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Die Verliese des elfenbeinernen Palastes – Flucht aus dem Elfenbein-Palast (2)

[Zum Anfang der Leseprobe …]

Die Verliese des elfenbeinernen Palastes
»Der Weg, der in den Tag führt«
Band 2

Kapitel 2
Flucht aus dem Elfenbein-Palast (2)

»Ja, Adelf, der Pechvogel. Ich hoffe, du kennst mich noch. Es ist lange her, Meister der Heilung …«, begann der befreite Gefangene lächelnd, wurde aber von Juel eilig unterbrochen:

»Ich weiß nicht, was du da sagst, mein Freund. Noch nie hat mich jemand einen solchen Meister genannt. Hat die Gefangenschaft an deinem Geist genagt, du Armer? Du kennst mich, isch bins doch, der ehrlische Juel.« Der Dieb trat eilig auf den etwas voreilig für tot erklärten Botschafter von Italmar zu und umarmte ihn erschüttert, drückte ihn dabei allerdings so fest, dass Adelf die Luft und damit auch die Sprache wegblieben.

»Ihr kennt euch?«, fragte Jalah erstaunt. Der Dicke und Adelf nickten im gemeinsamen Takt.

»Aber wie viel Zeit ist seither vergangen, zehn Jahre?«, fragte Juel mit brüchiger, ergriffener Stimme. Dieses unerwartete und unverhoffte Wiedersehen mit seinem uralten Freund ging ihm so nahe wie schon lange nichts mehr. Er räusperte sich. »Doch wie eure Märchenerzähler sagen: Das ist eine Geschichte vor der Geschichte und ich will sie euch an einem anderen Tag erzählen …« Er flüsterte eilig ein paar Worte in Adelfs Ohr und dieser senk­te so­fort zustimmend den Kopf.

»Du bist fett geworden … Juel«, sagte der Botschafter dann und lös­te sich la­chend aus der Umarmung des angeblichen Kaufmanns, der ihm vor langer Zeit so nah wie ein Bruder gestanden war. Adelf stand nun aufrechter und wirkte nicht mehr ganz so jensei­tig. Es war, als hätte ihm die Berührung seines alten Freundes Kraft und Mut gegeben; ganz so, als wäre Juel in der Lage, Menschen nur durch einen Kontakt Stärke und Gesundheit zu schenken. Der Botschafter aus Italmar, der seine schweren Wunden überlebt und als vermeintlicher Attentäter seit Monaten in den pri­vaten Kerkern von Ómer gelitten hatte, wandte sich an Selin, der noch im­mer seine Semira in den Armen hielt und weiterhin von der Situation überfordert war.

»Juel hat recht. Wir haben später noch zur Genüge Zeit, unsere Geschichten auszutauschen. Wir sollten uns nicht mehr allzu lange hier aufhalten und sobald als möglich aus dem Palast fliehen. Doch habe ich das eben richtig verstanden? Du, junger Mann, suchst ei­nen Schatz, der im Thron der Namenlosen Herrscher versteckt ist? Ich glaube, da kann ich helfen und die ganze Ange­legenheit etwas beschleunigen, wenn ich darf. Ich habe da ein paar … Möglichkeiten, die über eure hinausreichen.«

Selin wollte verwundert Einspruch erheben, aber Juel hob die Hand.

»Lass ihn. Er weiß, was er tut, glaube mir.« Er nickte auffordernd und der Mönch schleppte sich mit der Unterstützung der beiden die Stufen des Absatzes zum Thron em­por. Sie traten vor den gewaltigen, aus einem Stück Baumstamm geschnitzten Sitz, von dem herab die Namenlosen seit zweimal tausend und noch einmal tausend Jahren mit eiserner, kalter Despotenstimme Recht sprachen. Adelf nahm lächelnd auf ihm Platz. Er wirkte dabei wie ein Kind, das sich in den Sessel seines Großvaters geschlichen hat. Juel nahm Selin bei der Hand und gemeinsam traten sie etwas zurück. Der junge Mann fragte sich verwirrt, was Adelf und der Dieb vorhatten. Der Mönch strich zärtlich über die Lehnen, die von den Handflächen der Herrscher von Karukora blank gerie­ben waren und zuckte dann zurück, als hätte ihn ein verborgener Hornissenpfeil gestochen.

