Die Verliese des elfenbeinernen Palastes – Eine Nacht in der Karawanserei (11)

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Die Verliese des elfenbeinernen Palastes
»Der Weg, der in den Tag führt«
Band 2

Kapitel 1
Eine Nacht in der Karawanserei (11. Teil)

Doch Irta wusste es besser, sie hatte einen Plan. Ihr Ziel war der kleine, rückwärtige Garten, in dem die Statue des „Prächtigen“ stand, von der sie wusste, dass ihr Sockel einen Geheimgang enthielt, der in die Räumlichkeiten der Diplomaten an der Westmauer des Palastes führte. Raul hatte sie ja seit Wochen in jeder Nacht auf diesem Weg heimlich besucht und wieder verlassen. Er hatte ihr auch erzählt, wie man den Ein­gang in den unterirdischen Tunnel öffnete. Es musste ihr nur gelingen, durch das Fenster in ihrer winzigen Kammer in den Garten hinabzusteigen, dann konnte sie sich vor dem Beschnittenen in Sicherheit bringen. Radik wäre nicht so siegessicher und langsam ihren Fußspuren gefolgt, wenn ihm diese Fluchtmöglichkeit bekannt gewesen wäre.

Er schüttelte überheblich seinen kahlen Kopf über die Dummheit dieses Mädchens, das sich wie ein Mäuslein vor der Katze im nächstbesten Loch verkriechen wollte und erreichte eine Weile nach ihr pfeifend die Unter­künfte der Dienerinnen, als Irta am hinteren Ende des Flurs bereits ihre Kammertür zuschlug und diese von innen verriegelte. Meine Schwester wusste natürlich, dass das Schloss der aus halbierten Bambusrohren ge­fertigten Tür für ihren Verfolger kein größeres Hinder­nis darstellte und kaum einem festen Fußtritt stand­halten würde. Sie hatte sich also zu beeilen. Trotzdem verharrte ihr Blick viel zu lange auf dem ungemachten Lager zu ihren Füßen, das sie noch vor wenigen Stun­den mit ihrem Geliebten geteilt hatte. Eine einzelne, bereits verwelkende gelbe Rose, ein Brautgeschenk Rauls in dieser Nacht, lag neben dem Kopfkissen, in das noch immer die Kopfform des Prinzen eingedrückt war. Ach, es erschien Irta, als wäre dies alles in einem anderen Leben geschehen – so viel war inzwischen pas­siert!

Radik klatschte mit der flachen Hand dreimal von au­ßen gegen die Kammertür, die unter seinen Schlägen erzitterte. „Eins-zwei-drei. Hab ich dich!“, lachte er. „Als nächstes darf ich mich verstecken und du musst mich suchen.“

Irtas Herzschlag setzte einmal aus, aber der Schreck riss sie aus ihrer Selbstvergessenheit, durch die ihr wertvoller Vorsprung zusammengeschmolzen war. Eilig er­griff sie einen herumliegenden weiten Umhang, den sie sich überwarf, dann schwang sie sich auch schon mit den Beinen voraus seitlich auf die Fensterbank. Der Boden des Gartens lag erschreckend tief unter ihr. Was für Raul nur ein kleiner Sprung gewesen war, er­schien ihr wie ein Fall in einen Abgrund. Sie sammelte ihren Mut und schob auch den Rest ihres Körpers durch das enge Fenster. Dabei hielt sie sich mit den Händen ver­zweifelt am Rahmen fest.

