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Terror in Klein-Venedig – Leseprobe (Teil 2)

Und weiter geht’s. Dieser damals von mir akribisch recherchierte “Heimatkrimi” ist übrigens einer der humorvollsten Texte, die ich je geschrieben habe.

[<– Zum 1. Teil]

2.

Aschermittwoch, 01.03.
07.02 Uhr

Sebastian Rudler wurde von der Klin­gel an seiner Wohnungstür erst geweckt, als sie sich ein drittes Mal mit Nachdruck zu Gehör brachte.

Da heute zufällig sein freier Tag bei der Post war und er damit gerechnet hatte, bis Mittag ausschlafen zu kön­nen, hatte er den Kehraus mit Freun­den zünftig im Birnbaum und danach im Peaches begangen und bei dieser Gelegenheit ein paar Cocktails zu viel erwischt. Das rächte sich jetzt: Er erwachte mit rasenden Kopfschmerzen und seine Zunge fühlte sich wie ein alter Autorei­fen an. Nur mit Anstrengung brachte er seinen Oberkörper in die Vertikale, kämpf­te mit zugekniffenen Augen gegen das aufkommende Schwindelgefühl, dann schob er seine nackten Füße unter der Decke hervor und begann, da er in dem abgedunkelten Raum nicht genug sehen konnte, mit kreisenden Bewegungen nach seinen Hausschuhen zu suchen, die natürlich wieder einmal nicht dort waren, wo sie eigentlich hät­ten sein sollen. Der kleine unsichtbare Kobold, den bei ihm in Untermiete wohnte, hatte mal wieder ganze Arbeit geleistet. Dabei bemerkte Sebastian, dass er in Jeans und Hemd geschlafen und in der Nacht nur seine Schuhe und Strümpfe ausgezogen hatte. Sebastian hatte nicht die geringste Ahnung, wann und wie er nach Hause und in sein Bett gelangt war. Wahrscheinlich hatte ihn sein Freund Sepp, der als Autofahrer immer nüchtern blieb und in Friedberg wohn­te, heimgebracht, aber das war nur eine Mutmaßung. Der Filmriss war komplett. Er sah zurück auf sein schmales Schlafsofa. Es war leer. Die Frau, mit der er, so erinnerte er sich dunkel, leicht angetrunken im Peaches geflirtet und auch bereits ein paar Zärtlichkeiten ab­gerungen hatte, war also nicht mehr zu ihm mitgekommen. Schade, die Sache hatte sich gut angetan. Wie hatte sie noch geheißen?

Es läutete erneut und ausdauernd. Sebastian gab seine Suche auf und tappte barfuß aus dem kleinen Schlaf­raum, der ihm gleichzeitig als Wohnzimmer und Küche diente, hinaus in den Gang. Von ihm ging es außer auf die Straße noch in sein Badezimmer und über eine Treppe hinauf zur we­sentlich geräumigeren Wohnung seinen Eltern, die im ersten Stock des Einfamilienreihenhauses in der Kar­wendelstraße 137 1/2 wohnten. Ohne daran zu denken, dass es An­fang März und draußen wahrscheinlich eiskalt war, öffnete Sebastian die Haustür. Blitzschnell wischte eine der vielen Katzen aus der Nachbarschaft zwischen seinen Beinen hindurch ins Haus. Er gab dem roten Tiger ab und an Futter. Es war ein klarer, schöner, um diese Uhrzeit noch frostiger Tag und er war widerwärtig hell. Sebastian hob die Hand schützend vor die schmerzenden Augen. Er erkannte vor sich einen älteren, dicken Mann im Lodenanzug, den er noch nie gesehen hatte. Sein Gegenüber musterte ihn ebenfalls neugierig. Die Froschaugen glitten hinunter zu Seba­stians Füßen. Dabei hob er überrascht die Augenbrauen. Sebastian verkrampfte unter diesem Blick die Zehen im weichen Teppichs.

