Die Verliese des elfenbeinernen Palastes
»Der Weg, der in den Tag führt«
Band 2
Kapitel 1
Eine Nacht in der Karawanserei (4. Teil)
„Schweig, du Narr, und lass mich nachdenken. Im Augenblick ist mir danach, zu schreien und die Wachen zurückzuholen. Mit Radik ist nicht zu spaßen!“ Der Prinz aus der Lamargue senkte gehorsam den Kopf. Irta wurde erst jetzt bewusst, auf was für ein gefährliches Spiel sie sich da eingelassen hatte. Bisher hatte sie nur aus ihrem Instinkt heraus gehandelt und nicht weiter überlegt. Das Zittern ihrer Beine ließ nicht nach. Was sollte sie jetzt tun, mit einem Mann in ihrem Gemach? Doch dann musste sie wieder über das allzu reuevolle Gesicht des Prinzen lachen. Sie kicherte mit vorgehaltener Hand in sich hinein. Es stimmte schon, das alles war gefährlich und beängstigend, aber es war doch auch genau das Abenteuer, das sie sich ersehnt hatte, als sie vorhin gelangweilt zu den Sternen gebetet hatte. Raul mochte ihr Verderben sein, aber wahrscheinlich war er das wert.
Der Prinz bemerkte ihr Lachen und sah hoffnungsvoll auf. Dabei trug er solch einen Hundeblick zur Schau, dass sie ihm unmöglich länger böse sein konnte. Schließlich war bis jetzt ja alles gutgegangen …
„Warum bist du überhaupt im Garten gestanden? Wie bist du dorthin gelangt?“, fragte Irta. „Und erzähle mir bitte nicht, die Liebe zu mir hätte dich angelockt. Es ist alles andere als einfach, von den Quartieren der Diplomaten an den Wachen vorbei in den Haremsbereich einzudringen. Eigentlich sollte es unmöglich sein. Was war dein Ziel?“
„Du wirst mir ja vielleicht nicht glauben, aber ich wollte tatsächlich zu dir, Irta Dabinghi. Der Auftrag, den ich von meinem Vater, dem Regno, erhielt, war, dich aufzusuchen und dir das hier zu überreichen.“ Raul holte aus seiner festen Lederkleidung einen versiegelten Brief, den er dem überraschten Mädchen reichte. „Der ist für deinen Vater Alis. Es sind wichtige Informationen der Schwalbe von Avríl darin, die ihn unbedingt erreichen müssen.“
Irta drehte den Umschlag, den das Wachssiegel der Fürsten der Lamargue verschloss, ein paar Mal verblüfft in den Händen, bis ihr die Tragweite von Rauls Worten bewusst wurde. Dann ließ sie das Schreiben fallen, als wäre es ein glühendes Eisen. „Du meinst … verstehe ich dich recht? Mein Vater ist ein Spion der Lamargue?“«
Sirtis spürte das Erschrecken ihres Publikums, hörte sein gemeinsames Aufseufzen, sah sein Erstarren. Sie lächelte, denn genau eine solche Reaktion hatte sie erwartet und bewusst herausgefordert, als sie den alten Mann als einen Spitzel entlarvte, der vor vielen Jahren mit der Lamargue gegen den Namenlosen konspiriert hatte. Das war kaum denk-, und unmöglich aussprechbar. Noch dazu verriet sie ja ihren eigenen Vater! Ausgerechnet der brave Alis, dieser gebrechliche, alte Mann, der mit seinen Märchen und Sagen seine Zuhörer verzückte und scheinbar keiner Fliege etwas zuleide tun konnte und sich immer als treuer Untertan des Namenlosen ausgegeben hatte! Der sollte früher mit dem Feind kollaboriert haben? Machte es vielleicht noch immer? Welch ein ungeheuerlicher Skandal war das, wenn es denn stimmte! Und verriet Sirtis ihn dadurch nicht an Ómers eifrige Geheimpolizei, wenn sie in der Öffentlichkeit einer Karawanserei von seinen geheimen Tätigkeiten erzählte, auch wenn diese bald schon zwanzig Jahre in der Vergangenheit lagen? Sie musste doch wissen, dass unter den Kaufleuten und Reisenden, die in der Herberge nächtigten, auch immer ein paar Männer des Vezirs waren; seine Ohren, die alle Gespräche belauschten und genau nach solchen Gerüchten gierten, um sie an ihren grausamen Herrn weiterzugeben. Auch wenn Sirtis – eigentlich unvorstellbar – nicht die Wahrheit gesagt hatte, sondern, aus welchen Gründen auch immer, den beliebten Märchenerzähler denunzierten wollte, war Alis’ Leben nach diesen Worten keinen grünschimmligen Kupferdenir mehr wert. Es war keine Frage des Ob, sondern nur noch des Wann, bis er verhaftet und hingerichtet wurde. Sein eigenes Fleisch und Blut verriet den Alten. Warum war Sirtis so grausam? Was war das für eine Tochter, die so etwas tat? Entsetzte Ausrufe erschollen und nach der ersten Erstarrung wurden viele Fragen laut, doch Sirtis musste nur die Hand heben, um sie verstummen zu lassen.
