Die Verliese des elfenbeinernen Palastes – Eine Nacht in der Karawanserei (3)

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Die Verliese des elfenbeinernen Palastes
»Der Weg, der in den Tag führt«
Band 2

Kapitel 1
Eine Nacht in der Karawanserei (3. Teil)

„Zeige dich wieder, unbekannte Schönheit. Bitte …“, bettelte er. „Ich weiß doch, ich bin nur ein Krieger aus den schwarzen Wäldern nördlich des Walls und ich kann besser mit dem Schwert als mit Worten sprechen. Die einzigen Bücher, die ich je gelesen habe, sind Us‘Dis Die hinterlistige Kunst, einen Krieg zu gewin­nen und die Lehrbücher, die ich im Unterricht auswen­dig lernen musste. Ach, ja, ich kenne dazu noch die Fünf Bücher des Baruch. Wenn sie auch viel Poesie enthalten, dann ist es doch eine, die dir vielleicht zu fremd und ketzerisch erscheint. Aber lass es mich ver­suchen, wenn ich dich damit nicht zu sehr erschrecke.“

Irta antwortete nicht, doch sie schloss auch nicht ihre Fensterläden. Sie spitzte im Gegenteil ihre Ohren, da­mit sie nur ja nichts versäumte. Die in Karukora von der Kirche der Allerbarmerin verbo­tenen Bücher des Baruch, die der erste Erzabt Straif von Italmar in den Geisterhöhlen unter dem Fjall Tud‘AsQ gefunden hat­te, interessierten sie sehr, denn als Tochter eines Mär­chenerzählers war sie immer an neuen Geschichten in­teressiert.

Am besten dient mein Auge blinzelnd mir;
Denn unbeachtet geht der Tag an ihm vorüber:
Allein im Schlaf, im Traume sieht’s nach dir
Aus Nacht in Helligkeit, nachthell hinüber.
Du, deren Schatten nun die Schatten so erhellt,
Wie wird am Tag erst deines Schattens Wesen
Mit seinem höchsten Licht erfreun die Welt,
Wenn blinde Augen schon am Schatten so genesen!
Wie selig, sag‘ ich, wär mein Auge nun,
Hätt‘ ich am heitern Tag erst dich gewahrt,
Wenn öde Nacht den Augen, wie sie ruhn,
Dein schönes bleiches Trugbild offenbart.
Mir scheint Nacht jeder Tag, getrennt von dir,
Und Nächte hell wie Tag,
zeigst du im Traum dich mir.“

Zuerst war die Stimme Rauls unsicher und zögernd. Er geriet auch einmal ins Stocken und begann wieder von vorn. Aber dann erinnerte er sich immer besser an die Verse aus dem 1. Buch des Baruch. Er hatte sie für seinen Rhetoriklehrer als Gedächtnisübung immer und immer wieder vorsagen müssen, bis er sie schließlich auswendig konnte. Obwohl Raul viele Jahre nicht mehr an diese Lektion gedacht hatte, sah er das Gedicht nun plötzlich so deutlich vor sich, als würde er die Worte di­rekt aus dem heiligen Werk der Mönche von Italmar ablesen. Er wusste nicht, was Meister Jac Javac Mau­vaise damals bewogen hatte, die Sprachfertigkeiten ei­nen zehnjährigen Knaben ausgerechnet mit diesen Ver­sen verbessern zu wollen. Erst jetzt, während er sie nach langer Zeit zum ersten Mal wieder sprach, begriff er wirklich ihren Inhalt und er erkannte, dass sich hin­ter den bloßen, wohlklingenden Worten noch etwas an­deres, etwas sehr düsteres, verbarg.