Hinter ihr wurde die Tür ihrer Kammer mit grober Gewalt aus den Angel gerissen und flog zerbrechend gemeinsam mit Radik in den Raum. Der feiste Be­schnittene hatte sich mit seiner ganzen Körperfülle ge­gen die Tür geworfen. Mit einem Blick war er auf den Beinen und erfasste die Situation. Seine Hand mit dem Messer zuckte nach vorn, berührte aber Irtas Rücken kaum, denn im gleichen Augenblick stieß sie sich los und sprang hinab. Sie landete in der Blumenrabatte unter ihrem Fenster, die ihren Sturz ein wenig milder­te. Trotzdem knickte ihr linker Fuß um und sie fiel mit einem Schrei der Länge nach zu Boden, rollte in den Rasen. Radik zwängte seinen Kopf und seinen Ober­körper durch die Fensteröffnung, um ihr auf diesem Weg zu folgen, doch weiter kam er nicht, denn er war viel zu fett, um es ihr gleichzutun. Der Eunuch spuckte und geiferte zornige Verwünschungen. Dann runzelte er nachdenklich die Stirn und zog sich zurück, rannte eilig aus der Kammer. Wenn er zu Irta in den Garten hinabwollte, dann führte ihn der kürzeste Weg rund um das Gebäude und dann durch die Waschküche. Irta hatte sich durch ihren mutigen Sprung ein wenig Zeit erkauft, doch sie musste sich beeilen. Es würde nicht sehr lange dauern, dann würde der vor Wut schnau­bende Radik bei ihr sein und ihrer Flucht ein Ende ma­chen.

Sie versuchte aufzustehen, doch ein stechender Schmerz in ihrem Knöchel trieb ihr Tränen in die Au­gen und vereitelte diesen Versuch. Frustriert schimpfte sie sich selbst für ihr Ungeschick und mit einer neuen Kraftanstrengung gelang es ihr doch, aufzustehen. Die Schmerzen waren dabei kaum auszuhalten, aber es gab keine Alternative, wenn sie nicht in die Hände des Tob­süchtigen fallen wollte. Auf einem Bein hüpfend und humpelnd näherte sie sich der als kleines Labyrinth angelegten Drillingsblumen-Hecke, in deren Mitte das Haupt der Statue des „Prächtigen“ emporragte und sie mit sehr abschätzigen und arroganten Blicken zu be­trachten schien. Als Radik vom Waschhaus kommend suchend den hinteren Win­kel des Gartens erreichte, war Irta schon hinter die mannshohen Büsche getaucht und für seine Blicke un­sichtbar. Es würde aber sicher­lich nicht sehr lange dauern, bis er ihr Versteck entdecken würde, denn es gab nicht viele Möglichkei­ten, sich in dem kleinen Park zu verbergen. Doch wäh­rend der Beschnittene sich aufmerk­sam und noch ver­geblich nach ihr umsah, hatte Irta trotz ihres ver­stauchten Beins genug Zeit, bis zum Zentrum des Tro­jaspiels vorzudringen, wo das steinerne Abbild des Na­menlosen von ein paar Marmorbänken umringt auf ei­nem etwa fünf Fuß hohen, achteckigen Sockel stand, auf dessen Seiten ab­wechselnd Steintafeln mit Arabes­ken und mit Szenen aus seinem Leben zu sehen waren. Das Kunstwerk war insgesamt von minderer Qualität und nicht ohne Grund an diesem ab­seits gelegenen Ort hinter hohen Hecken versteckt.

Hier war der Ausgang des geheimen Weges verborgen, der nahe der Gemächer der Diplomaten hinter einer versteckten Tür begann. Es war einer der Nachfolger des „Prächtigen“ aus der Adin-Dynastie gewesen, der ihn vor 600 Jahren hatte errichten lassen, um dezent und auf dem kürzesten Wege seine wilde Favoritin be­suchen zu können, die jedoch nicht im Serail bei den anderen Frauen lebte, sondern sich in diesem Garten in einer hölzernen Hütte vor den Augen der Welt ver­barg; einer Hütte, die es im Gegensatz zu der Statue heute längst nicht mehr gibt. Doch auch die Geschichte von Fanime, der Zuckerwölfin ist eine Geschichte, die ich in einer anderen Nacht erzählen will. Auf jeden Fall war der unterirdische Gang nach dem Bürgerkrieg, der die Bişra an die Macht schwemmte, vollkommen ver­gessen worden, bis ihn Raul zufällig wieder entdeckt und für seine Pläne benutzt hatte. Nun schien der Gang, der bisher nur Prinzen auf ihrem Weg von und zum Stelldichein mit ihren Geliebten gesehen hatte, Ir­tas Leben retten zu können.