»Die Älteren unter euch werden sich vielleicht noch erinnern. Alis, dessen ergebene und treue Tochter ich immer war und auch heute noch bin, musste vor über vierzig Jahren gemeinsam mit seiner jungen, schwangeren Frau Jade seinem älteren Bruder Selin und dessen Familie ins Exil folgen. Alis traf keine Schuld, er und seine Frau wurden das Opfer ihrer Blutbande. Als Urahn des letzten Binghi-Herrschers über das strahlende Karukora hatte Selin in privatem Kreis Ansprüche auf den Falkenthron erhoben; ein paar Sätze im Zorn und in Trunkenheit wurden leichtfertig und nebenbei vor Menschen gesprochen, denen man zu Unrecht vertraute. Diese ketzerischen Worte wurden freilich sogleich dem damaligen Vezir Mufar Kin hinterbracht und nur eine überstürzte, nächtliche Flucht konnte die Dabinghis vor der Verhaftung, der Folter und einem grausamen Tod bewahren. Sie konnten kaum mehr mit sich nehmen als die Kleider, die sie am Leib trugen. Unter großen Strapazen gelang es der Sippe, immer von den blutdürstigen Häschern des Vezirs verfolgt, die gewaltige Wüste zu durchqueren, auf schmalen und schwindelerregenden Pfaden das unwegsame Helmgebirge zu erklimmen und sich von gewieften Sintari-Schleusern durch den gewaltigen, fünfundzwanzig Meilen breiten und drei Meilen hohen Großen Wall schmuggeln zu lassen. Doch auch dies ist eine Geschichte für eine andere Nacht. – Die teure Hilfe der Sintari kostete die letzten Dabinghi den Rest des wenigen Geldes, das sie bei ihrer überstürzten Flucht mitgenommen hatten. Sie besaßen nichts anderes mehr als ihr nacktes Leben, als sie endlich die schwarzen, endlosen Wälder der Lamarque erreichten. Deshalb ist mein Geburtsort auch nicht das glänzende Karukora, sondern ein elendes Dorf mit einem kaum aussprechbaren Namen. Es war das öde Lertnitz am Fluss Mertzen, wo wir mit anderen Leidensgenossen viele Monate in einem elenden Flüchtlingslager verbrachten. Hier fehlte es an allem außer Kummer, Hunger und Krankheit; diese Plagen waren im Überfluss vorhanden.
Ich will es kurz machen. In dem sumpfigen Fiebernest Lertnitz wüteten die blauen Pocken und diese furchtbare Seuche raffte Selin und seine gesamte Familie, darunter auch seinen Erstgeborenen, der nach seinem Vater benannt war und auf den er so viele Hoffnungen gelegt hatte, in nur wenigen Tagen dahin. Sie waren mit Müh’ und Not dem einen Tod entkommen und liefen einem anderen, nicht weniger grausamen, in die Arme. Der Tod kümmert sich nicht um deine Ambitionen und Zukunftspläne, er weint, während du noch lachst. Alis, den die Krankheit ebenso wie seine Jade verschonte, blieb nichts anderes übrig, als seine Angehörigen mit eigenen Händen ohne die Segnungen der Allerbarmerin in ein Massengrab zu den anderen Opfern der Seuche zu legen, ihre mit blutigen Schwären verunstalteten Körper mit ungelöschtem Kalk zu bedecken, sie eilig zu verscharren und ein wenig Salz und Tränen über dem aufgeschütteten Erdhügel zu verstreuen. Dann floh er mit meiner Mutter, die mich in ihren Armen trug, weiter nach Norden gen Avríl. Die alte, bäuerliche Residenzstadt liegt von kühlen Winden umweht am Rande des Großen Waldes auf einem fruchtbaren Hügel und war von dem Ausbruch der blauen Pocken weitgehend verschont geblieben. Dort versuchte Alis einen Hausstand zu gründen und ein Leben in der Fremde zu führen. Doch in der Lamargue waren seine Märchen nicht gefragt; niemand interessierte sich dort für sie. Die Menschen hatten ihre eigenen Skalden, die ihnen von den blutigen Heldentaten und den gewaltigen Schlachten langhaariger, blonder Hühnen sangen; die Geschichten des kleinen, dunkelhäutigen Wüstenbewohners über Liebe, Wüste und Magie langweilten sie nur. Und das grausame Schicksal, das wie Pech an allen Verfolgten und Verzweifelten der Überlebenden Lande klebt, hatte für den armen Exilanten, der mit seiner kleinen Familie in bitterer Armut leben musste, noch einen weiteren Schlag, vielleicht den schwersten, vorbereitet. Seine von Alis vergötterte Jade wurde wieder schwanger, doch meine geschwächte Mutter überlebte die verfrühte Geburt meiner Schwester nicht. Sie gab ihr Leben für Irta und der gramgebeugte, untröstliche Alis war nun vollkommen allein mit seinen zwei kleinen Töchtern.
