Die Verliese des elfenbeinernen Palastes – Eine Nacht in der Karawanserei (1)

Die Verliese des elfenbeinernen Palastes
»Der Weg, der in den Tag führt«
Band 2

Kapitel 1
Eine Nacht in der Karawanserei

»Auf diese merkwürdige Weise verdingte sich mei­ne Schwester Irta schließlich am Hof des Na­menlosen Herrschers. Sie war eine niedrige Die­nerin unter tausend anderen und doch eine ganz beson­dere, denn in ihrer Hand lag für kurze Zeit das Schicksal Karukoras«, sagte Sirtis und reckte ihre geball­te Faust zu den blinkenden, gleichgültigen Sternen hinauf, als würde sie ihnen drohen. »Und heute ist die Nacht, in der ich ihre Geschichte zum ersten Mal erzählen werde.«

Das große Feuer in der Mitte des quadratischen In­nenhofs der Alhaşra-Karawanserei direkt vor dem Ambra-Nordtor außerhalb der Stadt Karukora war beinahe erloschen. Längst flackerten und glommen die letzten Glutnester der niedergebrannten Holzscheite und der stinkenden Briketts aus gepresstem und getrocknetem Kamel-Dung nur noch in dunklem, orangefarbenen Schein, als wäre an dieser Stelle die Erde kreisrund aufgebrochen und als würde ihr Brand aus dem Inneren an die Oberflä­che emporquellen und dort einen kleinen Lavasee bil­den. Wenn der Herbergsvater Hüsëttin ab und an mit seinem langen, eisernen Haken in der Glut wühlte und rührte, um sie noch einmal anzustacheln, dann sprüh­ten nur wenige Funken in die Höhe und tanzten bis zu ihrem schnellen Verlöschen über den Häuptern der Versammelten. Doch keiner unter den Reisenden, den Kauf­leuten, ihren Dienern, den Kamelhütern und Sklaven dach­te daran, dass er am frühen Morgen beim ersten Hahnenschrei vor Sonnenauf­gang wieder aufstehen musste und es daher langsam ratsam wurde, sich zur Nachtruhe zu bege­ben. Auch die Beschäftigten des Rasthauses woll­ten noch nicht an das Ende dieses Abends glauben, der sie alle so aufgewühlt hatte. Man rutschte nur näher heran an die in sich zusammenfallenden, glühenden Holzkohlen, deren Hitze immer schneller von der Kälte der Nacht geschluckt wurde und die herumgehenden Flaschen mit wär­mendem Geist wechselten häufiger ihre Besitzer. Wie Verdurs­tende hingen alle an den Lippen der aufge­schwemmten, älteren Frau, die bei Sonnenuntergang auf dem Kutschbock eines schwerbeladenen Eselskar­rens in die Karawanserei gekommen und ganz offen­sichtlich eine eingeborene Bewohnerin des Juwels der Wüste war. Sie war freilich keine andere als Sirtis, die wohlgenährte und immer gutgelaunte Tochter des Mär­chenerzählers Alis, die an diesem Abend die ehrwürdi­ge Tradition ihrer Familie weiterführte und sich aus Gründen, die nur ihr selbst bekannt waren, dazu entschieden hatte, eine ganz besondere Geschichte vor­trug.

Sirtis hatte sich in der Alhaşra mit einem unschein­baren Mann getroffen, der kurz nach ihr vom für Frem­de offenen Stadtteil Karus her auf einem von zwei Maultieren gezogenen Kaufmannswagen in den Hof ge­fahren war und sein grün gestrichenes Gefährt direkt neben ihrem Karren abgestellt hatte. Der von Hüsëttin misstrauisch beobachtete und durchaus etwas suspekt wirkende kleine Kerl war bestimmt nicht der Besitzer des schönen und offenbar gut mit allerlei fremdländi­schen Waren gefüllten Wohnwagens, der eindeutig eine Anfertigung aus den Oststädten war. Bestimmt war er nur der Diener eines reichen und erfolgreichen Kauf­herren. Halb unter einer Kappe verborgen, zierte eine tiefrote Rosentätowierung die Männer­glatze des Mannes, welche ihn als einen freigekauften oder geflohenen Skla­ven aus den Vergessenen Ländern von jenseits der gewaltigen Wasserfläche des Süd­meers kenntlich machte. Aber der zwielichtige Mann bezahlte, ohne zu murren oder wie alle anderen Gäste zu feilschen, den Stand­platz für den Wagen und das Futter für seine Tie­re für eine Nacht mit einem üppigen Trinkgeld im Voraus und die große, prall ge­füllte Geldkatze wog in der Hand Hüsëttins schwerer als seine Bedenken.

