Ich hatte diesen Text schon im letzten Advent auf meinem Blog. Inzwischen habe ich ihn für mein Buch “Noch einmal daran gedacht” überarbeitet, erweitert und stelle deshalb in den Wochen bis Weihnachten die aktualisierte Fassung ein.
Unser Weihnachten, damals … – Wahrgelogenes
»Wie das war?«, fragt ihr. »In meiner Kindheit an Weihnachten?« In erster Linie war es merkwürdig. Inzwischen habe ich ja ein biblisches Alter von bald 60 Jahren erreicht. Für die Nachgeborenen liegen meine Kindheit und Jugend so weit zurück in der Vergangenheit, dass meine Söhne sie sich schwarzweiß und ärmlich vorstellen, mit Bratäpfeln und Schneeverwehungen bis zum ersten Stock hinauf und einem gestrengen finsteren Nikolaus, dessen Knecht Rupprecht die Rute allzu locker in der Hand sitzt.
Oh, du Fröhliche, als ich noch ein kleiner Bergbauernbub war und in den schwarzen Westlichen Wäldern durch hüfthohen Schnee stapfte …
Strammdeutsches Proto-AfD-Nazi-Weihnachtsgedöns also mit all seinen Konsequenzen, mit viel Alkohol und Lametta und möglichst wenig Christentum.
Tatsächlich war alles ganz anders – oder zumindest ein bisschen, wenn ich mich denn recht entsinne. Ein wenig Wehmut ist auch dabei, wenn ich heute darüber schreibe; da bin ich wie Friedrich Nietzsche, der sich heimlich an das Grab seines toten Gottes schleicht, um ein paar verstohlene Tränen zu vergießen. Wahr ist sicherlich, dass mich die Weihnachten meiner Kindheit geprägt und einige von ihnen auch nachhaltig traumatisiert haben und ich sie während der Adventszeit zu gleichen Teilen fürchtete und herbeisehnte. Natürlich war wenigstens in meinen Erinnerungen früher viel mehr Schnee, Kälte (und Lametta) und der Schnee lag von Anfang November bis in den März hinein als geschlossene Decke auf der Stadt und dem Umland. Wir gingen jeden Tag nach der Schule zur Lueginsland-Festung hinüber, um dort mit unseren Schlitten den Hang an der alten Stadtmauer hinunterzurutschen. Damals war sogar deshalb die Thommstraße unterhalb des Schlittenbergs für Autos gesperrt – und das mitten in der Stadt. Aber Erinnerung ist trügerisch. Auch in den späten 60er und den 70er Jahren gab es weihnachtliche Wärmeperioden und Tauwetter. Es blühten vorzeitig die Schneeglöckchen und die Krokusse und der Hl. Abend war nur selten weiß. Schnee, der für einen Sechsjährigen hüfthoch liegt, geht Erwachsenen gerademal bis zum Knie und in all den Jahren lag höchstens vier-, bis fünfmal genug Schnee zum Rodeln. Wenn man diese Wetter allerdings mit dem klimakatastrophalen Heute vergleicht, waren die Winter meiner Jugend eisig, hartnäckig, gewaltig und so endlos wie die verregneten und kalten Sommer.
Ich habe mich etwas schlauer gemacht; das Internet macht es möglich. In den Jahren zwischen 1968 und 1980, aus denen ich meine Weihnachtserinnerungen für diesen Text geschöpft und sie zu einem beispielhaften Hl. Abend zusammengebastelt habe, hat es in Augsburg immerhin vier weiße Weihnachten gegeben – nämlich ’70, ’73, ’75 und ’76. Das sind immerhin doppelt so viele wie es sie seit der Jahrtausendwende gab, wo nur in den Jahren 2001 und 2010 Schnee lag. In diesem Jahr hat es geregnet. (Und für alle, die noch immer nicht an einen Klimawandel glauben: Zwischen 1960 und 1970 gab es sogar sieben Jahre, in denen es an Weihnachten schneite.) Aber genug von der Statistik und zurück zu dem kleinen, dicklichen Jungen, der nun so kurz vor dem Höhepunkt seines Jahres vor Aufregung zittert und der nur noch das kurze Fegefeuer des besinnlichen Teils des Hl. Abends vor sich hat, bis er endlich ins Paradies eintreten kann und mit seinen neuen Legos und seinen Cowboy-Mänschgerle (Männer; die Geschichte findet im Schwabenland statt) spielen darf.