»Entschuldigen Sie bitte die frühe Störung, Herr, äh …«, ein kurzer Blick auf den Briefkasten, » … Rudler; ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt«, sagte er und sein Dialekt wies ihn als einen Mitbürger aus den neuen Bundesländern aus. Sebastian konnte es nicht genau eingrenzen, aber er tippte auf den Bereich Leipzig. Dieser Dialekt verbreitete sich in den letzten Jahren in Augsburg epidemisch. Er hatte den Eindruck, dass ihn inzwischen jede zweite Verkäuferin sprach. Er versuchte zu antworten, doch es gelang ihm nur ein Hofhundknurren. Der Mann trat erschrocken zurück. Sebastian räusperte sich, dann unternahm er ei­nen zweiten Anlauf:

»Ich will keinen Wachturm. Und ich habe letzten Monat schon Blut gespen­det.« Ganz langsam begann sein Gehirn die Arbeit wiederaufzunehmen. Das tat weh. Kaffee!, schrie es und Sebastian wollte die Tür schließen.

»Bitte, ich habe nur eine Frage! Es ist sehr wichtig. Sie sind der Erste, der mir öffnet.« Der Mann hob beschwörend die Hand.

»Ich bin auch schon Abonnent vom Reader’s Digest … «

»Nein, nein, bitte. Ich will nur wissen, wo das Grab von Roy Black ist«, ant­wortete der Dicke. Sebastian öffnete den Mund und ver­gaß, ihn zu schließen. Dann fasste er sich an den Kopf. Warum schwätzten die Verrückten immer ihn an? Jetzt klingelten sie sogar schon an seiner Tür.

»Sie wollen mich verarschen, oder?« Der Sachse ging einen Schritt auf Sebastian zu und versuchte ein freundli­ches, einnehmendes Lächeln. Ob er gefährlich ist?, überlegte Seba­stian und nun war er es, der zurückwich.

»Bitte. Ich weiß nur, dass Roy Black in Augsburg begraben wurde und jetzt klappere ich alle Friedhöfe ab.« Er deutete hinter sich. Dort gab eine Lücke zwischen den niedrigen Mietshäusern auf der anderen Seite der Karwendel­straße ein Stück Zaun frei, hinter dem die Grabreihen des Neuen Ostfriedhofs zu sehen waren. »Das ist heute Morgen schon der vierte Fried­hof, auf dem ich suche … Wen ich auch frage, niemand scheint eine Ah­nung zu haben, wo Herr Black begraben liegt. Die meisten Leute haben mir auf meine Fragen nicht einmal eine Antwort gegeben. Ihr Augsburger seid schon ein sehr schweigsames Volk. Ich finde es erschüt­ternd, wie wenig man sich hier um solch einen bedeutenden Sohn der Stadt kümmert.« Verschwörerisch mit den Augen zwinkernd beugte er sich vor. »Es ist auch nicht wegen mir.« Er zeigte auf einen Polo, der ein paar Schritte entfernt parkte. »Im Wagen wartet meine Frau und sie möchte so gern zu seinem Grab. Sie hat extra weiße Rosen gekauft und die lassen schon ihre Köpfe hängen. Bitte, wir sind nur deshalb nach Bayern gefahren.«

Sebastian zog die Stirn in Falten und sah einem Bus der Linie 31 hinterher, der rechterhand aus der Kurve kam und die Straße hinunterfuhr. »Ach, wissen Sie, da ist Roy Black wirklich nicht der einzige berühmte Augsburger, dem es hier an der richti­gen Anerkennung mangelt«, antwortete er nachdenklich. »Der Prophet im eigenen Land, sie wissen ja. Ich glaube fast, dass es eine Charaktereigenschaft von uns Augs­bürgern ist, alles schlecht zu machen, was das Mittelmaß hierzulande über­schreitet. Auf der anderen Seite gibt es ernsthafte Bestrebungen, nach Herrn Black eine Straße zu be­nennen; ich gebe allerdings der Hoff­nung Ausdruck, dass ich dort nie werde wohnen müssen.«

Der Dicke nickte aufgeregt. »Eine Straße, ja, das ist sehr schön. Das hat er verdient. Aber Sie wissen nicht zufällig, wo sein Grab ist?«
Sebastian kratzte sich an der Nase. »Ich war noch nicht dort, aber ich glaube, er ist in Straßberg begraben. Dort wird man Ihnen sicher sagen kön­nen, wie sie die letzte Ruhestätte die­ses großen Sängers … «

» … und Schauspielers!«, warf der Dicke mit erhobenem Zeigefinger ein.

