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Leseprobe: Nutzlose Menschen – Roman (3)

Fortsetzung Leseprobe Nutzlose Menschen – Kapitel 4.3

Monsieur Arçon wollte selbstverständlich so bald als mög­lich zu bauen beginnen; er erhielt auch schnell durch freundliche Zuwendungen an die zuständigen Beamten die erforderlichen Genehmigungen der Ämter, musste dann allerdings entsetzt feststellen, dass die Errichtung eines repräsentativen Hauses in Paris nach seinen Vor­stellungen seine finanziellen Mittel deutlich überstieg. Lange suchte er nach einem Architekten, doch die be­kannten wie Grindot oder Vale-Noir schienen ihm nicht nur nicht bezahlbar, sondern ihre Entwürfe auch zu ge­wagt. Die Schätzungen der Pariser Baufirmen über die Kosten hätten Monsieur Arçon zudem fast dazu gebracht, von seinen Plänen Abstand zu nehmen, wenn ihm nicht seine Frau die Lösung seiner Probleme in einer Person präsentiert hätte, mit der er mehrmals in der Woche in den Soireen seiner Gattin zusammentraf, ohne sich je­mals weiters Gedanken über sie gemacht zu haben. Es war René Carol, Architekt und Bauherr in einer Person, der Monsieur Hippolyte anbot, sein Pariser Palais für ein­hundertfünfzigtausend Franc zu bauen und dem Fabri­kanten nach kurzer Zeit einen Grundriss präsentierte, der in seiner großzügigen Schlichtheit gefiel. Zwar lag der Kostenvoranschlag noch immer weit über Arçons Vorstel­lungen, wurde aber akzeptiert, weil kein günstigeres An­gebot gemacht werden würde.

Weshalb hatte Carol das Kartell der Bauunternehmer un­terlaufen und Arçon angeboten, sein Haus so billig zu bauen, dass er selbst kaum mit einem Gewinn rechnen konnte? Madame Helga glaubte den Grund in der Ver­liebtheit des jungen Mannes in ihre Tochter zu entdecken, dabei übersah sie vollkommen, dass der trockene und scharfsinnige Carol zu solch romantischem Gefühl nicht fähig war. Die einzige Liebe seines Lebens war die zu sich selbst und zu Macht und Reichtum, zu Dingen also, die ihm bislang im gewünschten Umfang verwehrt geblieben, auf die er aber ein Anrecht verspürte und zu denen er mit Hilfe der Arçons gelangen wollte. Monsieur René hatte seine erste Jugend im Waisenhaus von St. Jacques zu­bringen müssen, nachdem seine Eltern, die ihm keinerlei Vermögen hinterließen, und auch sämtliche Geschwister dem Fleckfieber zum Opfer gefallen waren. Nur der unge­zügelten Lebensenergie des vierjährigen Kindes war es möglich, dass es als Einziges von seiner Familie dieser heimtückischen Seuche widerstand, nach dreimonatigem Krankenlager genas und – da es offensichtlich keine le­benden Verwandten mehr gab – der öffentlichen Fürsorge überstellt wurde. Es erholte sich aber nie mehr vollstän­dig von den Strapazen und Erschütterungen und erwuchs zu einem stets kränklichen, bleichen und schwindsüchtig wirkenden Mann, den zusätzlich durch die schwere Krankheit seiner Kindheit einige hässliche Narben ent­stellten. Aufrecht erhielt ihn offenbar nur seine spartani­sche, in strenge Regeln gefasste Lebensführung, der er seinen schwächlichen, halb verblichenen Körper unter­warf und der eiserne Lebenswille seiner Seele, die auch dem überzeugtesten Materialisten neuerer philosophi­scher Couleur zu denken gegeben hätte. Bis zu seinem zwölften Lebensjahr war er ein Kind ohne Zukunft, nur durch die zweifelhafte Barmherzigkeit des Orphelinats existierend, unter dessen Knute er ein schweres Leben zu führen gezwungen war. An keinem Ort tritt das Naturge­setz deutlicher und unverhohlener zutage, gibt es weniger Mitleiden mit der geschundenen Kreatur, als vor den kar­gen Suppentöpfen eines Waisenhauses, in dem Kinder schon in früher Jugend zu härtester Arbeit gezwungen werden und der Tod ein häufiger Gast ist. Körperlich nicht nur den Altersgenossen, sondern auch den meisten der Jüngeren unterlegen, deshalb beständig zurückge­setzt und genarrt, tägliches Opfer schwerer Prügel durch Leidensgenossen und Erzieher, musste Carols scharfer Verstand entarten, ihn hinterhältig und tückisch machen. Sicher wäre aus ihm, wäre sein Leben im Bodensatz der Gesellschaft in dieser Weise fortgeschritten, ein Fouché des Verbrechens geworden. Aber kurz vor seinem Eintritt ins Jünglingsalter kam es zu einer plötzlichen, glückhaf­ten Wende.