Obwohl also die Erinnerungslücken und die nachträglichen Korrekturen der Einbildungskraft so groß wie der Christbaum auf dem Rathausplatz sind, will ich doch versuchen, einen archetypischen, paradigmatischen 24. Dezember aus meiner Kindheit zu beschreiben. Die Familie bestand aus sechs Personen und würde 2018 wahrscheinlich zum Prekariat gezählt; damals konnten wir problemlos vom Angestelltengehalt meines Vaters leben und gehörten zur klassischen bürgerlichen Schicht; jener heutzutage so häufig beschworenen Mitte, die in unserer Gesellschaft im 21. Jahrhundert verloren geht: Dies waren meine Eltern, meine beiden fünf und zehn Jahre älteren Geschwister und – als eine Art Hausmädchen und Queen-Mom zugleich – die Mutter der ersten, bei der Geburt meines Bruders verstorbenen Frau meines Vaters, die »Stegherr«-Omi. Das war ein resolutes und zähes höchst katholisches kleines Energiebündel (1), die uns mehr erzog und sich um uns Kinder kümmerte als meine vor ihrer Dominanz kapitulierenden Mutter und vor deren Teppichklopfer wir oft unter die Küchenbank fliehen mussten.
Ich darf vorstellen: Meine Geschwister, meine Mutter und die Stegherr-Omi.
Das Vorspiel zum Hl. Abend war in aller Regel katastrophal: Mein Vater hatte oft schon am Ersten Advent irgendwo einen billigen Weihnachtsbaum erworben oder aus eine obskuren Quelle bezogen. Das waren damals selbstverständlich keine widerstandsfähigen Nordmanntannen, sondern anämische Fichten und es gelang ihm deshalb nur selten, den Baum am 23. Dezember vom Lagerkeller in den vierten Stock zu tragen, ohne dass dieser unterwegs im Treppenhaus die Hälfte seiner Nadeln verlor. Oder, was mindestens zweimal geschehen ist, alle. Dann flog der Baum mit Flüchen begleitet vom Küchenbalkon aus hinunter in den hinteren Hof. Meist musste mein Vater also noch einmal im Wettrennen mit den Öffnungszeiten los und sich einen neuen Baum besorgen, der dann krumm, ungleichmäßig gewachsen und windschief war – und immer zu groß. Folglich wurde er mit Zange, Baumsäge und Bohrer bearbeitet, gekürzt, dort ein Ast abgesägt und hier einer in einer Lücke hinzugefügt. Nachdem mein Vater dieses Werk vollendet hatte und der Baum dabei schon wieder tüchtig Nadeln verlor, war er meist noch hässlicher als vorher. Aber nun wurde er ja geschmückt und dies war allein das Vorrecht meines Vaters. Mit einer Flasche Asbach Uralt schloss er sich vor unseren neugierigen Blicken im Wohnzimmer ein. Aus der gewaltigen übers Jahr in den Keller verbannten Weihnachtspappkiste kramte er viel Lametta, Kugeln, Engelsfiguren, Wachsmodeln, echte Kerzen, in späteren Jahren auch eine Lichterkette und »schmückte« in stundenlanger Arbeit. Als dann der Baum endlich fertig aufgeputzt war, war der Weinbrand leer, er lag neben der Krippe unter dem niedrigsten Astkranz, sang Weihnachtslieder und zumindest in seinen Augen erstrahlte der herrlichste Baum aller Weihnachten in feierlichem Glanze. (Meine Mutter würde dann später alles noch einmal um- und die ärgsten Geschmacklosigkeiten abhängen.)

(1) Zu meinem Erschrecken stelle ich gerade fest, dass diese 1903 geborene Frau, die mir so greisenhaft erschien, Ende der 60er gar nicht mal so viel älter war, als ich es heute bin.
4 Antworten auf „Unser Weihnachten, damals … (Teil 1)“
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