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Terror in Klein-Venedig – Leseprobe (Teil 1)

Wie gestern angekündigt, veröffentliche ich auf meinem Blog in der nächsten Zeit in homöopathischen Häppchen den Anfang meines ersten Heimatkrimi-Versuchs, den ich 1995 für das Augsburg-Projekt mit Claus Scheele schrieb. Er wird hier zum allererstenmal abgedruckt. Viel Vergnügen.

 

1.

Aschermittwoch, 01.03.95
03.24 Uhr

Oliver Heyse rannte um sein Leben und er begann, müde zu werden.

Er und seine Verfolger waren zwar längst zu einen kräftesparenden Dau­erlauf übergegangen, aber die letzten dreihundert Meter von der Berliner Al­lee zur Einmündung der Brückenstraße in den Unteren Graben waren Heyse zur verzehrenden Qual geworden. Obwohl er nur ein dünnes Hemd trug, weil er seine Jacke bei seiner über­stürzten Flucht aus Romans Wohnung zurückgelassen hatte, spürte er die empfindliche Kälte der Nacht nicht mehr. Das Hemd klebte an sei­nem verschwitzten Körper. Jetzt rächte es sich, dass der unter­setzte Vierzigjährige in den letzten Jahren kaum mehr Sport getrieben und einen Wohlstandsbauch angesetzt hatte. Ohne zurückzusehen, hetzte er nach Atem schnappend quer über die leere Kreuzung. Dann kam er auf der anderen Seite am Randstein ins Stolpern und stürzte mit den Knien voran auf den harten Asphalt des Bürgersteigs. Obwohl er sich dabei am linken Bein die Jeans und ein großes Stück Haut aufriss, bemerkte er die Wunde nicht. Sie war gegen sein Seitenstechen völ­lig belanglos; dieser Schmerz hatte sich an seinem Oberkörper festgebissen und es fühlte sich im Moment so an, als würde sich mit jedem Atemzug eine gebrochene Rippe tiefer in einen Lungenflügel bohren.

Heyse sah gequält auf und ihn verließ der Mut, denn vor ihm lag der sanfte, aber lange Anstieg des Stephinger Ber­ges, der sich auch noch ein gutes Stück im Pfärrle fortsetzte. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er in seinem momentanen, vollkommen erschöpften Zustand dort hochkommen, geschweige denn, wie er es bis zur Georgenstraße schaffen wollte, wo die sichere Wohnung eines Freundes sein Ziel war. Verdammt, er wusste ja nicht einmal, ob er überhaupt noch die Kraft hatte, wieder auf die Beine zu kommen! Der Gedanke, einfach liegen zu blei­ben und hier sein Schicksal zu erwar­ten, hatte etwas ungemein Verlockendes, Anziehendes. Er schloss resignierend die Augen.

Ein paar Autos kamen eilig aus der scharfen Kurve der Müllerstraße gebogen und fuhren eilig geradeaus über die Kreuzung in Richtung Jakober Vorstadt. Falls einer der vom Kehraus heimkehrenden Fahrer die kurz von ihren Scheinwerfern erfasste, rechts neben der Ampel kauernde Gestalt bemerkte, fand er es nicht für nötig, anzuhalten und nach dem Rechten zu sehen. Der Straßenlärm riss Heyse aus seiner Lethargie, verzweifelt sah er den roten Rücklichtern der Wagen hinterher. Gleichzeitig hörte er jemanden seinen Namen rufen.

Die Verfolger!

Zu viert rannten sie auf die Kreuzung zu, waren nur mehr etwa dreißig Meter entfernt auf der Höhe der Villa des Jugendzentrums. Es waren drei Männer und ei­ne Frau. Sie passierten gerade eine Litfaßsäule, auf der ein paar gut gelaunte Menschen Werbung für Radio Kö machten. An der Spitze der Verfolger, fünf Schritte vor den anderen, lief Roman nun über die Stadtbach-Brücke. Er war der charismatische Führer der ASO, der Augsburger Seperatistenorganisation, der gefährlichsten Terrorgruppierung in Schwaben. Die entschlossene Miene des großen, dunklen und muskulösen Mannes war im Licht der Straßenbeleuchtung gut zu erkennen. Es war ihm keine Erschöpfung durch die lange Verfolgungsjagd anzumerken. Seine Bewegungen wa­ren geschmeidig und mühelos und er kann schnell näher. Seinen unter größter Anstrengung er­sprinteten Vorsprung hatte Heyse durch den Sturz jedenfalls verspielt. Er sprang voller Panik auf und für ei­ne Sekunde drehte sich alles um ihn. Jetzt erst wurde er sich seines bluten­den Knies bewusst, doch er versuchte den plötzlich aufkochenden, pochenden Schmerz ebenso wie sein Sei­tenstechen zu ignorieren. Das Schwindelgefühl verging so schnell, wie es gekommen war und während er sich keuchend wieder in Bewegung setzte und zu rennen be­gann, sah er sich hilfesuchend um.

