Der Hl. Abend selbst begann mit unbeschreiblichem Grauen vor dem Mittagessen. Die Vorfreude und Aufregung meiner Geschwister und mir stellte sich erst nach diesem wahrhaften Mahl des Schreckens ein – es war der Stacheldrahtzaun ums Paradies. Denn es gab immer die Innereien des Federviehs, das am 1. Feiertag mit Knödeln und Blaukraut und – »zur Feier des Tages« – einem Glas halbtrockenen Moselweins verzehrt wurde: Das war das sogenannte, in einem Säcklein mitgelieferte »Gänseklein«, das zusammen mit Hals und Füßen des Tiers so lange zerkocht wurde, bis es eine ekelhafte, gallertartige Masse entstanden war. Bei den Gedanken daran wurde uns Kindern schon in den Wochen vorher schlecht. Aber wir wurden klassisch erzogen – was auf den Tisch kommt, muss auch gegessen werden und wenn es den ganzen Tag dauern sollte So zog sich das Essen gefühlt über Stunden hinweg dahin, während unsere Jugend auf diese Weise verschwendet wurde und dieser verfluchte Teller nicht leerer werden wollte, sondern nur langsam erkaltete; die graue, durchsichtige Sauce wie auf einem Pudding gelierte und zu einer ungenießbaren Knöcherlsülze erstarrte. Während man mit dem Löffel in ihr herumstocherte. und beim des Schlucken die Luft anhielt, schmatzte die Stegherr-Omi neben einem am merkwürdig gebogenen Halsstück, das sie in den Händen hielt. Sie fiezelte, saugte und schleckte glibbrige Fleischteilchen aus den Knochen und Sehnen und seufzte vor Glück, während ihr dünner Mund vom Fett glänzte. Kein Wunder, dass ich seit meiner Volljährigkeit Vegetarier bin.
Was für ein furchtbarer Beginn und in meiner Erinnerung dauerte er länger als der ganze Rest des Tages, der vor der Bescherung noch mit einer weiteren Qual für die drei bemitleidenswerten Geschwister aufwartete. (1)
Auch jenes grausame, geradezu finsterböse, an eine dunkelschwarze und blutige Satansmesse erinnernde Mittagsmahl des Hl. Abends, das wie an allen anderen Tagen pünktlich um 12:00 Uhr »genossen« wurde, war irgendwann gegessen und lag tonnenschwer und unverdaulich wie ein Wackerstein im Magen. Danach ruhte der Herr; will sagen, mein Vater genehmigte sich friedlich und satt seinen kurzen Mittagsschlaf, auf den er niemals verzichtete und der bei dem heute über Neunzigjährigen den halben Tag andauert. Für seine drei Nachkommen begann nun eine zerdehnte Zeit des Sodbrennens und des Wartens und das Weihnachtsfieber setzte massiv ein. Diese nervöse, bis zur Bescherung anhaltende und sich langsam in ihren Symptomen steigernde Idiosynkrasie ist, denke ich, noch in keinem medizinischen Fachartikel beschrieben worden, aber recht weit verbreitet und epidemisch. Auch meine eigenen Kinder litten zeitweise bis über ihre Adoleszenz hinaus heftigst an ihr. Vor allem Sohn Nr. 2 war regelmäßig am Nachmittag des Hl. Abends schwerstens am Weihnachtfieber erkrankt.
Bei mir äußerte sich dieses saisonale Fieber mit heftiger, motorischer Unruhe – heute würde man eine ADHS diagnostizieren -, flauem Darmgrummeln und Durchfall (diese Symptome wurden vielleicht auch durch das »Gänseklein« verursacht). Dazu kam äußerste Gereiztheit, die mit erhöhter Temperatur und Schlafmangel gepaart war. Obwohl es keinen Grund dafür gab, wuchs meine exaltierte Aufgewühltheit mit dem Fortschreiten des Nachmittags in geometrischer Weise an und wurde, da es höchst viral ist, von meinen gleichfalls am Weihnachtsfieber leidenden Geschwistern noch wechselweise verstärkt. Zwar hielten meine Eltern die Wohnzimmertür den ganzen Tag über verschlossen, aber ich wusste genau, dass es nicht das Christkind war, das die Geschenke brachte, sondern meine Mutter, die sie irgendwann am Nachmittag aus ihrem schlechten Versteck im Schlafzimmer der Eltern holte und unter den Baum legte. Wir bekamen nichts vom Christkind geschenkt, sondern etwas zum Christkind. (2) Ich wusste, mir würden nahezu alle meine Wünsche, die ich am Ersten Advent auf meinen Wunschzettel gemalt oder gekritzelt hatte, erfüllt werden, denn wir waren ja – wie bereits erwähnt – nicht arm und meine Eltern ließen sich gerade an Weihnachten nicht lumpen. Auch hatte ich normalerweise bereits im Vorfeld heimliche Erkundigungen eingezogen und bei passender Gelegenheit den Schlafzimmerschrank durchwühlt. Gruschdln nennt man das auf gut Augschburgerisch. Trotz allem litt ich schwerst am »Warten-aufs-Christkind«-Syndrom.
