem wir unsere Hände am kalten Wasserhahn aufgewärmt hatten, am Esstisch in der Küche Platz nahmen.
*
Ich gehe als typischer Babyboomer, der im längsten und kältesten Schneewinter des 20. Jahrhunderts geboren wurde, inzwischen mit Siebenmeilenstiefeln auf die 60 zu und gehöre also endlich ebenfalls zu den älteren, weißen und »toxischen« Männern, die das Narrativ des 21. Jahrhunderts dominieren und jede andere Stimme mit ihrer Wortgewalt, ihrem Rassismus und ihrem misogynen Antifeminismus unterdrücken. So behauptet es zumindest das Imago, das heute unsere Gesellschaft bestimmt und sich damit einen recht merkwürdigen Feind zugelegt hat, der allerdings nur in den Köpfen mancher Leute existiert. Gut so, in dieser Rolle fühle ich mich wohl und ihr Grundstein wurde sicherlich an den Hl. Abenden gelegt, bei denen ich als Kind das Vergnügen hatte, sie im Kreise meiner kleinbürgerlichen und typisch bundesrepublikanischen Familie miterleben zu dürfen. Was dort bei der Bescherung im kleinen – in unserem privaten Mikrokosmos geschah – war, wenn auch leicht verspätet, paradigmatisch für die westdeutsche Gesellschaft Ende der 60er bis in die Mitte der 70er Jahre. Das Zeitgenössische hielt Einzug.
Aber zuerst musste nach den klassischen geplatzten Würstchen mit Kartoffelsalat von uns Kindern abgespült und abgetrocknet werden, während der Hausherr im Wohnzimmer die letzten Vorbereitungen zum feierlichen Teil traf und anfangs noch die echten, später dann die elektrischen Lichter am Baum entzündete. Das musste schnell gehen, denn bald wurden die Eltern meines Vaters und weitere Verwandtschaft zum Weihnachtsabendessen erwartet und dann musste die Bescherung abgeschlossen sein. Traditionell wurde der Höhepunkt des Abends dann von meinem Vater mit einem Glöckchen eingeläutet, das wir allerdings meist überhörten. Glück, heißt es, sei die ewige Wiederkehr des ewig Gleichen. Wenn das stimmt, war mein Weihnachten sehr glücklich, denn sein ritualisierter Ablauf änderte sich kaum. Er sah in seinem besinnlichen Teil vor der Bescherung stimmungsvolle Musik und die Lesung der Weihnachtsgeschichte vor, die meine Mutter mit ihrer uralten, zerfletterten Lutherbibel in der Fassung von 1912 unternahm. Das war der einzige Moment im Jahr, in dem diese zum Vorschein kam – danach verschwand die Bibel wieder für 365 Tage in einem Schrank. Meine Mutter las salbungsvoll und getragen, aber niemals fehlerfrei. Sie stolperte immer über die gleiche Stelle, bei der sie ihren Finger anfeuchten und umblättern musste. Sie begann klassisch mit Lukas 2.1:
Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger von Syrien war.
… und endete bei 2.20:
Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott um alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.
Obwohl ich wirklich abgelenkt war und während ihrer Lesung ungeduldig abzuschätzen versuchte, was sich für Geschenke für mich unter dem Tücherhügel unter dem Baum verbargen, kann ich diesen antiquierten Text noch immer auswendig. Ich hatte als Kind natürlich merkwürdige Vorstellungen davon, wie eine Schätzung ablief; ich stellte sie mir als eine große Waage vor, auf der man gewogen wurde. Warum der römische Kaiser sich für das Gewicht seiner Untertanen interessierte, war mir aber ein Rätsel. Auch die Worte, die Maria in ihrem Herzen bewegte, stellte ich mir wie das Schaukeln vor, mit dem man einen Säugling in den Schlaf wiegt. Auch hier tauchte wieder das Bild einer Waage auf, was mich doch ziemlich verwirrte. Meine Schwester M.(3) hat mir mal erzählt, sie bemühte sich immer, mich bei der Lesung nicht anzusehen, weil sie sonst einen Lachkrampf bekommen hätte. Ich muss dabei wirklich wie ein überfahrener Frosch ausgesehen haben.

(1) Im Erdgeschoss befand sich eine Bäckerei und es roch im Hausgang immer herrlich nach frischen Brezen und Brot. Unsere Nachbarin, die diesen Geruch nicht ausstehen konnte, versprühte deshalb immer Toiletten-Lavendelduft im Treppenhaus und ich rieche noch heute diese seltsame Mischung, wenn ich die Augen schließe und in meiner Vorstellung zu unserer alten Wohnung emporlaufe. Was haben wir als Kinder diese Frau gehasst! Doch dies ist eine andere Geschichte, die ich ein andermal erzählen werde.
Im Stockwerk unter uns wohnte übrigens der mit mir etwa gleichaltrige Roland Krabbe, der heute als Herr Braun gemeinsam mit dem unsäglichen Silvano Tuiach der bekannteste Augsburger Kabarettist ist. Ursprünglich wollte er Pfarrer werden, also eigentlich ins gleiche Metier. Laut meiner Mutter habe ich oft mit ihm gespielt, aber ich kann mich nicht daran erinnern und ich denke, ihm geht es ebenso.
(2) Das »Watscheln« ist wörtlich zu nehmen, denn sie hatte die dürrsten und krummsten O-Beine, denen ich jemals außerhalb von Lucky-Luke-Comics in meinem echten Leben begegnet bin. Jeder Cowboy wäre neidisch auf ihre Schteckerlfias gewesen.
(3) M. ist übrigens kein Pseudonym, um sie vor der Öffentlichkeit zu schützen. So nenne ich meine Schwester eben, die ziemlich genau 9 Jahre älter als ich ist. Früher riefen wir sie meist »Trulle«. Sie musste als die Älteste unter uns Geschwistern als erste gegen die fatale Familienaufstellung rebellieren und dies fiel in die unruhigen Jahre nach der klassischen 68er-Revolution. Sie hörte Hendrix, verkaufte irgendwann ihr Akkordeon, um eine Stereoanlage zu erwerben und ging auch noch eine Mesalliance mit einem Künstler ein. Mein Vater, der sehr schnell mit harten Urteilen bei der Hand war, riss ihr JimiHendrix-Plakat von der Wand, weil er keine »Menschenfresser« im Haus duldete, teilte Ohrfeigen aus und prophezeite ihr eine Karriere als Prostituierte. Mir hat er übrigens später geweissagt, ich würde als Müllmann enden. Allein mein Bruder fand Gnade unter seinen allzu gestrengen Augen. Tatsächlich war M. bis zu ihrer Pensionierung Förderlehrerin an einer Augsburger Grundschule und ich, naja, mir muss von Frau Klammerle sehr nachdrücklich befohlen werden, den Müll vors Haus zu bringen.
Eine Antwort auf „Unser Weihnachten, damals … (Teil 3)“
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