Der Bruder seines Vaters war Oberst in des Kaisers Rei­terarmee gewesen und hatte wie viele glühende Verehrer Bonapartes nach der Katastrophe von Waterloo ent­täuscht der ihm fremd gewordenen Heimat den Rücken zugekehrt und war in die Neue Welt gezogen, wo er bald als verschollen galt. Tatsächlich war er aber durch Han­delsgeschäfte in der rauen Wildnis zu einem bescheidenen Vermögen gekommen, das ihm einen ruhigen Lebens­abend versprach. Die Zeit hatte seine Wunden heilen las­sen und er kam aus dem Staate Marengo nach Frankreich zurück, um die Familie wiederzusehen. Es war eine wahr­haft traurige Heimkehr. Den Obersten Carol erwarteten nur ungepflegte Gräber auf dem Gottesacker von Beau­vais und ein nie gesehener, völlig verwahrloster Neffe, der dem Onkel bei der ersten Begegnung in die Hand biss und ihm bei dieser Gelegenheit den Siegelring vom Finger stahl. Dennoch nahm er seinen einzigen lebenden Anver­wandten unverzüglich aus dem Orpelinat in seinen Jung­gesellenhaushalt, den er in Beauvais gründete. Seine Haushälterin und er kümmerten sich mit rührender Sorg­falt um den Jungen, den sie nach vielen Rückschlägen halbwegs zähmten und auf die Jesuitenschule in Amiens schickten. René wuchs dort zu einem blassen, unscheinba­ren Jüngling heran, der offenbar die Wolfsnatur seiner Kindheit vergessen hatte und im Gegenteil den Eindruck eines Menschen machte, von dem man sagt, es flösse ihm statt Blut kaltes Öl durch die Adern. Keine Leidenschaft schien ihn aufzuwühlen, nur wenigen, meist seltsamen Dingen wie Alchemie oder Mesmerismus vermochte er über kurz Interesse entgegenzubringen. Obgleich er der Beste seines Jahrgangs war und einem trockenen Schwamm gleich allen unterrichteten Stoff in nachgerade unheimlicher Geschwindigkeit in sich sog, war sein Lern­eifer ausschließlich auf das von den Erziehern geforderte Maß beschränkt. Nie beteiligte er sich an den Spielen oder Unterhaltungen seiner Altersgenossen; er sonderte sich ab und verbrachte lange Stunden seiner freien Tage sit­zend und sinnierend auf einer Fensterbank. Wohin ihn seine Gedanken führten, offenbarte René niemandem, nicht einmal seinem Onkel, der ihn von allen Menschen am nächsten stand und zu dem er im Verlaufe der Jahre ein gewisses Vertrauen gefunden hatte. Den Lehrern der Klosterschule war der junge Mann eingedenk der Tatsa­che, wie tief ein solch stilles Wasser gründen muss, nicht recht geheuer und mancher von ihnen dachte bei sich, er würde wohl eines Tages entweder als berühmter Staats­mann oder auf der Guillotine enden. Und in diese Rich­tung gingen die Tagträume des kühlen jungen Mannes tatsächlich. Er erhoffte sich eine Karriere, die ihn ohne Acht der Mittel zur Macht bringen würde. Das Frankreich des Bürgerkönigs, dessen Motto »Bereichert Euch!« auch das seine hätte sein können, schien ihm ideal dafür geeig­net, einen gewissenlosen Mann wie ihn nach oben zu brin­gen. Ein Vorbild war ihm dabei Henri de Marsay, dessen Karriere René bis zu dessen frühen Tod im Jahre 1834 aufmerksam verfolgte und bewunderte.

Doch bevor der junge Machiavell mündig wurde und be­ginnen konnte, seine Phantasmen zu verwirklichen, traf ihn von Neuem die willkürliche Hand der Moira. Der Oberst Carol verstarb plötzlich und unerwartet an den Folgen eines heftigen Gichtanfalls. Er hatte zwar noch rechtzeitig seinem Neffen sein bescheidenes Vermögen  hinterlassen, ihn testamentarisch jedoch unter die Vor­mundschaft des Bauherrn Andoche Varese gestellt, mit dem er während des Kaiserreiches im *.ten Regiment ge­dient und dessen Bekanntschaft er nach seiner Rückkehr aus der Neuen Welt erneuert hatte. Dabei war dem Obersten im Schwelgen in gemeinsamen Erinnerungen der wahre Charakter seines Kriegskameraden entgangen. Dieser lebte nur für seinen Vorteil und war ein solcher Geizhals, warum er nie geheiratet hatte und selbst in der mit Geizigen so reichlich gesegneten Picardie seinesglei­chen suchte. Varese erklärte sich nach kurzem Zögern be­reit, die testamentarische Bürde zu tragen und den Nef­fen des Obersten als Mündel anzunehmen, da er sich durch die Verwaltung von dessen Vermögen einigen Nut­zen erhoffte. Kaum lag Oberst Carol bei seinem Bruder im Familiengrab, ließ der Bauherr René ohne Abschluss aus der seiner Meinung nach unnötigen und viel zu teuren Schule nehmen und beschäftigte ihn als Laufburschen in seinem Büro, wo er ihm auch eine karge Bettstatt auf­schlagen ließ. Dabei war Varese nicht einmal ungewöhn­lich bösartig, denn er legte Renés Vermögen gewissenhaft an und wollte es ihm am Tage seiner Mündigkeit auch nicht verwehren, obgleich er plante, die Zinsen einzube­halten. Der Jüngling nahm diese neuerliche Wendung sei­nes Schicksals mit der ataraxischen Gelassenheit eines Pyrrhon, allerdings nicht ohne Hintergedanken. Geduldig wartete er auf seine Gelegenheit.

