Die Verliese des elfenbeinernen Palastes
»Der Weg, der in den Tag führt«
Band 2
Kapitel 1
Eine Nacht in der Karawanserei (6. Teil)
In den nächsten Wochen begann für Irta eine neue Zeit, in der sie nur wenig zum Schlafen kam. Tatsächlich wurde sie bereits am nächsten Morgen zum Seneschall gerufen, der ihr die neue Aufgabe zuteilte, mit zwei weiteren Dienerinnen jeden Morgen auf den großen Bazaar zu eilen, um mit ihnen gemeinsam die anspruchsvollen Einkaufslisten der Haremsdamen abzuarbeiten, deren Wünsche so vielfältig wie ihre Haut- und Haarfarben waren. Das war eine vertrauensvolle Arbeit, die vor ihr der Hare’Ağaşi Radik Emre erledigt hatte –, was ihr Verhältnis zu dem ehrgeizigen Eunuchen, der sie weiterhin misstrauisch überwachte, nicht unbedingt verbesserte. Irta wusste nicht, ob Aismek in die Verschwörung verwickelt war, bestochen wurde oder einfach dem ekelhaften Radik eins auswischen wollte und es war ihr auch egal. Sie freute sich auf jeden Morgen, an dem sie dem goldenen Käfig des Serails für ein paar Stunden entkommen konnte und unter Menschen kam; teure Kleider, edle Stoffe, Spezereien, Düfte und andere Kleinigkeiten einkaufte, ohne auf das Geld achten zu müssen. Obwohl sie diese Güter nicht für sich selbst besorgte, wurde sie von den Händlern doch wie eine große Dame behandelt und das genoss Irta, denn es gab ihr ein wenig von ihrem früheren Leben zurück. Dass sie es sich erkaufte, indem sie kleine handgeschriebene Botschaften und Briefumschläge in die Hände bestimmter Kaufleute legte und ihr im Gegenzug welche unauffällig in die Taschen geschoben wurden – sie also einen Hochverrat an ihrem Herrscher verübte -, galt ihr nicht viel. Im Gegenteil, sie genoss das Abenteuer und die nächtlichen Begegnungen zwischen ihr und Raul, deren Liebe zueinander von Tag zu Tag neue Gipfel erklomm.
Schon bald wurde Irta bewusst, dass das Netzwerk, für das sie geheime Nachrichten und Botschaften transportierte, aus mehr Personen bestand als aus Raul, Alis und ihr selbst. Kurz nachdem sie begonnen hatte, für den „Bären“ Informationen aus dem Palast zu schmuggeln, wurde sie von Najadhe, einer der neununddreißig Nebenfrauen des Namenlosen, leise angesprochen. Sie ließ der hochnäsigen und eitlen Schönheit, die an normalen Tagen kaum fünf Worte mit ihr wechselte und Irta behandelte, als wäre sie ihr persönlicher Golem, der nur darauf wartete, auf ihren Wink hin zu ihr zu eilen und sie zu bedienen, gerade ein Bad in deren privaten Gemächern ein. Da formte Najadhe plötzlich neben ihr das geheime Zeichen der Falken, das Alis seiner Tochter gezeigt hatte; am Handgelenk gekreuzte und offene Handflächen, deren Daumen sich verschränkten und dadurch den stilisierten Raubvogel andeuteten. Von der arroganten Nebenfrau erfuhr Irta nun zu ihrer Verblüffung, dass das Karukorer Haupt der „Falken der Rache“ niemand geringeres als die Hochgattin des Namenlosen selbst war, die edle Adalante von Aptera, die ihm auch den Infanten Dagor geboren hatte. Wie sich bei dieser Gelegenheit herausstellte, war auch Aismek Teil der Verschwörung, und dies war der eigentliche Grund, aus dem er Irta aus der Küchengruft in den Serail geholt hatte.
„Ich bin die Verbindung zwischen Adalante, dir und dem hübschen, nordländischen Prinzen, der dich jede Nacht in deiner Kammer aufsucht“, flüsterte ihr Najadhe zu. „Schau nicht so erstaunt, Mädchen; deine nächtlichen Tête-à-Têtes sind uns nicht verborgen geblieben. Doch habe keine Angst, dein Geheimnis ist in guten Händen. Der Hohen Frau wirst du dich allerdings weiterhin nicht nähern und keinen Kontakt zu ihr pflegen. Deine Befehle erhältst du von Aismek oder von mir.“ Obwohl die beiden allein in dem Baderaum standen, sah sich Najadhe eilig um, bevor sie Irta zwei kleingefaltete und engbeschriebene Papiere überreichte, die sie aus den Ärmeln ihres Kleides fischte. Meine Schwester ließ sie schnell in ihrem Salbenbeutel verschwinden.