Sebastian nickte ergeben. »… und Schauspielers finden kön­nen«, fuhr er fort. »Es pilgern ja inzwi­schen schon mehr Leute zu diesem Grabmal als zu dem von Jimi Morrison.« Dem Sachsen stand deutlich ins Ge­sicht geschrieben, dass er nicht wusste, von wem Sebastian sprach, aber er wollte trotzdem höflich sein.

»Ist dieser Herr Morrison auch in Augsburg beerdigt? Und wie bitte, in Gottes Namen, komme ich von hier nach Strassburg?«

»Straßberg. Das ist eine kleine Ort­schaft südwestlich von Augsburg; ge­hört zu Bobingen.«

Ob es an der Begriffsstutzigkeit sei­nes Gegenübers oder an der Unfähigkeit von Sebastian lag, eine Linie in seine Gedanken zu bringen, auf jeden Fall dauerte es eine ganze Weile, bis der Dicke sich mit der umständlichen Wegbeschreibung zufrieden gab und sich mit überschwänglicher Dankbar­keit verabschiedete.

Als Sebastian endlich die Wohnungs­tür wieder schloss, konnte er seine halberfrore­nen Füße kaum bewegen. Er stolperte über die Katze, die ihm maunzend um die Beine strich, tappte ins Bad, um sich zu wa­schen und musste zweimal hinsehen, bis er hinter der grauen Fratze, die der Spiegel wiedergab, etwas von sich selbst zu erkennen glaubte. Er wunder­te sich, dass der Sachse nicht davongelaufen war, als Zombie-Sebastian die Tür geöffnet hatte. Sebastian Rudler Selbstbild war eigentlich das eines gut aussehenden, dun­kelhaarigen und jugendlichen Mannes, der im nächsten Monat dreißig wurde, nicht zu hager, aber auch nicht zu dick war, weder zu groß, noch zu klein, mit viel Verstand und Schalk in den grünen, blitzenden Augen. Nun sah er sich über den Spiegel jedoch einen aufgeschwemmten Sechzigjährigen mit hän­genden Lidern und blutunterlaufenen Au­gen gegenüber, ein hässliches Mopsgesicht unter strohigen Haaren, von denen sich ein im­mer größer werdender Prozentsatz einen Wettkampf zwischen ausfal­len und ergrauen lieferte. Sein älterer Bruder Thomas hatte Sebastian erst kürzlich prophezeit, dass es ab dreißig steil bergab ging. Hier hatte er nun den Beweis dieser These und er wand mit einer Gänse­haut den Blick ab. Er fiel auf eine Uhr, die über dem billigen Allibert-Spiegelschrank hing.

»7.15 Uhr«, las er, verdaute die Information und erst jetzt wurde er über den Roy-Black-Fan wütend. Herrgott! Es war kein Wunder, dass er sich wie ein Untoter fühlte – er hatte höchstens vier Stunden geschlafen! Hatte dieser dicke Mann nicht im oben bei Sebastians Eltern klingeln können? Jetzt war allerdings nicht mehr an ei­ne Rückkehr auf sein Schlafsofa zu denken, denn wenn Sebastian einmal aufgestanden war, konnte er nicht mehr einschlafen. Er zuckte gähnend mit den Achseln. Seit er den Übergangsjob als Aushilfszusteller bei der Bundespost hatte und jeden Morgen gegen halb fünf Uhr aufstand, war er an einen chronischen Schlaf­mangel gewöhnt. Er folgte seiner ersten Intension von vorhin, verließ das Bad und tappte zurück in sei­ne abgedunkelte Wohnküche, stolperte dabei erneut über die Katze, die ihm das aber nicht weiter krumm nahm.