Tonino, wie sich der schweigsame und ernste Mann nannte, hatte der dicken Sirtis nur leichthin wie einer flüchtigen Bekannten zugenickt und sich dann um sei­ne Maulesel gekümmert, die er in der angemieteten Stallbox unterbrachte, selbst mit Stroh abrieb und versorgte. Selbstverständlich waren die­se beiden auffallenden und außergewöhnlichen Gäste der Alhaşra-Herberge sofort von einem Haufen Neugie­riger und Herumlungerer umringt worden, die alle dar­auf brannten, ihr Woher und ihr Wohin in Erfahrung zu bringen; auch wenn noch niemand vermutete, dass die beiden ein gemeinsames Ziel hat­ten, das jeden vor Erstaunen schwindlig gemacht hät­te, wenn es ihm bekannt gewesen wäre. Tonino blieb je­doch so beharrlich stumm, als hätte ihm ein Al‘kadi wegen eines Vergehens die Zunge herausschneiden lassen und knurrte nur abweisend und unhöflich, wenn er angesprochen wurde. Das war sogar für den Diener eines Kaufmanns aus dem Osten ungewöhnlich, denn ein guter Händler und sein Gefol­ge verkauften ja nicht nur Waren aller Art, sondern im­mer auch Neuigkeiten, Nachrichten, Gerüchte und Ge­schichten. Und die Feuer der Karawansereien waren eine lebhafte Börse, an der diese Worte und Märchen gehandelt wurden.

Dafür war die Frau umso gesprächiger. Einige er­kannten sie als die Tochter von Alis und wussten, dass sie wie ihr Vater eine begabte Märchenerzählerin war, die ihm jedoch nur selten Konkurrenz machte. Sirtis strahlte jeden der Müßiggänger lachend und scherzend mit ihren wundervollen, weißen Zähnen an und lud bald alle auf eine gegorene Ziegenmilch ans hoch empor lodernde Hauptfeuer, das der Herbergsvater in der schnell her­aufziehenden Abenddämmerung entfacht hatte. Sie versprach, dort alle Fragen zufriedenstellend zu beant­worten, denn dies wäre einer der Gründe, die sie in die Alhaşra geführt hätten.

»Dies ist ein besonderer Tag und er verdient eine be­sondere Geschichte«, sagte sie. Und so kam es, dass die Frau und die ganze Karawanserei auch lange nach Mitternacht noch beisammensaßen. Sie hielt alle mit ihrem Märchen in Atem. Sogar Tonino hatte sich nach einer Weile zu ihnen gesellt und lauschte aufmerksam, auch wenn auf seinen düsteren Gesichtszügen keine Regungen zu sehen waren, die erkennen ließen, ob er die Geschichte von Sirtis ablehnte oder ob sie ihm gefiel.

Ja, das Talent von Sirtis Dabinghi war dem ihres Va­ters Alis wahrhaft ebenbürtig, obwohl sie niemals seinen Beruf ergriffen und ihre Märchen vor einem zahlenden Publikum erzählt hatte, weil sie sich schon als junge Frau in ihr Schicksal ergeben hatte, Alis‘ Haushalt füh­ren zu müssen und ihren verwaisten Neffen Selin groß­zuziehen. Sie hatte nicht umsonst seit ihrer frühen Ju­gend zu den Füßen ihres Vaters gesessen, wenn er auf den Plätzen ferner Städte und später dann auf dem Bazaar oder im Akadis, dem alten Haus der Stim­men, dem heute verwahrlosten Gildengebäude der Märchenerzähler, seine Sagen vortrug. Sirtis hatte dabei stets aufmerksam seinen Worten und Geschichten ge­lauscht und sie so lange in ihrem Gedächtnis aufbe­wahrt, sie wieder und wieder memoriert und ihren Spielgefährtinnen vorgetragen, bis sie Alis fast eben­bürtig geworden war. Umringt von ihren begeisterten Zuhörern log Sirtis anfangs das Blaue vom Him­mel herab und flocht manchmal sogar mit einem nach­sichtigen Lächeln die eine oder andere Wahrheit in ihre phantasievollen Geschichten ein, die aus ihrem Mund allerdings noch unglaubwürdiger klangen als ihre schamlosen Märchen. Schließlich, nachdem sie auf die­se Weise ihr Publikum eingefangen hatte und es begie­rig an ihren Lippen hing, begann sie mit einem Mal von ihrer Schwes­ter Irta und deren denkwürdigem Schicksal zu erzäh­len.

Der Tag, dessen Abend und Nacht die Menschen in der Karawanserei erlebten, war in Karukora ein denk­würdiger, ein Tag der Wunder gewesen. Der Elfenbei­nerne Palast, der sich unweit auf seiner Halbinsel, die von der großen Maratschleife umflossen wurde, trotzig und gewaltig in den Himmel streckte und den höchs­ten Punkt der Stadt bildete, war noch immer taghell von unzähligen Fackeln und Laternen erleuchtet und strahlte sein Licht weiß und rein hinaus in die Finster­nis der umgebenden Wüsten, die Karukora wie eine Oase in einem trostlosen, öden Sandmeer umschlossen. Noch aus vielen Meilen Entfernung sah man von den flachen Dünen die pompöse Wohnstätte der Namenlosen. Diese empor­gehobene Fackel der Zivilisation, die die Einwohner des Juwels dem todbringenden Staub, der Hitze und dem blanken Nichts der trockenen Wüsten abgetrotzt hatten, strahlte sogar noch heller als der gebündelte Lichtstrahl des der Karawan­serei nahen Leuchtturms auf der Flussinsel Gidabé, wo sich das Fernhandelszentrum Karukoras mit seinen La­gern, Unterkünften, Geschäf­ten und Kontoren befand. Während Sirtis erzählte, fie­len immer wieder sehnsüchtige Blick auf das riesige, blendend weiße Bauwerk des Palastes, an dem viele Generationen gearbeitet hatten, bis es seinen heutigen Umfang und Höhe erreicht hatte. Aber niemand im Hof der Alhaşra hätte im Moment seinen Platz am nieder­gebrannten Feuer mit einem Stuhl in den hohen Sälen des Palastes tauschen mögen, in denen der grausame Vezir Ómer zu Ehren der ausländischen Gäste aus der barbarischen Lamargue für die Reichen und Mächtigen ein rau­schendes Fest gab. Denn Sirtis führte sie mit der Er­zählung über das Schicksal ihrer Schwester an Orte des Palastes, die ihnen verschlossen waren und rührte sie mit der Tragödie, die sie berichtete, zu Tränen:

»War Irta in den ersten Monaten ihrer Anstellung nur eine von vielen gewesen, die niedrige Aufgaben und entwürdigende Sklavenarbeiten in den Palastküchen erledigen, die Gemüse putzen, Fleisch schneiden, En­ten und Hühner rupfen, Fische entschuppen und ausnehmen, Kartoffeln schälen, Kraut stampfen und nächtelang fettiges Ge­schirr spülen und eingebrannte Töpfe schrubben, die die klebrigen Böden kehren und wischen und immer und immer wieder Feuerholz heranschleppen, erkann­te doch eines Tages der Hofmeister des namenlosen Herrschers „Erquickende Wüstenoase“, der Serail‘Usta und Seneschall Aismek Bey, welch ein ungeschliffener Diamant dort unten in den verräucherten Gewölben der Küchen im Unrat lag und verhalten unter all dem Dreck funkelte. Ihn dauer­ten die aufgeplatzten, roten Hände der Dienerin zu­tiefst, denn er sah mit seinem Kennerblick trotz der sackarti­gen, schmutzigen Kleidung, den strohigen, ver­filzten Haaren und den verweinten Augen, durchaus ihre Schön­heit, ihre Grazie und ihr Geschick. Lange zögerte er, denn er wusste, dass ein Eingreifen seine Kompetenzen über­schritt, denn die Küchen waren nicht sein Reich. Doch dann sprach Aismek wie von Ungefähr Irta eines Tages im Hof an und erkannte das Talent des jungen Mädchens, das nicht nur eine ange­nehme Hülle besaß, sondern dazu ein liebreizendes We­sen und das voller Geist, Witz und Geschick war. Irta wür­de das Hohe Serail seines Bişra zieren wie schon lange keine Odaliske mehr vor ihr, die den Frauen des Na­menlosen in den luxuriösen Räumen seines Harems diente.

Zäh und erbittert musste der Serail‘Usta jedoch zual­lererst mit seinem alten Erzrivalen Türbin Bey verhan­deln, jenem heute noch berühmten und damals von fast allen Palastbediensteten ge­fürchteten Oberkoch, der während der Regentschaft in den Eingeweiden des Herrschersitzes ein überaus strenges Re­giment führte und dort unten zwischen den Fleischtöp­fen und Herdfeuern mächtiger als der Vezir oder gar der Namenlose selbst war. Eifersüchtig hütete Türbin sein Reich und seine Untergebenen, als wäre er der verdammte Inet selbst, der in seiner eiskalten Gehenna die Seelen der Verstorbenen mit Seilen an sich fesselt und auf ewig quält. Er war durchaus nicht gewillt, Irta ohne Kampf und freiwillig herauszugeben und auf keinen Fall sollte sie in die Hände seines persönlichen Lieblingsfeindes Aismek gelangen, der sich einst unvorsichtig und abfällig über eine Lammleber-Pastete geäußert und an ihrer Frische gezweifelt hatte. Doch der hochbe­rühmte Koch war wie alle Küchenbeys dem von der All­erbarmerin verfluchten Laster der Trunksucht verfal­len, das ihn dann nur wenige Zeit später vernichtete. Ein Fass dunkles, schäumendes Bier aus dem fernen Danmark ließ Türbin doch endlich weich werden und schließlich in den Handel mit Aismek einwilligen. Das Fass war später meine Rettung, aber Türbins Verhängnis. Aber die Geschichte vom verhexten Geschenks des Seneschalls ist eine weitere Geschichte nach dieser Geschichte und ich will sie euch in einer anderen Nacht erzählen. Irta jedenfalls, die ihr Glück kaum fassen konnte, durfte den Bauch des El­fenbeinernen Palastes verlassen und in die von den Be­schnittenen streng bewachten Frauengemächer ziehen, die sich zu dieser Zeit in den luftigsten, aber zugleich auch in den ab­gelegensten Räumen des Herrschersitzes befanden. Doch glücklich wurde Irta im verbotenen Serail anfänglich nicht.

[Zum 2. Teil …]

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»Der Weg, der in den Tag führt«
Band 1

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380 Seiten, illustriert

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