„Eine der beiden Nachrichten ist für Alis bestimmt. Du wirst sie morgen Früh an deinen Mittelsmann auf dem Markt weiterreichen, die andere ist an die „Schwalbe“ gerichtet und du wirst diese in der Nacht deinem Raul geben. Hast du verstanden?“ Irta nickte stumm und nahm eine Flasche Badeöl aus ihrem Beutel, leerte ihren Inhalt in die mit lauem Wasser gefüllte Wanne, das sich sofort milchig verfärbte. Auf diese Weise war Irta nun auch noch die Spionin von Adalante geworden.
Die aufknospende Liebe zwischen ihr und Raul erblühte in der Folge zu einer herrlichen, strahlend leuchtenden Blume und wurde von Nacht zu Nacht, die sie gemeinsam verbrachten, inniger und vertrauter. Die ständig drohende Gefahr, durch die Treuwacht oder durch Radik entdeckt zu werden, feuerte dabei den Brand ihrer Leidenschaft und ihren Leichtsinn immer weiter an. Sie schworen sich ewige Liebe und Treue und es war zwischen ihnen bald eine ausgemachte Sache, dass Irta Raul nach den Verhandlungen an den Hof des Regnos in Jasir folgen und er sie dort unverzüglich zu seiner Gemahlin nehmen würde. Die Hindernisse dabei und die düster drohenden Wolken am Horizont sahen sie in ihrer Vernarrtheit ineinander nicht. So nahm das Schicksal seinen Lauf. Doch sie waren nicht die einzigen, die blind waren. Auch Alis erkannte die Gefahr nicht. Er starrte zufrieden auf die Figuren auf seinem Schachbrett und nahm die Züge seiner Gegner kaum wahr. So stolz war auf das Fortschreiten seiner Pläne und das Geschick seiner Tochter, die er weiterhin nur einmal am Ende des Monats traf. Wie sich das Verhältnis zwischen seinen Spionen entwickelte und welche intimen Bande sie knüpften, bemerkte er nicht. Ich bin mir sicher, er hätte dem sofort ein Ende gesetzt, wenn er davon erfahren hätte. Auch ich war damals vollkommen unwissend, denn meine Arbeit für den Vezir Syddhin hielt mich von meiner kleinen Schwester und von Zuhause fern. Mir ist leider nicht bekannt, was genau die „Falken der Rache“ und die Lamarguer vorhatten, denn die Nachrichten, die Irta aus dem Elfenbein-Palast schmuggelte, wurden von Alis nach Erhalt und Lesen sofort vernichtet. Ich musste mir das Meiste später aus den oft stockenden und unzusammenhängenden Erzählungen von Irta zusammenreimen. Doch auch meine Schwester war ja nicht in die eigentlichen Pläne unseres Vaters eingeweiht und kannte den Inhalt des Briefwechsels, den sie besorgte, nicht. Alis selbst schwieg sich aus und hatte sich vollkommen aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen. Er verließ für viele Jahre seine Zimmer nur noch, wenn ihn eine Notwendigkeit oder Besorgung dazu zwang.
Dafür war ich dann dabei, als das ganze Kartenhaus von Alis zusammenbrach. Der Vezir Sydhinn und seine gesamte Familie und Dienerschaft waren die ersten, die dem Putsch des Infanten Dagor an dessen 16. Geburtstag zum Opfer fielen. Dies geschah übrigens durch die Hand seines Nachfolgers Ómer Sud selbst, der mit ein paar Handlangern mitten in der Nacht gewaltsam in die Wohnung des Vezirs eindrang, die Wachen erschlug und anschließend alle meuchelte, die er dort schlafend vorfand – vom taubstummen Großvater von Sydhinns Frau bis hin zu ihren Kindern in den Krippen. Das jüngste, ein Mädchen namens Elysa, das ich abgöttisch liebte, hatte eben das Laufen gelernt.«