»Dieses Holz strahlt Langmut aus«, sagte er mit halb­geschlossenen Augen. »Der Geist in ihm ist lebendig, ich kann es spü­ren. Er ist uralt, älter noch als die Vorgänger. Er stammt aus einer Zeit vor den Menschen; noch bevor die Götter frei auf der Erde wandelten. Und der Geist in dem Holz wartet. Dies ist vielleicht die älteste Seele, die es heute auf die­ser Welt gibt; einer älteren bin ich zumindest noch nie begegnet. Im Holz sind die Erinnerungen des Bau­mes eingeschlossen, von dem es einmal ein Teil war. Dieser Baum hatte seine Wurzeln meilentief in die Erde ge­schlagen und ragte einzeln und mächtig in den Himmel der feuerroten Morgendämmerung der Erde. Auf dem höchsten Punkt eines Hügels stand er, umgeben von ei­nem end­losen, immergrünen Wald, dessen Bäume alle seine Söhne waren, die alle aus seinen Wurzeln sprossen. Ich sehe das durch die Ausstrahlung des Holzes, das noch immer die tröstlichen Erinnerungen an diesen Anblick bewahrt. Dieser Baum trug einst die ganze Welt in seinen Ar­men. Er war die ganze Welt, er war Ygdras, der eine, der vor uns kam und vor den Vorgängern und den drei Reichen war, vor den Go­lemen, vor den Daimonen und selbst vor den Göt­tern. Er hat den Anfang gesehen.« Adelf machte eine Pause und atmete zitternd ein. Der Kontakt schien ihn anzustrengen. Die anderen hingen ihm fasziniert an den Lippen. »Und nun – gefällt, ge­häutet, zersägt und in diese Form geschnitzt, aber noch immer voller Macht, wartet Ygdras voller Geduld auf das Ende aller Dinge, auf Mánis Rückkehr, die die Welt und ihn endlich verbrennen wird. Für ihn sind Jahr­hunderte nur ein Tropfen, der ins Meer der Ewigkeit fällt und die Gründung Karuko­ras war für ihn erst ges­tern. Er glaubt, dass er nicht mehr lange ausharren muss und endlich Ruhe im Vergessen des Todes fin­den kann.«

Adelf schluchzte plötzlich auf und Tränen liefen über seine eingefallen, schmutzigen Wangen. Selin wollte et­was sagen, aber Juel verstärkte den Griff, mit dem er den jungen Mann festhielt. Der Mönch lehnte sich in dem Sitz zurück und es sah so aus, als würde ihn die hin­ter ihm aufragende Rückenlehne, die sich über seinem kahlen Schädel in einen Raubvogel verwandelte, der gerade seine Schwingen zum Flug öffnet, verschlin­gen wollen. Nur noch Adelfs helle Augen funkelten im Schatten des Thronsitzes.

»Doch wie in der harten Schale einer Walnuss ist in dem Holz noch eine weitere Seele eingeschlossen, beinahe so mächtig wie Ygdras selbst, aber lange nicht so alt. Sie wurde dort versiegelt, als der Falkenthron errichtet wurde. Der Schreiner muss ein Künstler und ein Magier gewe­sen sein. Dieser Geist ist im Gegensatz zu dem von Ygdras heimtückisch, abgrundtief böse und er dürstet nach Rache und Blut, nach Vergeltung. Ihm wurde ein himmelschreiendes Unrecht angetan, aber ich kann nicht erkennen, welches. Er schläft und ich werde mich hüten, ihn aus seinen unruhigen Träumen zu wecken. All die Namenlosen müssen die Macht und die Stärke dieses unheimlichen, bösen Geistes gespürt und für ihre Zwecke benutzt haben, wenn sie hier saßen – auch wenn sie wahrscheinlich nicht wussten, aus welcher Quelle sie ihre Wut und bedingungslose Strenge schöpften. Dies ist das Geheimnis der Macht der Herr­scher von Karuko­ra und ich spüre, wie der schlafende Geist mich unbewusst ebenfalls zu überwälti­gen sucht. Es ist kein Märchen, dass die Stadt seit ih­rer Grün­dung durch den ersten Namenlo­sen von einem Einzi­gen, von einer einzigen Macht re­giert wird und die Thronfolger ihre Namen vergaßen, nachdem sie auf diesem Sitz Platz genommen hatten. Denn dieser Ein­zige war immer nur die Seele im Inneren des uralten Bau­mes, derer sie alle teilhaftig geworden sind.«