Die gelbe Telefonzelle auf der ande­ren Straßenseite kam in seinen Blick. Für einen Anruf blieb keine Zeit. Und da, in der anderen Richtung hinter den Bäumen, lag der Fi­scherwirt (wie hieß das Lokal jetzt gleich seit letztem Sommer?). Alles war dort dunkel, man hatte um diese Uhrzeit längst geschlossen. Also lief der Gejagte doch weiter geradeaus, den Stephinger Berg hoch. Gleichzeitig kam Heyse eine Idee. Er war hier in der Gegend aufgewachsen und hatte als Kind endlose Streifzüge durch das nahe Lueginsland unternom­men. Wenn er diese verfallene Bastion aus dem Dreißigjährigen Krieg errei­chen konnte, bevor ihn seine Verfolger einholten, hatte er eine Chance. In dem unüberschaubaren Gelände der alten, verwinkelten Anlage kannte er jeden Strauch und Mauervorsprung, wusste er von versteckten Nischen und kannte sogar einen Zugang zu den Gängen unter dem Bollwerk, falls dieser inzwischen nicht vermauert worden war. Dort musste es ihm einfach gelingen, sich in der Dunkelheit zu verbergen und seinen Häschern zu entkommen.

Mit neuem Mut rannte Heyse über die Brücke des Stadtgrabens und wollte dann nach rechts hinein in die Herwartstraße, an deren rechter Seite eine hüfthohe Ziegelsteinmauer verlief, die diese Straße von dem ein gutes Stück tiefer liegenden Wehrgraben abtrennte. Gleichzeitig sah er zurück. Die anderen waren inzwischen an der Kreuzung unten und wurden von einem Lastwagen aufgehalten, der hupend auf seiner Vorfahrt bestand. Ein Lächeln huschte über sein von der Anstrengung verzerrtes Gesicht. In diesem Moment prallte er frontal gegen ein Stahlgitter, das den Fußweg in seiner ganzen Breite ver­stellte. Fast wäre er erneut gestürzt. Er fluchte und hielt sich die schmerzende Seite.

»Seit wann ist hier eine Absperrung?«, murmelte er entgeistert und wechselte die Straßenseite In den orientalisierenden Gollwitzer-Häusern dort brannte in keinem Fenster ein Licht. Wahrscheinlich sollte durch die Absperrung, die für den Rest des Bürgersteigs nur noch durch ein durchhängendes Baustellenband zwischen den weit auseinanderstehenden dünnen Alleebäumchen symbolisiert wurde, verhindert werden sollte, dass sich ein bra­ver Bürger beim Sonntagsspaziergang gegen das schon arg bröckelnde Mauerwerk lehnte, um den unten in den alten Schießscharten des Grabens nistenden Tauben auf den Kopf zu spucken und dann mit der Brüstung zehn Meter tief ins seichte Wasser hinunter stürzte. Wie dem auch war, dieses unvermutete Hindernis hatte ihn erneut etwas von seinem wertvollen Vorsprung ge­kostet. Heyse traute sich nun nicht mehr, sich umzusehen, er glaubte bereits den Atem seiner Verfolger in seinem Nacken zu spüren. Er mobilisierte seine letzten Reserven und versuchte, noch schneller zu werden. Er ließ die letzten Häuser hinter sich, querte die Mülichstraße und vor ihm ging links bereits ein Fußweg zum Lueginsland empor. Er entschloss sich aber, noch weiter zum zweiten Aufgang weiter hinten zu laufen, dort würde er zwar eine Treppe hochrennen müssen, aber oben bei Oblingers neu­em Biergartenareal war dichtes Buschwerk und vor allem kein Licht. Dort würde er sich bestimmt vor den Verfolgern verstecken kön­nen, glaubte er. Diese Entscheidung war sein letzter Fehler.

