Die Verliese des elfenbeinernen Palastes
»Der Weg, der in den Tag führt«
Band 2
Kapitel 1
Eine Nacht in der Karawanserei (7. Teil)
Dann, es waren bereits gut zwei Monate vergangen, stand eines Tages Irta wie ein Wiedergänger aus dem Grab vor unserer Hintertür. Sie war gebrochen und krank. Wer die fröhliche, unbekümmerte Schönheit von früher kannte, hätte sie kaum wiedererkannt. Es war kein Leiden, das ihren Körper befallen hatte, unter dem sie litt und dahinsiechte, sondern es war ihre Seele selbst, die Schaden genommen und eine unheilbare Wunde erlitten hatte. Sie war nur heimgekommen, um im Kreis ihrer Familie zu sterben. Wir konnten nichts tun, außer sie zu pflegen und ihr dabei verzweifelt zuzusehen, wie sie mehr und verfiel. Das einzige, was ihren Lebensfunken noch weiterglühen ließ, war das ungeborene Kind Rauls, das sie unter dem Herzen trug.
In der Nacht des Staatsstreichs des „Unterwerfers“ wusste Irta noch nichts von ihrer Schwangerschaft. Sie lebte mit ihrem Raul einen verbotenen, glückseligen Traum. Die Liebe hatte sie zwar nicht so blind gemacht, dass sie nicht auch die Gefahren sah, aber sie glaubte fest an die Macht ihres zärtlichen Bundes mit dem Prinzen und an eine gemeinsame Zukunft mit ihm. Was war das für ein süßer, wie Nimmenhonig schmeckender Wahn und wie schrecklich war das Erwachen aus ihm!
Irta schreckte mitten in der Nacht aus ihrem Lager hoch. Sie hatte im Schlaf Geräusche im Inneren des Serails gehört, eilige Schritte, zornige Stimmen und erschreckte Rufe – das Geklirr von gegeneinander-schlagenden Waffen. Sie rüttelte Raul wach, der neben ihr tief und fest schlummerte. Er war kurz nach Mitternacht auf dem üblichen geheimen Weg durch die Statue des Prächtigen und den verwunschenen Garten zu ihr gekommen und hatte in ihren Armen die Zeit vergessen. Irta sah hastig zum verschlossenen Fenster: Draußen war zwar noch immer finsterste Nacht, aber Raul hätte längst wieder in seinem Quartier sein müssen, denn der Tag kommt schnell über der Wüste. Der in den soldatischen Künsten ausgebildete Prinz war sofort wach und bei sich. Er sprang auf und lugte – nackt wie er war – durch die engmaschigen Arabeskenschnitzereien der Fensterläden. Er unterdrückte einen Fluch. Sein Fluchtweg war versperrt! Unten zwischen den Blumenrabatten des kleinen Gartens mit der Statue stand ein größerer Trupp Treuwächter und sicherte dessen Ausgänge. In ihrer Mitte hatte sich ein verschrecktes Häuflein Eunuchen und Dienerinnen versammelt, die eng beieinanderstanden und sich zitternd in den Armen hielten. Ob sie Gefangene waren oder Schutz gesucht hatten, ließ sich auf die Schnelle nicht feststellen. Ratlos wandte sich Raul an Irta, die ihm sein knöchellanges Wüstengewand zuwarf, zu dem sie ihn hatte überreden können und das er seit geraumer Zeit statt seiner nördlichen Lederkluft trug. Unter dem weiten und schwarzen Bendâh-Umhang konnte er seine Muskeln und seine helle Haut verstecken und wenn er nicht so groß gewesen wäre, hätte man ihn auf den ersten Blick mit einem der Nomaden der nördlichen Wüsten verwechseln können. Irta selbst selbst schlüpfte eilig in ihren einfachen Sarê.