Adelf zögerte, als suche er nach den passenden Wor­ten. »Doch dieser Thron bewahrt seit Jahrhunderten noch ein weiteres Geheimnis, das ihm selbst und auch seinem bösen Inkubus kaum bewusst ist – denn für den Thron in seiner fast vollkommenen Zeitlosigkeit hat der Prinz Selin aus der Dy­nastie der Bingh seinen Schatz gerade eben erst in ihm versteckt … und hier ist er!«, rief der Mönch wie ein Zauberer, der ein Kunststück­chen präsentiert.

Die suchenden Hände des Mönchs hatten links und rechts an den Seiten der Armlehnen zwei identische, geschnitzte Arabesken gefunden, die wie die starren Augen von Ba­silisken aussahen. Auf deren Mitte, auf die schlitzför­mige Iris, legte er nun entschlossen seine Mittelfinger und drückte sie fest nach innen. Adelf musste sich da­bei anstrengen, denn der Mechanismus war alt und eingerostet, aber dann schnappten ge­räuschvoll zwei Riegel an der Hinterseite des Throns auf. In Rücken­höhe senkte sich dort kleine versteckte Klappe herab, hinter der sich offenbar ein Geheimfach verbarg, das der Mönch mit seinen seltsamen Sinnen erspürt hatte.

»C’est le noyau du caniche«, murmelte Juel überra­scht. Selin nutzte die Gelegenheit und wand seine Hand aus dem Griff des Meisterdiebs. Er eilte hinter den Falken­thron. Die anderen folgten ihm neugierig. Auch Adelf stand schwankend auf. Er schien sich nur schwer von seinem Sitz lösen zu können, ganz so, als wäre er mit einem zähen Teer dort festgeklebt worden, als wäre dort etwas, das ihn beim Aufstehen behinderte. Selin langte aufgeregt in das kleine Fach im Holz der schwarzen, verkohlten Rückfront und beförderte eine schmale, in ein brüchi­ges Pergament eingeschlagene Platte hervor. Er befreite die Platte eilig von ihrer schützenden Hül­le. Das uralte, von den Jahrhunderten braune und längst brüchige Papier zerfiel ihm unter der Hand in Einzelteile und segelte wie Herbstlaub zum Boden. Selin hob das rechteckige Fundstück etwas enttäuscht ins Licht. Er hatte etwas anderes – etwas viel spektakuläreres und aufregenderes – erwartet, als diesen merkwürdigen Gegenstand, dessen Bedeutung er nicht verstand. Das war für ihn nur eine recht häss­liche, grüne Scheibe, auf der messingfarbene Linien ein seltsames und chaotisches Muster bildeten. Ein Schmuckstück?

»Ist das alles?«, fragte er. »Was soll das denn sein? Das ist doch keine Landkarte!« Juel trat neben ihn und bückte sich, untersuchte die ausgeblichenen, bräunli­chen Tintenspuren auf den Pa­pierstücken, die um Selin herum am Boden lagen. Er hob eines von ihnen vor­sichtig auf, musterte es stirnrunzelnd und zerrieb es dann mit der Schulter zuckend zwischen den Fingern zu Staub. Er klatschte in die Hände.