Irsa jedenfalls lauschte der uralten Poesie aus der verlorenen Zeit der Vorgänger begeistert. Sie kannte sie nicht, weil nicht einmal in der Gildenbibliothek der Märchenerzähler im Haus der Stimmen ein Band des ketzerischen Wer­kes aufbewahrt wurde. So wurde ihr das Zuhören so bittersüß wie das Kosten einer Tollkir­sche und ließ sie mit einem Mal ahnen, dass es hinter dem Liebesgeplänkel, den heimlichen Blicken, den halb scherzenden, halb provo­zierenden Schmeicheleien, so­gar den flüchtigen Küssen und Berührungen in dunk­len Ecken in unbe­obachteten Augenblicken noch etwas anderes gab, das viel gewalti­ger und größer war. Die Liebe war eine ganze Welt und sie war größer als ihr junges Leben selbst. Und sie erkannte: Wenn die Fünf Bücher des Baruch wirklich solch wun­dervolle Poesie enthielten, dann konnte es keine voll­kommene Sünde sein, sie zu lesen.«

Sirtis machte eine Pause, befeuchtete ihre Zunge mit einem Schluck sauerer Milch und sah sich um. Sie blickte in betretene Gesichter.

»Wir, meine Lieben, leben in einer aufgeklärte­ren Zeit und uns schockiert doch die Erwähnung eines heid­nischen Buches nicht mehr, das unsere Väter und Müt­ter vielleicht einmal gefürchtet und verboten haben«, sagte sie dann. Sie hatte sich auf eine gefährliche Stra­ße begeben, als sie den heiligen Kodex der Mönche er­wähnt hatte, die in Baruchs Namen einst die halbe Welt erobert und ihr die blutige und grausame Knute ihrer religiösen Diktatur ge­bracht hatten, bis endlich die Kokardenrevolution, die von den Oststädten ausge­gangen war, die Mönche zurück in die Grenzen ihres ei­genen Staates gezwungen hatte. Doch obgleich diese finsteren Zeiten lange vorbei waren und Italmar nie­mals Karukora eingenommen hatte, erschauderte ihr Publikum. Sirtis spuckte deshalb zur Sicherheit und zum Schutz gegen das Böse dreimal in die zischende Glut, bevor sie weiterer­zählte. Ein paar ihrer Zuhörer taten es ihr ei­lig gleich.

»Nachdem er sein merkwürdiges Gedicht vorgetragen hatte, wartete Raul geduldig auf eine Antwort des Mädchens, dem es zum ersten Mal in ihrem Leben die Sprache verschlagen hatte. Die Lachlust war Irta ver­gangen und ein merkwürdiger, süßer Schmerz machte ihr das Atmen schwer.

„Kann es sein?“, fragte sie sich zwischen Bangen und Hoffen. „Kann es denn wirklich sein?“ Sie konnte sich nicht entscheiden; zu verfahren war ihre Situation. Sollte sie dem Prinzen antworten und ihm Hoffnungen machen? Oder war es doch besser, sofort ihr Fenster zu schließen und darauf zu hoffen, dass er diesen Wink verstand? Eine Zukunft konnte ihre rasch entzundene Leidenschaft, die ihr wie ein Strohfeuer erschien, nicht haben.

Die Allerbarmerin, die mit ihrem tränenvollen Blick auf alle Liebenden in den Überlebenden Landen blickt, nahm ihr die Entscheidung ab. Auch wenn ihre göttli­chen Entschlüsse auf uns Sterbliche wie Zufälle wir­ken, sind sie doch immer weise und barmherzig. Plötz­lich war der Lärm von eilenden, sich nahenden Schrit­ten aus dem entfernteren Teil des Gartens zu hören. Eine Gruppe Männer – wahrscheinlich Eunuchen, die nach dem Rechten sehen wollten -, kam mit noch nicht brennenden Fackeln in den Händen herbei und es konnte nur noch Augenblicke dauern, dann war der Prinz von ihnen entdeckt und bloßgestellt! Irta sprang auf und legte den umgestürzten Hocker wieder unter das Fenster, um hinaufzusteigen und hinauszusehen. Hoffentlich gelang es Raul, den Näherkommenden zu entwischen! Doch der junge Prinz hatte einen besseren Einfall, als sein Heil in einer unvorbereiteten Flucht zu suchen. Er wusste: Würden ihn die Wachen hier unter den Mauern des Verbotenen Harems auffinden, dann hatte er sein Leben verwirkt und das Todesurteil wür­de ohne viel Federlesens gleich an Ort und Stelle voll­zogen. Er spannte seine Muskeln an und sprang. Sein Kopf tauchte überraschend im Fensterrahmen auf und Irta prallte zurück. Dann schob sich der Prinz seitlich durch die enge Öffnung weiter in ihre Kammer hinein. Doch allzu weit kam er nicht. Das Fenster war zu eng. Draußen baumelten seine Beine im Freien und er kam nicht mehr weiter. Die Wächter waren inzwischen her­angekommen. Wenn jetzt einer von ihnen nach oben sah und begriff, was sich in der Dunkelheit abspielte, dann war Raul verloren.