Dies war also von der einst so stolzen Sippe der Binghi übriggeblieben, deren Ahnherr einst das Juwel der Wüste gegründet hatte und als der erste Namenlose in die Geschichtsbücher eingegangen ist – welch ein kümmerlicher Rest: Ein gebrochener Mann und zwei Mädchen, von denen das eine ein schreiendes Wickelkind war und das andere gerade lesen lernte. Alis musste sich als Tagelöhner auf den Feldern der Gutsherren unterhalb von Avríl verdingen und sein Lohn reichte gerade so aus, dass er in der zugigen Bretterbude, die er bewohnte, nicht gemeinsam mit seinen Kindern verhungerte. Während wir also im Elend und in Kummer aufwuchsen, geschah etwas im Herzen von Alis. Er wurde ein verbitterter, ein zorniger Mann. Für sein grausames Los gab er allerdings nicht seinem leichtsinnigen Bruder die Schuld, der sich durch seinen Tod längst von ihr losgekauft hatte. Nein, er verfluchte stattdessen in jeder Nacht, die er schlaflos auf dem harten, schmutzigen Stroh seines Lagers verbrachte, den Namenlosen und die ganze Dynastie der Bişra. Sie waren für ihn nur Emporkömmlinge und Usurpatoren; kaum wert, ihm, einem echten Bingh, das Wasser zu reichen. Trotzdem suhlten sie sich in dem Reichtum und der Macht, die seiner Meinung nach allein ihm und seinen Töchtern zustand. Der Hass meines Vaters stieg mit jedem Tag, den er mit den niedrigsten Arbeiten in den Schweineställen der mitleidlosen Bauern verbrachte. Doch er war nicht allein. Es gab noch andere Unzufriedene wie ihn; Flüchtlinge und Exilanten, die das Juwel der Wüste gleich ihm hatten verlassen müssen, weil sie dort ihres Lebens nicht mehr sicher gewesen waren.
Bald schloss Alis sich einer Untergrundbewegung von Karukorer Exilanten an. Sie wurde vom Hof des Regno in Jasir aus organisiert und von Idrichson Galves finanziert, den man in der Lamargue als die „Schwalbe von Avríl“ kannte. Sie nannten sich die „Die Falken der Rache“; aber sie waren eigentlich nur ein Mittel zum Zweck, mit dem Galves die Macht der Bişras untergraben wollte. Alis trat nicht den Falken bei, weil er mit den Plänen der Gruppe sympathisierte, denn er wusste, wie aussichtslos ihre Unternehmungen waren. Er tat dies aus blanker Not wegen seiner hungernden Töchter und weil ihm jedes Mittel recht war, sich für den Untergang seiner Sippe zu rächen. Er erhielt von den Mitgliedern des Geheimbundes, bei denen er als letzter Dabinghi hoch geachtet war, finanzielle Hilfen und eine angemessene Wohnstätte. Damit konnten wir endlich die tägliche Sorge hinter uns lassen, ob wir den nächsten Tag noch erleben oder elend verhungern würden.
So wuchsen Irta und ich im kalten, regnerischen Norden auf und wir wussten nichts von der Wüste und von Karukora und den politischen Ränkespielen unseres Vaters, die einem Wollknäuel ähnelten, das in die Pfoten einer jungen Katze geraten ist. Trotz unserer bitteren Armut war es für meine Schwester und mich eine glückliche Kindheit – auch wenn wir uns oft fragten, warum unser Vater so häufig traurig war und ihm die Tränen kamen, wenn er uns in die Arme schloss. Aber er hing mit all seiner Liebe an uns und ließ keinen Abend verstreichen, ohne uns eine seiner wunderbaren, tausendundeinen Geschichten zu erzählen. Ich wuchs mit bösen Zauberern, guten Feen, mutigen Prinzen und wunderschönen Prinzessinnen, Schatzhöhlen, vierzig Räubern, Dschinns, Golemen und sprechenden Tieren auf und nahm diese Märchen für bare Münze.