»Den Plan hast du eben zerstört«, sagte er spöttisch und stand wieder auf. »Das ist nicht so tragisch, denn du hast et­was viel Besseres …« Juel nahm die eigenar­tige Platte ehrfürchtig aus Selins Hand und betrachte­te sie fasziniert von beiden Seiten. »Nein, das ist zwar keine Schatzkarte, aber das ist viel, viel mehr!« Er drehte die einen Handteller große Platte ein paar Mal im Lichtschein der Feuerschalen herum und reichte sie dann ehrfürchtig an Selin zurück.

»Pass gut darauf auf«, flüsterte er, »dies scheint mir ein Relikt von unschätzbarem Wert zu sein und du soll­test es niemandem zeigen. Es ist gut mög­lich, dass du damit sogar den Ewigen Krieg im Osten beenden kannst. Manch­mal genügt es, ein kleines Steinchen an einer bestimm­ten Stelle ins Wasser zu werfen und alles ändert sich. So sind schon Weltreiche gefallen – durch einem klei­nen Stein, der alles ins Rollen brachte. Ceci est parfois le cours du destin. Ich will behaupten, dass diese Plat­te, die die Vorgänger übrigens eine Platine genannt ha­ben, viel wertvoller ist als die funkelnden Brillanten im Auge des Falken, für die sich die Diebesgilde interes­siert. Wenn sie das wüss­te, könnte es sein, dass sie ihr Abkommen mit deinem Großvater ein wenig zu unse­rem Nachteil … modifiziert.« Er warf einen warnenden Blick auf Semiras Dienerin, die jedoch längst wieder das Interesse an dem Fund verloren hatte und gerade auf den Thron geklettert war, wo sie – breitbeinig auf den Arm­lehnen balancierend – mit ihrem Dolch an ei­nem der großen Brillanten in den Augen des Falken herumsto­cherte, um diesen aus seiner Fassung zu he­beln. Das Holz des Stuhls knirschte und ächzte unter ihrem Gewicht. Es klang, als wolle es sich über diese ruchlose Tat beklagen. Auch Adelf, der in der Nähe stand und mit einer Hand weiterhin die glatte, schwar­ze Oberfläche des Throns streichelte, schien nicht ein­verstanden. Er verzog das Gesicht und litt eine Qual, als fühle er den kalten Stahl am eigenen Leib, als wür­de die Diebin ihm selbst ihr Werkzeug in die Augen­höhlen bohren. Doch zog nur stumm seine Hand zurück und ließ sie ge­währen. Die beiden Edelsteine, die erst nachträglich an dem Kopf des Raubvogels angebracht worden waren, waren übrigens nicht vollkommen gleich. Der eine von ihnen funkelte leicht rosafarben, was in dieser Umge­bung kaum auffiel, der andere hingegen, der etwas grö­ßer war, hatte einen bläulichen Schimmer. Kaum jemand in Karukora wusste, woher die Steine stammten, welcher Namenlose sie erworben hatte und dann in den Falkenthron einfü­gen ließ. Zog man allerdings alte Abbildungen zu Rate, musste es bereits während der barbarischen Songh-Dy­nastie geschehen sein. Juel allerdings, der ihre Geschichte kannte, formte seine Augen zu einem schmalen, gierigen Schlitz und leckte sich kurz von der Platte abgelenkt die Lippen ab. Selin versteckte inzwischen die Vorgänger-Platine gerhorsam unter sei­nem Hemd. Sollte sein Großvater entscheiden, was mit dem Fund anzufangen war.

»Aber wie soll uns dieser alte Gegenstand helfen, die Ebenen des Ewigen Krie­ges zu durchqueren?«, fragte er Juel, zu dem er immer mehr Vertrauen fasste. Ob­wohl er wusste, dass der Di­cke ein Dieb war und wahr­scheinlich eine beachtliche Liste von Gaunereien und anderen Gesetzesübertre­tungen auf dem Kerbholz hat­te, hatte er doch das Ge­fühl, jener angebliche Kauf­mann meine es gut mit ihm. Dieser seltsame, dicke Mann verbarg wahrscheinlich einige Geheimnisse und eine interessante Geschichte, die er zu ger­ne einmal gehört hätte.

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2 Antworten auf „Die Verliese des elfenbeinernen Palastes – Flucht aus dem Elfenbein-Palast (2)“

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