„Was geht da vor?“, fragte sie und stellte sich an Rauls Seite, küsste ihn flüchtig. Der „Bär“ zuckte zur Antwort mit den mächtigen Schultern und band sich seinen Turban um den Kopf. Irta nickte entschlossen. „Du bleibst am besten hier und verbirgst dich in meiner Kammer. Ich werde nachsehen.“ Bevor der verwirrte Prinz antworten konnte, legte sie ihren Zeigefinger warnend auf seine Lippen und öffnete dann die Tür einen Spalt, durch den sie nach draußen spähte. Ferner Kampflärm drang an ihr Ohr, aber in dem Flur vor ihrer Kammer, der zu dem großen Eingangshof führte, war alles ruhig. Sie trat hinaus.
„Sei vorsichtig!“, rief ihr Raul trotz ihres Gebots, leise zu sein, besorgt hinterher. Irtas winzige Kammer war nicht die einzige, die einen Ausgang auf den Flur hatte, doch die Türen zu den anderen Mädchenzimmern waren alle verschlossen. Offenbar war keine unter ihnen so mutig oder auch nur so neugierig wie meine Schwester. Vorsichtig ging sie zum Vorplatz, von dem an drei Seiten ein paar Stufen hinauf in die Hallen und die Damenhöfe der Gattinnen führten. An der Stirnseite versperrte an normalen Tagen ein hohes, mit schweren Balken verschlossenes Eisentor den Serail. Hinter ihr führte in luftiger Höhe eine breite, geschwungene Brücke zu den Hauptgebäuden des Palastes hinüber. In einem der Flügel des Tors befand sich ein von beiden Seiten streng bewachter Durchlass, der – sah man einmal von den zahlreichen geheimen Gängen und Durchlässen ab – die einzige Verbindung zwischen den Frauengemächern und der Außenwelt darstellte. Irta hatte durch diese unscheinbare Tür in den letzten Wochen fast täglich den Harem verlassen und war nach ihren Einkäufen und heimlichen Botengängen wieder durch ihn in die verbotene Welt der Frauen zurückgekehrt. Das hohe, eiserne Tor selbst wurde nur ein-, zweimal im Jahr zu besonderen Anlässen geöffnet; doch heute Nacht stand es weit offen und seine Flügel ragten in den Vorhof hinein, in dem munter die Brunnen plätscherten und das schwarze Wasser der Becken im Lichte der Fackeln glitzerte.
Irta war unheimlich zumute. Auch hier konnte sie keine Menschenseele entdecken. Sie sah vorsichtig aus dem Tor auf die gepflasterte Brücke. In den Gebäuden jenseits brannten erstaunlich viele Lichter, aber sonst schien ihr alles ruhig zu sein – gespenstisch ruhig. Sie nahm ihren Mut zusammen, trat ein paar Schritte hinaus und spähte über die nur hüfthohe Brüstung der Brücke in die Tiefe. Von ihrem Aussichtspunkt aus sah sie viele Stockwerke unter sich auf den „Platz der Allbarmherzigen Eintracht“, das mächtige Haupttor des Elfenbein-Palastes und den Ersten Hof hinab. Aus den Gebäuden unten schlugen Flammen aus den Fensterhöhlen und ihn deren Licht erkannte sie erschrocken, dass auf den Plätzen erbittert gekämpft wurde. Sie konnte jedoch nicht erkennen, welche Parteien dort unten miteinander rangen, denn alle trugen Treuwachts- oder Heeresuniformen und waren einfach zu weit von ihr entfernt, um Einzelheiten ausmachen zu können. Von der Brücke sah es so aus, als würden zwei Armeen von blau-schwarz und grün schimmernden Wüsten-Skarabäen aufeinanderprallen. Es fiel Irta schwer, ihren Blick von dem blutigen Geschehen weg und auf die Stadt zu ihren Füßen zu richten. Sie blickte auf Karus, den Teil Karukoras, den sie von ihrem Standort aus überblicken konnte. Hier und dort waren kleinere Brandherde zu sehen und wenn sie die Augen zusammenkniff, erkannte sie Bewegung in ein paar der Gassen und Barrikaden auf den Straßen. Aber im Großen und Ganzen lag die Stadt friedlich in der tiefen Finsternis kurz vor der Dämmerung, dem toten Moment der Nacht, der den Daimonen des Schlaf gehört. Ganz offenbar wurde sie Augenzeuge einer Palastrevolution, an der sich die Bewohner der Stadt nicht beteiligen und sie fragte sich kurz, ob ihr Vater oder Raul darin verwickelt waren. Sie ging auf die andere Seite der Brücke und spähte über den Fluss nach Osten.