Wenn es darum ging, morgens wach zu werden, vertraute er der Wirkung der herkömmlichen Gifte wie Kaffee, Aspirin und Schokolade. Dem synthetischen Red-Bull-Zeug, so modern es auch war, oder gar Guarana, brachte er ein kräftiges Misstrauen entgegen. Außerdem schmeckte es scheußlich nach aufgelösten Gummibärchen und war teuer. Da blieb er lieber bei seinem starken Aldi-Bellaroma-Gebräu. Als er die Kaffeemaschine einschaltete, setzte sich dadurch auch gleichzei­tig sein Radio in Betrieb. Jemand sang von einem Synthesizer-Streichorchester begleitet:

» … It‘s so hard to get old without a cause,
I dont want to perish like a fading horse …
Forever young, I want to be forever young …«

Nun, das war Sebastian heute aus dem Herzen gesprochen und er summte den Ohrwurm mit. Er füllte ein wenig Trockenfutter in eine Schüssel, das von der Katze mit gebührender Begeiste­rung angenommen wurde.

»… das ist starke Musik hier bei Radio RT1; Alphaville: Forever young. 7 Uhr 19 gleich und wenn Ihre Rollläden noch heruntergelassen sind, dann gebe ich Ihnen mal einen Tipp: Schnellstens nach oben kurbeln. Sonne pur! Sonne aus allen Knopflöchern.« Volker Brosch, der Radiosprecher, hatte wie immer wi­derlich gute Laune. Eilig suchte Sebastian einen anderen Sender. Zu dieser Uhrzeit konnte er den Frohsinn der Privaten nicht ertragen. Er fand Bayern 4 und die harmonischen Klänge eines Concertinos von Donizetti beruhigten ihn. Sebastian öffnete die Vorhänge. Die Katze sprang schnurrend in seine Arm und ließ sich von ihm streicheln. Er sah eine Weile versonnen auf die kreative Unordnung seines Schreibtisches, der vor dem Fenster in der Son­ne stand. Hier ruhten mit einer Staub­schicht überzogen friedlich sein PC und die mit handschriftlichen Anmerkungen und Ergänzungen übersäten Manuskriptseiten des Romanfragmentes, an dem er seit Jahren schrieb, oh­ne nennenswert weiterzukommen. In­zwischen hatte er nicht einmal mehr ein schlechtes Gewissen, wenn er an sein wohl ewig unvollendetes Meister­werk mit dem Titel Das Eishaus dach­te. Er seufzte, während der den roten Tiger am Hals kraulte.

Dann sah auf eine Pinnwand an der Wand daneben, auf die er gewöhnt war, kleine Zettel mit seinen Terminen zu heften. Zwei der kleinen gelben Papiere trugen das heutige Datum: Mittags wollte er sich mit seinem Freund Georg »Schorre« Hauser im Sommacal treffen; der erfolglose und zugegebenermaßen mittelmäßige Ma­ler hatte mal wieder ein Projekt ausge­kundschaftet, bei dem sich seiner Meinung nach viel Geld verdienen ließ und er wollte Sebastian für diese Idee ein­nehmen. Es ging um irgendeine Bro­schüre, die Rudler für ihn schreiben und gestalten sollte. Der zweite Termin, abends um acht Uhr, war Sebastian wesentlich angenehmer: Es war ihm nach Wochen ver­geblicher Mühe gelungen, eine abwei­sende, kühle, aber außergewöhnlich attraktive Frau zu einem abendlichen Kinobesuch mit anschließendem gemeinsamen Abendessen zu überre­den. Sie hieß Anna und war bisher nur ei­ne flüchtige Bekanntschaft, die Freun­din der Freundin eines Freundes, aber Sebastian war nach Kräften bemüht, diesen Zustand zu ändern. Er wollte mit ihr ins Ki­no, ins City, um sich den neuen Startrek-Film »Treffen der Generatio­nen« anzusehen. Nicht, dass er sich für James Tiberius Kirk, Jean-Luc Picard und all die ande­ren edlen Menschen und Hominiden von der Sternenflotte interessierte – er konnte kaum einen Klingonen von einem Romulaner unterscheiden – aber er interessierte sich brennend für Anna. Für eine Verabredung mit ihr hätte er sich sogar den »König der Löwen« angesehen, obwohl er Disney-Filme hasste.

[Zum 3. Teil …]

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