»Oliver! Halt an!«, hörte er eine keu­chende, sich überschlagende Frauenstimme hinter sich. Das war Julia. Obwohl sie ihm nur noch Hass und Abscheu entgegenbrachte, ihm vorhin sogar ins Gesicht gespien hatte, was ihn mehr als die Schläge der anderen geschmerzt hatte, liebte er sie noch im­mer. Für einen kurzen, sentimentalen Augenblick glaubte er den süßen, schweren Duft ihrer Haut zu atmen und spürte das trockene Knistern, wenn er ihr zärtlich mit der Hand durch das mahagonirote, gelockte Haar fuhr. Fast hätte er der Versuchung nachgegeben und wäre stehengeblieben. Doch dann rief jemand:

»Du hast keine Chance, Olli«, und die Angst trieb Heyse weiter. Diese zweite Stimme war hart, kalt, nahezu metal­lisch und sie klang kein bisschen außer Atem. Heyse kannte diese Stimme ge­nau, sie jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Es war Roman und er klang, als wäre er nur noch wenige Schritte hinter Heyse. Entsetzt schrie er auf und rannte nun, so schnell er noch dazu fähig war, die massive, hohe Ziegelmauer der alten Festung entlang. Von Roman hatte er kein Mitleid zu er­warten; er ging für seine Ziele über Lei­chen. Da vorn war endlich der Aufgang, den er gesucht hatte! Es war nur ein kleines Seitentor. Noch fünf Meter zu laufen, noch zwei!

Die gusseiserne Gittertür war zu. Hey­se nahm den Türgriff und drückte ihn ungeduldig herunter. Er wollte nicht glauben, was ihm geschah: Er hatte verspielt. Dieser Eingang ins Lueginsland war fest verschlossen. Fassungslos ergriff Heyse mit beiden Händen die dünnen Stäbe derund rüttelte verzweifelt an ihnen.

»Welcher Idiot sperrt hier zu?«, brüllte er und warf sich mit dem Oberkörper gegen das Metallgitter der Tür. Sie hielt mühelos stand. Ich muss sofort weiter, schoss ihm durch den Kopf, vielleicht schaffe ich es vor zur MAN. Das sind keine hun­dert Meter mehr und vielleicht halten noch ein paar streikende Metaller Nachtwa­che vor der Pforte.

Gerade als er wieder zu laufen beginnen wollte, legte sich eine schwere Hand auf seine Schulter und zwang ihn, stehen zu bleiben.

»Es ist vorbei, Olli.« Heyse sah zu­rück in die hypnotischen, dunklen Au­gen von Roman und alles Blut wich mit einem Schlag aus seinem Gesicht. Der Mann, der Heyse um einen guten Kopf überragte, nickte langsam. Er sah nicht einmal wütend aus, sondern nur ein wenig ent­täuscht.

Irrte Heyse sich, oder lag ein fast nicht merkbarer, spöttischer Zug in den harten, wie gemeißelten Mundwin­keln des Anführers der ASO?

»Roman … «, flüsterte er, nach Luft und Fassung japsend. Ihm wurde schlecht. »Du weißt doch, wir sind Freunde. Ich würde nie unsere Sache … « Der letzte Satz endete in einem hilflo­sen, hustenden Schluchzen. Inzwischen kamen die anderen Verfolger heran. Er kannte sie alle; alle hatten sie behauptet, seine Freunde zu sein: Der kleine, wieselflin­ke Werner, Erwin, ein Baum von einem Mann, und dort, hinter ihm, seine zärtliche Julia …

Jetzt lächelte Roman, es war ein dünnes, bösartiges Lächeln, ein klaffender, scharfer Spalt, wie von einer Rasierklinge gezogen. Dieses Lächeln schien ihn anzustrengen und es strafte seiner sanften Stimme Lügen:

»Ach, Olli, warum habe ich nur das Gefühl, ich hätte das alles schon ein­mal erlebt? Ich fühle mich wie in einem schlechten Kriminalfilm. So beginnt jeder Film-noir-Klassiker: Der Verräter wird enttarnt, er flieht und wird doch erwischt«, erwiderte er. Er war tatsächlich nicht außer Atem. Roman hob die andere Hand und packte Heyses zweite Schulter. »Und du weißt sicher, was dann passiert?«