Weit entfernt, am Horizont über den fernen Dünen der Toten Wüste, flackerten ein paar unruhige Lichter auf, die ein Fremder, der zum ersten Mal in Karukora weilte, für einen verfrühten Sonnenaufgang halten mochte. Doch Irta wusste besser, was dort vor sich ging: Es war der Widerschein der nächtlichen Kämpfe der Golemarmeen auf den Ebenen des Krieges. Obwohl sie über hundert Meilen entfernt waren, konnte man in manchen Nächten die Lichter der Explosionen und Geschützfeuer sehen, manchmal sogar – wenn der Wind kräftig aus Osten blies – die Erschütterungen hören, als würde dort in der Ferne ein Gewitter grummeln. Die kurze Dämmerung und der echte Sonnenaufgang würden noch etwas auf sich warten lassen.
Irta hörte in ihrem Rücken ein scharrendes Geräusch und drehte sich erschrocken um, doch es war nur einer der großen Torflügel gewesen, der sich durch eine Böe ein wenig weiter geöffnet hatte und über den Boden geschabt war. Trotzdem bekam Irta nun Angst. Sie spürte einfach, dass die Ruhe hier oben in den Damengemächern trügerisch und sie nicht allein war. Sie fühlte sich noch unbehaglicher und beobachtet, obwohl sie kein Augenpaar fand, das sie aus der Finsternis anstarrte. Aber irgendjemand musste das Eisentor schließlich geöffnet haben, was jedoch nur von innen ging. Fragte sich nur, wen er oder sie hereingelassen hatte und wo diese Eindringlinge sich jetzt aufhielten. Obwohl alles in ihr danach schrie, die Gelegenheit zu nutzen und den Elfenbein-Palast auf der Stelle durch einen stillen Hinterausgang zu verlassen, machte sie doch kehrt und ging zögernd zurück in den Innenhof, wandte sich dort nach links, in Richtung des Wohntrakts von Adalante, der Hauptfrau des Namenlosen und Mutter des Thronfolgers Dagor Bişra. Niemand außer ihr hatte in der Zwischenzeit hier oben auf den Kampflärm und die Feuer reagiert. Der Hof lag ausgestorben und so still im Fackellicht wie eben. Das beunruhigte Irta noch mehr und deshalb schlich sie auf Zehenspitzen an dem großen Mittelbassin vorbei. In dem ruhigen Wasser lag ein Verschnittener, den sie erst jetzt sah. Erschrocken zuckte sie zusammen. Der nackte Rücken des Mannes, in dem eine tiefe, lange Wunde klaffte, die nur ein brutaler Säbelhieb in ihn geschnitten haben konnte, ragte halb aus dem Wasser, der restliche Körper war untergetaucht. Irta ekelte sich zwar, aber sie trat in das bis zu ihren Knien gefüllte Becken und stupste die Leiche an, die sich dadurch herumdrehte. Sie erkannte den jungen Toten, der nicht viel älter als sie selbst war. Es war einer der Bediensteten der Hauptfrau, der von allen Minikuş – Vögelchen – gerufen wurde, weil er eine hohe Singstimme hatte und den ganzen Tag die fröhlichen Lieder pfiff, die er von seiner Heimat, dem Fischerdorf Erkos an der Mahala-Oase, in den Palast mitgebracht hatte. Ein plötzlicher Schmerz krampfte Irtas Herz zusammen und Tränen stiegen ihr in die Augen. Auf den vom Wasser schon ein wenig aufgedunsenen Gesichtszügen von Minikuş lag ein abschätziger, fast hochmütiger Ausdruck, den er im Leben niemals gezeigt hatte. Wie sich jetzt zeigte, war er nicht an der Schnittwunde am Rücken gestorben. Jemand hatte ihm von einem Ohr zum anderen die Kehle durchschnitten.