Und welch ein Glück, dass Raul Irta erklärt hatte, wie man den Zugang zum Tunnel durch eine Geheimtür im Sockel von außen öffnen konnte! Er hatte es in einer Nacht getan, in der sie gemeinsam in dem Garten, der nur für die Liebenden zu existieren schien, lustgewan­delt waren und sich auf einem duftenden Lager zwi­schen den Hecken unter einem blauschwarzen Himmel geliebt hatten, der nirgendwo auf der Welt tiefer hängt als in der Wüste. Es hatte für Irta den Anschein ge­habt, die Sterne würden nur eine Handbreite über den Palmen und den Zinnen des elfenbeinernen Palastes im grundlosen Ozean der Nacht schwimmen.

Zum Öffnen des Sockels musste auf jeder der vier Sei­ten, die ein sehr einfach ausgeführtes Relief verzierte, das die Heldentaten des „Prächtigen“ verherrlichte, ein bestimmtes Symbol niedergedrückt werden. Dadurch wurde der Mechanismus ausgelöst, der das raffinierte Schloss entriegelte. Leider mussten diese steinernen Symbole, die nichts anderes als verborgene Schalter waren, in einer bestimmten Reihenfolge gedrückt wer­den, damit das Öffnen klappte. Es waren die Herr­schaftszeichen und Wappenelemente des berühmten Namenlosen, also Sonne, Taube, Maske und Goldmün­ze. Irta wusste noch, dass sie die Taube zuerst nieder­drücken musste, die auf dem ersten der vier Reliefwän­de aller Welt die Geburt des neuen Namenlosen ver­kündete, aber wie sie weitermachen musste, hatte mei­ne Schwester in ihrer Aufregung vergessen. Kam da­nach schon die Maske oder doch zuerst die Münze? Ein Fehlversuch würde das Schloss komplett verriegeln, bis es jemand von innen wieder aufsperren würde. Das hatte ihr Raul erklärt und es würde ihre Flucht verei­teln. Sie wäre dem irren Radik wehrlos ausgeliefert, nachdem sie mit ihrem verstauchten Fuß nicht mehr in der Lage war, ihm davonzurennen.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, ertönte in diesem Augenblick die Stimme des Beschnittenen, die so laut und deutlich zu verstehen war – ganz als ob er er be­reits hinter ihr stünde.

„Na, mein glutäugiges Häslein, in welchem Loch hast du dich denn verkrochen? Versteck dich nur gut, dann macht dem Fuchs die Suche mehr Spaß!“ Irta sah nach allen Seiten, aber Radik hatte den inneren Ring des Hecken-Labyrinths um die Statue herum noch nicht er­reicht. Jedoch war er nah – sehr nah! Sie konnte schon seine Ausdünstungen riechen und vermeinte bei seinen Worten seine feuchte Hand auf ihrer Schulter zu spü­ren.

Kurz entschlossen drückte Irta die leicht hervorste­hende Taube in das Relief hinein, die auch mit einem leisen Klicken einrastete. Der erste der vier Sperrbol­zen war gelöst. Sie kroch auf die andere Seite und ihr Finger verharrte zögernd über der Maske, die auf die­sem Relief über der Hand des Prinzen schwebte. Doch dann fiel es ihr siedend heiß ein: Als sie noch im Haus ihres Vaters gelebt hatte, hatte sie auf Wunsch eines ihrer Hauslehrer die schier endlose und langweilige Geschichte des Namenlosen in der Historia Derer Adini und ihrer An­verwandten Geschlechter lesen müssen. Darin hatte sich ein recht grausames Gedicht befunden, das über den „Prächtigen“ berichtet hatte:

Willst du die Zahl jener nennen,
die ich unter meinen Füßen zermahlte?
Willst du die Zahl der Münzen kennen,
die in meinen Besitz gelangten?
Dann sage mir die Zahl der Tränen,
die aus den Augen der Allerbarmerin rinnen.

Willst du die Zahl jener nennen,
die mich unter meinem Thron huldigen?
Willst du die Zahl der Jahre nennen,
die ich Karukora beherrsche werde?
Dann sage mir die Zahl der Tropfen,
die das Südmeer füllen.