Sirtis musste erneut eine Pause in ihrer Erzählung machen, damit ihr Publikum die Möglichkeit hatte, das Gehörte zu verdauen. Die Karukorer sahen jeden Tag die Grausamkeiten ihrer Herrscher, die längst sprichwörtlich geworden waren, aber der Mord an unschuldigen Kindern ging dann doch weit über ihre Vorstellungskräfte hinaus. Egal, ob Sirtis in diesem Fall log oder die Wahrheit sagte, als sie Ómer dieser furchtbaren Verbrechen anklagte: Sie musste doppelt wahnsinnig geworden sein, wenn sie diese Behauptungen in aller Öffentlichkeit aussprach. Doch niemand erhob sich und widersprach ihr, denn jeder glaubte ihr sofort; egal, ob es Hüsëttin, der Wirt der Alhaşra war, oder die von fernen Orten angereisten Kaufleute und ihre Diener, ob es die Küchenmägde und Pferdeburschen, die längst ihre Arbeiten liegengelassen und ebenfalls am Feuer saßen, ob es die Kameltreiber, Krämer, Reisenden, Herumlungerer, Taschendiebe der Gilde oder Ómers Spione selbst waren –, denn auch von ihnen saßen mehrere im Publikum und trauten ihren Ohren nicht. Alle wussten um die Grausamkeit des Vezirs, wenn es darum ging, seine Macht zu erhalten und auszuweiten; dass er zu den entsetzlichsten Untaten bereit war, wenn er sich von ihnen persönliche Vorteile erhoffte. Denn er war ein Sud und diese Sippe, die sich von Turini Sud, dem Eroberer, herleitete, jenem legendären Fürsten des Blutes, der die zwei großen Königreiche des Alten Reiches und ihre Herrscher Launin und Máeriqas vernichtet hatte, ist erst zufrieden, wenn sie auf einem Berg errichtet mit den abgeschlagenen Köpfen ihrer Feinde sitzt. So wurde es zumindest in den dunklen Gassen und Hinterhöfen von Kora geraunt. Auch dass Ómer seine gierigen Finger nach der goldene Maske der Namenlosen ausstreckte, war kein Geheimnis. Doch laut wagte niemand, es auszusprechen. Wer es dennoch tat, erlebte meist das nächste Morgenrot nicht mehr. Es ging das Gerücht, der Vezir habe zu diesem Zweck die alte Mördergilde der „Kalten Hand“ wiederbelebt.
Und hier saß nun eine gutmütige, dicke, alte Frau am Feuer, bleckte ihre weißen Zähne zu einem süffisanten Lächeln und plauderte unverdrossen Staatsgeheimnis um Staatsgeheimnis aus und erzählte eine ketzerische Geschichte von Intrigen und Meuchelmord. Das war Hochverrat! Hatte sie denn bereits mit ihrem Leben abgeschlossen oder war sie tatsächlich komplett irre geworden? Sirtis wartete ab, bis die Unruhe ihres Publikums ihren Höhepunkt erreichte. Dann klatschte sie einmal entschlossen in die Hände und sorgte auf diese Weise augenblicklich für Ruhe. Alle zuckten zusammen und verstummten.
»Es war ein blutiges Geschäft, das Ómer erledigte, denn sogar seine Handlanger, hartgesottene und grausame Halsabschneider und Schläger aus dem Hafenviertel, scheuten davor zurück, Hand an die kleinen Kinder des alten Vezirs zu legen. Wie ich selbst diese Tat als einzige überlebte, die ich doch im Zimmer der Mädchen wie alle anderen schlief und weshalb es ausgerechnet das verfluchte Fass des Küchenbeys Türbin war, das mir das Leben rettete, ist eine weitere Geschichte, die ich in einer weiteren Nacht erzählen werde, falls mir die Allerbarmerin noch eine schenken will. Auf jeden Fall wurde mir kein Haar gekrümmt. Gut, ich war verängstigt, durchgefroren, stank tagelang nach saurem Bier und erwachte noch Jahre darauf schweißgebadet und schreiend aus grausamen Traumbildern, die mich sogar an manchen Tagen verfolgten. In ihnen musste ich immer und immer wieder diese hilflosen und entsetzlichen Momente wiedererleben, in denen meine unschuldige Elysa hingemetzelt wurde. Aber ich erreichte am Morgen danach unverletzt das Haus meines Vaters. Wie es in meinem Inneren aussah, will ich euch nicht beschreiben.
Alis hatte längst von dem Putsch erfahren und von den Gräueltaten, die im Elfenbein-Palast und allen Ecken der Stadt begangen wurden und sich aus Furcht, dass auch seine Rolle in den Ränkespielen der letzten Wochen bekannt geworden war, verbarrikadiert. Ich musste lange gegen die verschlossenen Fensterläden klopfen und lautstark versichern, dass nur ich es sei – seine verzweifelte Tochter Sirtis -, die Einlass begehrte, bis er mich endlich durch die versteckte Hoftür einließ.