Nach seinem Mittagsschlaf, der regelmäßig lautstark von den Streitigkeiten seiner Kinder unterbrochen wurde, nahm mein Vater das Problem auf seine Weise in die Hand. Seine Kur war eine ausgedehnte, nachmittägliche Wanderung durch westliche Wälder, nördliche Felder, zum südlichen Hochablass und quer durch östliche Äcker(3), die ihn und uns Geschwister in seinem Schlepptau schließlich unfehlbar kurz vor 17:00 Uhr zum Alten Ostfriedhof führte, wo er vor der Aussegnungshalle ein weihnachtliches Blaskonzert der Freiwilligen Feuerwehr anhörte und die Kerzen am Grab seiner ersten Frau anzündete. Meist traf man hier auch Verwandtschaft, die ihre eigenen Gräber besuchte. (4)
Obwohl wir auch übers Jahr regelmäßig zu festen Terminen wie z. B. an Allerheiligen auf den Friedhof gingen und ich zu den Verstorbenen damals keinerlei Bezug hatte, überwältigte mich dort gerade an Weihnachten mehr als an den anderen Tagen eine bedrückende, fast beängstigend morbide Stimmung und mich beschäftigte die Frage, ob die Toten dort in der schweren, feuchten Erde so froren wie ich und ob ihnen auch so langweilig war. Wahrscheinlich waren dies die einzigen Momente in meiner Kindheit, in denen ich mich mit meiner Sterblichkeit befasste.

(1) Physische Gewalt kam übrigens vor, zählte aber eigentlich weniger zu den Erziehungsmethoden meiner Eltern, auch wenn ihnen immer wieder einmal die Hand »ausrutschte«. Meist – ich gebe es zu – hatte zumindest ich es auch verdient; wenn ich z. B. mit einem Nahtauftrenner das frisch genähte Kleid meiner Mutter in Lametta zerschnitt (hat Spaß gemacht!) oder meinen Vater, der mich an einem Sonntagnachmittag zu einer seiner Wanderungen zwingen wollte, mit dem klassischen Götz-Zitat beschied, denn ich wollte lieber »Bill Bo und seine Bande« von der Augsburger Puppenkiste sehen – was ich dann mit schmerzender Backe auch tat, während er wütend und allein durch die Schwarzen Wälder stapfte. Meine Mutter hat an diesem Nachmittag übrigens zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben leckere Bratäpfel gemacht und ich glaube noch immer, dass es da einen Zusammenhang gab.
(2) Meine Kindheit und Jugend fand in der tiefsten bayerisch-schwäbischen Provinz statt; man kann sich gar nicht mehr vorstellen, wie stumpf, grau und fade Augsburg, das unter einem spießbürgerlichen Leichentuch erstickte, damals war. Dort gab es selbstverständlich keinen Weihnachtsmann oder gar einen Santa Claus, sondern nur das Christuskind und den Nikolaus. Es gab auch keine Rentiere, keine Coca-Cola-Trucks und schon gar kein »Rockin’ around the christmas tree«, sondern Ochs und Esel, die Straßenbahn und »Still ruht der See«. Weihnachten war eine ernste Sache, kein Spaß.
(3) Mein verschlossener und extrem schweigsamer Vater war ein Meister darin, bei Wanderungen Abkürzungen zu nehmen, die sich im Nachhinein als gut getarnte Umwege herausstellten. »Ist es noch weit?« – »Nein, wir sind gleich da«, war der am häufigsten zu hörende Dialog, den wir mit ihm führten.
(4) Dabei fällt mir eine herrliche Geschichte über meinen längst verstorbenen Onkel Siegfried ein, der der geizigste Mensch war, den ich in meinem Leben kennengelernt habe. Gegen ihn ist Balzacs Vater Goriot ein Verschwender. Er hatte für das Grab seiner Mutter vor Jahren die erhebliche Anschaffung eines Adventskranzes mit vier Kerzen unternommen, die er allerdings nie entzündete, da er den uralten, braunen Kranz in jedem Jahr wiederverwendete und nicht jedesmal neue Kerzen kaufen wollte – für ihn, der ernsthaft sein Klopapier abzählte, damit niemand zu viel verwendete, wäre das eine ungeheuerliche und sinnlose Geldverschwendung gewesen. Als wir schon erwachsen waren, haben meine Schwester und ich an einem Weihnachtsabend heimlich doch diese Kerzen angezündet. Sie brannten in der Hl. Nacht nieder und anschließend auch gleich noch der ganze staubtrockene Adventskranz und danach die Buchsbegrünung und die Erika-Bepflanzung des Grabes. Er hat nie erfahren, dass wir das gewesen waren und auch meine Eltern hielten dicht, als er am 2. Feiertag entsetzt von der Grabschänderei berichtete. Im nächsten Jahr hatte Onkel Siegfried übrigens einen neuen Kranz und Kerzen aus Kunststoff, die nicht brennbar waren (wir haben trotzdem vergeblich versucht, sie anzuzünden).
Eine Antwort auf „Unser Weihnachten, damals … (Teil 2)“
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