Ich war zwölf Winter alt und meine Schwester acht, als sich unsere Situation von Grund auf änderte. Ein geheimer Plan nahm Gestalt an und Alis wurde in seinen Mittelpunkt gestellt. Inzwischen saß mit der „erquickenden Wüstenoase“ ein neuer Namenloser auf dem düsteren Falkenthron von Karukora und er war ein viel gütigerer und barmherzigerer Herrscher als sein Vorgänger „Hell in der Sonne funkelnder Bernstein“. Seine Inthronisation nahm „Wüstenoase“ zum Anlass, eine Generalamnesie auszusprechen und so war es auch Alis wieder erlaubt, in die Heimat zurückzukehren, ohne Verfolgung befürchten zu müssen. Wir verließen also die Lamargue, die uns, wenn schon nicht Heimat, so doch Heimstätte geworden war und gingen zurück in die ferne Stadt in der erbarmungslosen Wüste, die Irta und ich noch nie zuvor betreten hatten. Die Umstellung war für uns gewaltig und wir brauchten viele Jahre, bis wir uns in Karukora heimisch fühlten und uns an ihre Sitten gewöhnten. Es half, dass unser Vater hier hochgeehrt und berühmt war und gut von seinen Geschichten und der Ausbildung junger Märchenerzähler-Talente leben konnte. Luxus macht vieles erträglich und auch für viele Dinge blind. So bemerkten wir beide nicht, dass Alis weiterhin für die „Falken der Rache“ arbeitete und den Agenten der Lamargue Informationen zutrug. Durch die Hilfe seines Schülers Muhar reichten seine Ohren bald bis in die Hallen der Macht.
Dies ging einige Zeit – zumindest für uns Mädchen – sorgenfrei weiter und es waren vielleicht die schönsten Jahre in unserem Leben. Doch dann verunglückte „Wüstenoase“ mit seinem Pferd und lebte seitdem in einem kindlichen Dämmerzustand. Sein Onkel Bathu Pasha, der für ihn die Regentschaft übernehmen musste, war ein Mann des Friedens, aber auch ein schwacher Herrscher und solange Dagor, der Sohn des geistesschwachen Namenlosen, nicht erwachsen war und die Regierungsgeschäfte übernehmen konnte, war Karukora wie ein fauler, madiger Apfel, den schon ein leichter Windstoß vom Baum wehen kann. Die Herrschaft der Namenlosen war so gefährdet wie noch nie in ihrer dreitausendjährigen Geschichte. Ziel der „Falken“ war es, dieses unverhoffte Machtvakuum auszunutzen und einer neuen, von der Lamargue kontrollierten, Dynastie auf den Thron zu verhelfen. Obwohl er selbst keine Ambitionen in diese Richtung hatte, wollte mein Vater doch dabei helfen; ihm war sogar eine Fremdherrschaft durch die Lamargue lieber als ein Bişra auf dem Falkenthron. Wenn es nach Alis ging, dann mochte Inet seinen Höllenschlund auftun und die ganze Wüstenstadt mitsamt ihrer Bewohner und ihrer Despoten verschlucken. Er gestaltete seinen heimlichen Rachefeldzug wie eine Schachpartie. Dies war ein Spiel, das er wie kaum ein zweiter beherrschte. Zuerst brachte er seine Figuren in Stellung: Seinen Turm Muhar hatte er ja schon in die Nähe von „Wüstenoase“ gezogen und sein nächster Zug war, für seine beiden ahnungslosen Töchter eine Anstellung im Palast zu finden. Wir beiden wurden von ihm selbstverständlich nicht gefragt, ob wir auf seinem Schachbrett seine Springer und Läufer sein wollten. Er ist unser Vater, er bestimmt unser Leben. Deshalb wurde Irta eine einfache Küchenmagd und ich Kinderfrau im Haushalt des Vezirs Syddhin.
Der Beginn der spannenden Geschichte
ist überall im Buchhandel erhältlich:
Karukora
»Der Weg, der in den Tag führt«
Band 1
Als Taschenbuch oder günstiges E-Book,
380 Seiten, illustriert
3 Antworten auf „Die Verliese des elfenbeinernen Palastes – Eine Nacht in der Karawanserei (4)“
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