»Verzeih mir, bitte!«, stieß Heyse her­vor, während ihn der große Mann gegen seine breite Brust zog und umarmte. Er presste ihn fest an sich. Der Geruch von Romans scharfem Aftershave vermischte sich mit der Dampfwolke ihrer Atemzüge. Der Anführer der ASO hatte einen starken Bartwuchs, den er zweimal täglich durch eine Nassrasur bekämpfte. So nah, wie sich die beiden nun waren, konnte Heyse an dessen Ohrläppchen die eingetrockneten Reste von Rasierschaum erkennen. Er hörte Romans Herzschlag; er war im Gegensatz zu seinem eigenen kaum beschleunigt. Ihm traten Trä­nen in die Augen. »Verzeih!«, wiederholte er stockend.

»Richtig, das ist dein Text. Du hast aufgepasst. Und ich muss dann wohl antworten: Ich bin enttäuscht von dir, Olli. Es tut mir weh, mein alter Freund, aber wir können so etwas einfach nicht durchgehen lassen. Wir müssen als Lehre für andere ein Exempel statuieren. Es hängt gerade zu­viel von eurer Treue und eurer Verschwiegenheit ab.« Er machte ei­ne Pause. »Das verstehst du sicher, Olli, oder?«

Heyse begriff nicht sofort, aber dann wurden ihm die Beine weich und er wä­re in die Knie gesackt, wenn ihn Roman nicht in seinem festen Griff gehalten hätte. Der große Mann sah aus, als hielte er eine Puppe in den Armen. Be­dächtig drehte er sich mit Heyse wie in einem langsamen Tanz herum. Wäre zufällig jemand vorbeigekom­men, hätte er an eine zärtliche Umarmung der zwei Männer glauben können, was in dieser Gegend kein allzu seltener Anblick war. Doch die Straße war menschenleer, auch auf der na­hen Thommstraße fuhren keine Autos. Heyse sah aus den Augenwinkeln, dass einer der anderen Verfolger hinter ihn trat, wahrscheinlich war es Julia. Blitzte da Stahl in ihren Händen?

Nicht Julia, nein, es konnte nicht Julia sein! Konnte ihr denn die gemeinsam verbrachte Zeit nichts mehr bedeuten? Bestürzt versuchte er zu ihr zu sehen, doch Roman drängte seinen Kopf noch fester gegen seine breite Brust. »Nicht …«, flüsterte er.

»Für die Befreiung von Augsburg und seine Renaissance«, sagte Roman dann laut und drei Stimmen wiederholten seine Losung. Aus Gewohnheit öffnete Heyse den Mund, um es ihnen gleichzutun, dann entschied er sich, besser um Hilfe zu schreien. Doch es gelang ihm nicht mehr. Die Klinge eines schmalen, langen Messers trieb einen glühenden Schmerz tief in seinen Rücken und von hinten direkt in sein Herz. Julia presste sich solange mit ihrem ganzen Körpergewicht gegen die Waffe, bis diese bis zum Heft eingedrun­gen war. Nur ein hilfloses, gurgelndes Ächzen kam von Heyses Lippen. Er erschlaffte und das Letzte, was er mit starrem, verblüfftem Blick wahrnahm, war das Gesicht seines Gegenübers, das noch immer spöttisch lächelte.

»Fahr zur Hölle, Verräter!«, sagte Roman verächtlich. Er ließ die Leiche nicht los.

»Das war leichter als ich dachte. Ich wusste nicht, dass man so schnell sterben kann«, sagte Julia nüchtern und öffnete erst jetzt den Griff um den Knauf des Messers. Sie zuckte mit den Achseln, als sie eilig zurück neben den betreten zu Boden blickenden Er­win trat, um nicht vom Blut besudelt zu werden.

»Ich hasse diese billigen Groschenheftklischees, aber er hatte diesen Renegatentod verdient. Sein Körper darf jedoch nie wieder auf­tauchen. Hat jemand irgendeinen brauchbaren Vorschlag?«, fragte Roman in die Runde. Das Schweigen der eisigen Märznacht senkte sich wie ein Vorhang über der Szene.

[Zum 2. Teil …]

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