„Wo ist Irta?“, war meine erste Frage, doch er schüttelte nur in Tränen aufgelöst den Kopf. Er wusste es ebenso wenig wie ich selbst. Die spärlichen Nachrichten, die im Laufe des Tages auf verborgenen Wegen bei uns einliefen, verhießen nichts gutes. Die unteren Stockwerke des Palastes brannten offenbar seit der Nacht und dem Regenten Bathu Pasha gehorsame Treuwächter kämpften angeblich gegen die von Dagor bestochenen Verräter. Es war eine strenge Ausgangssperre verkündet worden. Die Soldaten, die aus den Garnisonen vor der Stadt ausgerückt waren, hatten Karukora abgeriegelt, vielerorts Straßensperren errichtet, um Morde und Plünderungen zu verhindern und die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Deshalb verbargen sich die meisten wie mein Vater und ich in ihren Häusern. Gerüchte über die Geschehnisse im Palast sickerten nur langsam in die Stadt hinab. Was mit den Delegierten aus der Lamargue oder gar mit meiner Schwester geschehen war, ob das Komplott der „Falken der Rache“ aufgedeckt war, vermochte im Durcheinander dieser Tage niemand zu sagen, der sich doch hinausschlich. Alis und mir blieb nur, verzweifelte Gebete an die Allerbarmerin zu richten und heiße Tränen des Kummers zu vergießen, um sie zu erweichen.
Bereits wenige Tage später war die blutige Palastrevolution beendet. Dagor setzte sich mit dem Herrschernamen „Der Unterwerfer“ die goldene Maske der Namenlosen auf und Ómer Sud übernahm als Vezir Bey die Kontrolle über den Diwan. Der „Unterwerfer“ legitimierte seinen Staatsstreich mit der frechen Behauptung, ausgerechnet sein friedfertiger Großonkel habe mit Hilfe ausländischer Mächte und einer Verschwörergruppe einen Anschlag auf sein Leben geplant, dem er nur zuvorgekommen sei. So steht es auch in den Geschichtsbüchern und so soll es eben gewesen sein. Die Soldaten kehrten jedenfalls geordnet und mit einem Lied zu Ehren des Namenlosen auf den Lippen zurück in ihre Kasernen. Hier und da wurde noch jemand verhaftet, gefoltert und eilig hingerichtet oder verschwand einfach spurlos. Diesen oberflächlichen Säuberungsaktionen fielen fast alle Mitglieder der „Falken der Rache“ zum Opfer; nur mein Vater blieb unbehelligt. Er wurde zwar mehrmals verhört, aber nie angeklagt. Wir konnten uns nicht erklären, warum. Es schien fast, als würde eine geheimnisvolle Macht ihre Fäden im Hintergrund ziehen und ihre Hände schützend über uns halten. Achtzehn Jahre ist dies nun bald her und wir wissen noch immer nicht, wer uns damals behütete.«
Sirtis zuckte mit den Schultern und sah über das Dach der Karawanserei hinweg hinüber zu den angestrahlten Türmen des Elfenbein-Palastes auf dem anderen Flussufer. Während mancher im Publikum ohne viel Begeisterung die üblichen Lobpreisungen auf den Namenlosen flüsterte, folgten viele Augen nachdenklich ihrem Blick und die Männer und Frauen warteten auf die Fortsetzung der Geschichte der Märchenerzählerin, die sich ganz offensichtlich ihrem Schlusskapitel zuneigte. Sie alle wussten, dass ein schlimmes Ende auf sie wartete.
»In dieser schrecklichen Zeit waren wir lange Zeit im Ungewissen um das Schicksal von Irta, die in den Wirren der Palastrevolution wie vom Erdboden verschluckt worden war. Wir zogen diskrete Erkundigungen bei den wenigen Vertrauten ein, die wir noch besaßen und die Ómer noch nicht hatte hinrichten lassen, aber niemand konnte oder wollte uns etwas sagen oder wusste, was in der blutigen Mordnacht im Serail vorgegangen war. Dann tauchten überall in der Stadt Fahndungsplakate auf, die eine Daguerrotypie meiner Schwester zeigten und auf denen vom neuen Seneschall Radik Emre persönlich ein hohes Kopfgeld für ihre Ergreifung ausgelobt wurde. Irta wurde auf diesen Steckbriefen nichts geringeres als die heimtückische Ermordung von Adalante vorgeworfen, der Mutter des Namenlosen. Selbstverständlich glaubten wir dieser Anschuldigung nicht und machten uns furchtbare Sorgen. In was für eine Intrige war meine Schwester aufgrund der Pläne meines Vaters nur geraten? Die Vorwürfe, die Alis sich selbst machte, seine geliebten Töchter wegen seines törichten Rachespiels solchen Gefahren ausgesetzt zu haben, lagen wie eine Zentnerlast auf seinen Schultern und drückten seinen bis dahin aufrechten Rücken krumm. Davon erholte er sich nie mehr vollkommen. Er alterte in diesen Wochen der Ungewissheit um Jahre.«
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Karukora
»Der Weg, der in den Tag führt«
Band 1
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380 Seiten, illustriert
3 Antworten auf „Die Verliese des elfenbeinernen Palastes – Eine Nacht in der Karawanserei (6)“
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