„Nein, ich habe nicht geträumt“, konnte Irta eine hohe, unangenehme Stimme hören. Sie klang nach der von Radik Emre, des jungen Aufsehers über die Be­schnittenen des Se­rails; er war ein widerwärtiger Ein­schmeichler, der schon lange auf Ais­meks Vertrauens­posten beim Na­menlosen schielte. „Seht euch um, hier ist bestimmt je­mand.“

Jetzt war der Moment für einen schnellen Entschluss gekommen und Irta zögerte keinen Augenblick. Sie packte den hilflos im Fenster zappelnden Prinzen an den Schultern und zog ihn mit einer verzweifelten Kraftanstrengung zu sich hinein in ihr kleines Zim­merchen. Polternd fiel Raul der Länge nach zu ihren Füßen hin und schlug sich den Kopf hart an der Rück­wand an. Aber nun war er auch mit seinen Füßen im Zimmer, bevor ihn die Wachen entdeckten, die gerade dabei wa­ren, ihre Fackeln zu entzünden, um den Gar­ten auszu­leuchten. Irta schob rasch ihren erneut umge­kippten Hocker wieder unter das Fenster und sprang auf ihn, sah hinaus.

Efu! – Hoppla! Männer, was ist das denn für ein Krach?“, fragte sie hinunter. Sie kannte die fünf Wäch­ter, die verwirrt zu ihr heraufsahen. Es war in der Tat Radik und dazu eine kleine Nachtpatrouille der Treu­wacht, die er offenbar alarmiert hatte. „Die Frauen des Herrn schlafen längst. Ich hoffe, ihr habt keine außer mir ge­weckt“, fügte sie noch vorwurfsvoll hinzu. Sie spürte den Kör­per von Raul an ihren Beinen. Er be­wegte sich hinter ihr ungeschickt, um sich bequemer hinzusetzen. Sie räusperte sich: Hoffentlich besaß er die Geistesge­genwart, weiter am Boden zu kauern und sich zu ver­stecken! Radik kam heran und sein Blick fiel stirnrun­zelnd auf die zertrampelte Blumenrabatte un­ter dem Fenster. Irta sah ihm sein Misstrauen an, aber zum Glück war er nicht intelligent genug, um eins und eins zusammenzuzählen.

„Ist bei dir alles in Ordnung, Mädchen?“, fragte er zö­gernd.

„Aber ja. Hier ist alles ruhig, Hare’Ağaşi. Was suchst du denn zu so später Stunde mit der Nachtwache bei den Frauengemächern?“ Sie sah zu dem Weqilbaşi des Trupps, der lustlos mit seiner Pike in einem Tamaris­kengesträuch herumstocherte. Er war ihr häufig über den Weg gelaufen, als sie noch in den Küchen gearbei­tet hatte, denn er war der heimliche Freund der herri­schen Kaltmamsell Drinta. Irta ver­mutete, er liebte mehr ihre Pasteten, Terrinen und Ga­lantinen als ihre zänkische Art.

„He, Hem Büşek,“ rief sie ihn an, „du weißt schon, dass du hier gar nicht sein darfst, oder? Dieser Garten liegt im Bannkreis des Serails des Bişras und wenn ihr zufällig von einer seiner Frauen entdeckt werdet, hängt morgen eure Eingeweide zum Trocknen über der Palastmauer. Seid froh, dass es nur ich bin, die euer Lärm geweckt hat, und nicht etwa Adalante, die Haupt­frau der „Wüstenoase“. Die Allerbarmerin schen­ke ihr und den anderen hohen Frauen des Serails einen tiefen und erholsamen Schlaf.“

Der Weqilbaşi zog sofort seine Pike zurück und seine Männer wichen verunsichert zurück. Eilig löschten sie wieder ihre Fackeln, die sie gerade erst angezündet hat­ten. Doch Radik gab sich noch nicht geschlagen. Der ehrgeizige, damals schon aufgeschwemmte, aber noch gutaussehende Beschnittene stellte sich auf die Zehen­spitzen und versuch­te, an Irta vorbei in ihre Kammer zu spähen. Hatte er in dem dunklen Raum eine Bewe­gung oder einen Schatten entdeckt, der seinen Ver­dacht weckte? Auf je­den Fall war der Rand ihres Fens­ters für seine neugie­rigen Blicke zu hoch oben.