Der „Prächtige“ hatte als junger Kronprinz zuerst ein märchenhaftes Vermögen bei seinen Feldzügen gegen die westlichen Barbaren errungen, bevor er sich die goldene Herrschaftsmaske der Namenlosen aufgesetzt hatte! Hektisch rollte Irta sich herum, hin zu der Seite, auf der der Namenlose dargestellt war, wie er in der ei­nen Hand eine Münze und in der anderen einen Sadji-Säbel jonglierte, mit dem er eben einige Feindesköpfe von ihrem Rumpf getrennt hatte. Irta hatte die zweite und die dritte Strophe des Gedichts verwechselt, wie ihr noch rechtzeitig in den Sinn gekommen war.

Nun machte sie alles richtig: Zuerst die Münze, dann die Maske. Nachdem sie zuletzt auch noch auf das Son­nensymbol gedrückt hatte, das der Namenlose auf der letzten Bildtafel mitten auf seiner göttlichen Stirn trug, klappte ihr die Wand des letzten Reliefs entgegen und gab einen tiefen Schacht frei, an dessen Rückseite eine angelaufene, metallene Leiter angebracht war. Sie führte senkrecht hinab in eine undurchdringliche Fins­ternis und Irta konnte nicht ausmachen, wo sie endete. Auf einem kleinen Sims an der Seite stand eine Later­ne, doch meiner Schwester blieb nicht die Zeit, diese anzuzünden und mit ihrer Hilfe ihren Abstieg zu be­leuchten, denn gerade, als sie sich mit dem Oberkörper hineinbeugte, um die erste Sprosse der Leiter ergreifen zu können, damit sie sich vollständig in den Schacht hineinziehen konnte, wurde sie grob am Fuß gefasst.

„Hab dich!“, rief Radik triumphierend. Irta trat zu Tode erschrocken mit dem heilen Bein nach hinten aus – und traf den Eunuchen durch einen rettenden Zufall mitten auf der Brust. Ihr Tritt war nicht allzu fest ge­wesen, aber er genügte, den Verfolger, der sich halb zu ihr heruntergebeugt hatte, nach hinten straucheln zu lassen. Dabei lockerte sich sein Griff und Irta kam wie­der frei. Bevor sich Radik wieder sammeln konnte, hat­te sich Irta ganz in den Schacht gezogen und die kleine Tür im Sockel der Statue fiel sofort hinter ihr ins Schloss, denn ihr innerer Öffnungs- und Verschlussme­chanismus war mit der obersten Sprosse der Leiter ver­knüpft, die unter Irtas Gewicht eine Handbreite nach unten kippte.

Für einen kurzen Moment, der sich für Irta wie eine Ewigkeit anfühlte, hing sie in absoluter Finsternis mit beiden Händen an dieser unzuverlässigen Sprosse über einer – wie sie sich einbildete – bodenlosen Tiefe. Dann fanden ihre Füße endlich ebenfalls auf der Leiter Halt. Bevor sie sich an den Abstieg machte, verharrte sie eine Weile und klammerte sich an das rostige, klebrige Metall, während sie darauf wartete, dass sich ihr ja­gender Puls wieder etwas beruhigte. Sie lauschte: Er­staunlicherweise war nichts von Radik zu hören. Es war fast so, als habe er nie existiert. Diese Stille mach­te sie jedoch nervöser, als wenn sie ihn fluchen und schreien gehört hätte. Hatte er wirklich so schnell auf­gegeben oder verschloss der Deckel diesen Schacht so fest, dass nichts von seinem Zorn darüber, dass ihm sein bereits gefangen geglaubtes Opfer in letzter Se­kunde entwischt war, an ihr Ohr drang? Während Irta lauschte und doch langsam ruhiger wurde, bemerkte sie, dass die Dunkelheit ums sie herum doch nicht komplett und absolut war. Von tief unter ihr drang ein wenig Licht durch den Schacht nach oben.

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Karukora
»Der Weg, der in den Tag führt«
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380 Seiten, illustriert

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