Irta wischte sich mit dem Zeigefinger eine ihrer Tränen aus einem Augenwinkel und berührte dann die Stirn des Toten. Sie hätte nun eigentlich ein Totengebet an die Allerbarmerin sprechen müssen, um ihn vor den eisigen Qualen in Inets Hölle zu bewahren, aber dafür gab es im Moment keine Zeit. Sie wandte sich schaudernd ab und hoffte, ein anderer würde später diese Aufgabe für sie übernehmen. Sie verließ so eilig das Becken, als wäre es mit Egeln gefüllt und stieg über den Rand. Im Licht einer nahen Laterne sah sie, dass ihr Sarê nicht nur nass, sondern auch blutfleckig geworden war. „Irta! Irta Dabinghi!“ Sie bemerkte eine Gestalt, die aufgeregt auf sie zurannte. „Schnell! Verstecke dich!“ Irta erkannte Aismek, den Seneschall, der während des Laufens Gesten machte, als wolle er Irta wie einen lästigen Straßenköter vertreiben. Er öffnete den Mund zu einem weiteren Warnruf, aber dann verharrte er plötzlich mitten in seiner Bewegung, als habe ihn der Blick eines der grausigen Basilisken aus der Tiefe der Erde versteinert. Meine Schwester machte einen Schritt auf Aismek zu und sah verwundert in seine weit aufgerissenen, angstvollen Augen. Ein schaumiger Schwall Blut spritzte zwischen den Lippen des Seneschalls hervor, als wäre er ein Wasserspeier. Irta schrie entsetzt auf.
„Aismek!“ Der Seneschall fiel wie eine Puppe, der jemand von hinten einen Stoß versetzt hat, und klatschte mit dem Gesicht nach vorn auf die weißen Marmorfliesen des Hofs. Der Schaft eines gefiederten Pfeils zitterte zwischen seinen Schulterblättern. Im Türrahmen des Gebäudes, aus dem Aismek eben gerannt war, stand ein Soldat und fischte ruhig einen weiteren Pfeil aus dem Köcher, den er an seiner Seite trug, um ihn auf seinen Bogen zu legen. Für wen dieser Pfeil bestimmt war, musste Irta nicht raten. Aber ihr Schock über den unerwarteten Tod ihres väterlichen Freundes war so groß, dass sie wie ein in die Enge getriebenes Wild verharrte und zitterte. Der Soldat erkannte, welch ein leichtes Spiel er mit ihr hatte. Er lächelte zynisch und hob seine Waffe, spannte sie und zielte auf die Bewegungslose, die ihm vollkommen ausgeliefert war. Da ließ ein zorniger Schrei den Bogenschützen zusammenzucken und halb herumfahren. Sein Pfeil, der sich dabei löste, verfehlte Irta knapp und tauchte sirrend und harmlos hinter ihr in das Becken. Gleichzeitig warf sich eine schattenhafte, riesige Gestalt auf den Soldaten, riss ihn mit sich zu Boden, stürzte mit ihm die breiten Stufen hinunter, begrub ihn unter sich. Zwei eiserne Hände umklammerten die Kehle des Überwältigten und wirbelten seinen Kopf herum. Der Bogenschütze war nicht mehr in der Lage, sich zu wehren; es knackte einmal hässlich, als ihm Raul den Hals brach und die Leiche anschließend achtlos zur Seite stieß. Dann richtete sich der junge Prinz knurrend auf. Seine Augen funkelten im Licht der aufgehenden Sonne wie die eines blutdurstigen Raubtiers.
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»Der Weg, der in den Tag führt«
Band 1
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2 Antworten auf „Die Verliese des elfenbeinernen Palastes – Eine Nacht in der Karawanserei (7)“
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