„Und du hast nichts bemerkt?“, hakte Radik nach. „Ich könnte schwören, dass ich Stimmen hörte und Ge­lächter, als ich eben die Waschküche lüftete.“ Irta streckte sich und hob die Arme, versuchte ihm auf die­se Weise zusätzlich die Sicht zu versperren.

„Aber nein, Lachen an einem Ort, den der Namenlose meidet? Wo denkst du hin? Hier rinnen nur heiße und einsame Tränen über sein schreckliches Schicksal. Das solltest du doch wissen.“ Irta zögerte, fragte sich kurz, wie weit sie gehen konnte. „Auf jeden Fall gibt es hier keinen Laut, der für die Ohren der Treuwächter be­stimmt wäre“, fuhr sie dann schärfer fort. „Wenn du nicht willst, dass ich dem Seneschall Aismek Bescheid gebe, solltest du dich nun mit diesen Männern schnell zurückziehen, Radik Emre, Oberster der Eunuchen.“ Die Nachtwachen stimmten ihr eifrig nickend zu und wollten sich schon abwenden. Doch Radik kniff die Au­gen zu einem schmalen Schlitz zusammen. So durfte eine dahergelaufene Magd nicht mit ihm reden!

„Ich warne dich, Irta“, zischte er und sein hasserfüll­ter Blick ließ meine Schwester erschaudern. „Ja, ich kenne dei­nen Namen: Du bist Irta Dabinghi und Ais­meks beson­deres Schätzchen. Du willst mich bestimmt nicht zum Feind, glaube mir. Ich denke, ich werde dich von jetzt an genau beobachten.“

„Das reicht.“ Büşek kam dem Mädchen zur Hilfe und legte eine Hand auf Radeks Schulter, die er so fest drückte, dass der Eunuch aufstöhnte. „Du hast dich ge­täuscht, Ağaşi. Hier im Garten ist nichts und du machst der Magd Angst. Sie hat recht. Wir müssen ge­hen.“

Radek trat nur zurück, weil ihn der Weqilbaşi dazu zwang und wegzog. Dabei hob er aber warnend einen Zeigefinger und zeigte wie anklagend auf Irta, dann auf sich selbst. Wir verstehen uns, schien er zu sagen, du hast mich belogen, das wissen wir beide. Irta fror plötzlich und ihre Beine zitterten, aber sie blieb auf­recht im Fenster stehen und versuchte, so hochmütig und stolz wie möglich auszusehen. Schließlich war sie eine Dabinghi – da hatte der böse Verschnittene recht –, und damit war sie ein direkter Nachkomme des ers­ten Namenlo­sen, der das Juwel der Wüste vor nahezu dreitausend Jahren gegründet hatte. Dieser Radek Emre war dage­gen nur eine Kanalratte, deren Karriere mit dem scharfen Skalpell eines Feldscher begonnen hatte, weil sich seine Familie durch diese blutige Tat aus dem Ar­menviertel erheben wollte. Irgendwann, das wusste sie, würde er einem Mächtigeren als ihr auf die Füße treten und der würde ihn wie eine Kakerlake mit einem alten Pantof­fel zerquetschen. Sein Schicksal stand Irta in diesem Moment so deutlich vor Augen, als besäße sie die Gabe des zweiten Gesichts.

Schaudernd wartete sie ab, bis sich der widerstreben­de Radik und die Treuwächter aus dem Garten entfernt hatten. Dann schloss sie die Fensterläden und ihr Fenster und stieg von dem Hocker. Raul saß mit ange­zogenen Beinen auf ihren Kissen und lächelte sie an.
„Du hast mir das Leben gerettet“, flüsterte er.

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