Wie der Philosoph von Elis hielt er sich mit seinem Urteil zurück, doch was er in dem Vareseschen Kontor erlebte, konnte kein günstiges Licht auf den alten Bauherrn wer­fen, der mit scharfem Auge und strenger Hand jede – wie er vermeinte – unnötige Ausgabe unterband: Selbst in ei­nem strengen Winter wurde nur geheizt, wenn die Tinte der Schreiber in den Gläsern gefror, er zwang sie, Filzpan­toffeln zu tragen, um die Abnutzung des Holzbodens zu vermeiden, Stifte wurden mittels eines von Varese selbst entworfenen, wiederverwendbaren Aufsatzes bis zum letz­ten Strich des Schiefers verbraucht und der talgige Schein der billigen Kerzen trug durch den entstehenden Qualm mehr zur Verdunkelung als der Erhellung der Schreibstu­be bei. Außer in dem Kontor von Varese konnte man höchstens noch unter den Chiffonniers von Paris eine sol­che Ansammlung von verwahrlosten und verwegenen Ge­stalten sehen, von denen mancher nicht einmal für einen Hungerlohn, sondern, da alle dem Brotherrn Geld schul­deten, Negersklaven gleich, gegen eine karge Verkösti­gung, die Varese mittags aus einer nahen Garküche kom­men ließ, arbeiteten. Dennoch waren alle Schreiber gerne für Varese tätig und das lag an einem Charakterzug, den er mit vielen Geizigen teilte: Obwohl er einem Gobsek oder Grandet gleich die Zahl der Sou in seiner Tasche kannte, von denen nur selten einer den Weg in seine Hand fand, war er doch in allen Angelegenheiten seiner Finanzen, die das Alltägliche übertrafen, außergewöhn­lich naiv. Es war dem gewieften Bodensatz, den er be­schäftigte, ein leichtes, den Bauherrn, der zwar misstrau­isch, aber strohdumm war, zu betrügen. Der tägliche Griff in die Cassa und das Beiseitebringen und unter der Hand verkaufen von Material durch die Arbeiter funktionierten nicht zuletzt deshalb so gut, weil der Buchhalter und Pro­kurist, ein untersetzter, dabei jovialer Bösewicht, der auf den passenden Namen Escroq hörte, ein wahrer Meister der Bilanzfälschung war. Dass Varese nicht bankrott machte, lag zum einen an seiner Monopolstellung als Bau­herr im Weichbild von Beauvais und an eben jenem schleimigen Escroq, der allzu unverschämte Betrügereien nicht duldete, da er seinen guten Posten behalten wollte, bis ihm seine ergaunerten Renten für einen bequemen Le­bensabend in seinem eigenen Landgut genügten.

Obwohl Paul Escroq die Mitte seines Lebens längst über­schritten hatte, kleidete er sich einem zweiten Lovelace gleich dandyhaft, roch nach Veilchen und trug den ganzen Tag peinlich saubergehaltene, senfgelbe Handschuhe. Aus dem gärenden Bodensatz des Volkes stammend – sein Va­ter war ein armer Lohnbauer und seine Mutter die Kräuterfrau in einem winzigen Dorf in der Gegend von Aurillac in der Auvergne gewesen – war er im Gegensatz zu seinem Brotherrn blitzgescheit und zielstrebig. Obwohl sein erbärmlicher Charakter von Bosheit zerfressen war und er, durch die Profession seiner Mutter in allen Arten von schnellen und langsamen Giften bewandert, vor kei­ner Schandtat zurückschreckte, spielte er aller Welt den gutmütigen, ein wenig beschränkten Bürger vor und be­reicherte sich dabei mit der Geduld einer Spinne. Mit die­ser biederen Maske hatte er sich bei Varese eingeschli­chen und im Sinne, ihn nach dessen Ableben, das er bei Gelegenheit zu beschleunigen trachtete, zu beerben. René Carol erachtete er bei diesem Streben nicht als Konkur­renten, denn er hatte mit dem scharfen Blick, mit dem ein Verbrecher unfehlbar seinesgleichen erkennt, festgestellt, dass sie einander wie Hammer und Amboß ergänzten. Er bemerkte als einziger in dessen Ruhe die verwandte See­le, das gespannte Verharren eines Raubtieres, das gedul­dig sein Opfer fixiert. Escroq, der nie geheiratet hatte, da er das ganze weibliche Geschlecht verachtete und den Umgang mit Frauen insgesamt für eine schlechte Ange­wohnheit hielt, entstammte dem Sodom einer Tagelöhner­hütte, in der die widerwärtigsten Sünden gegen die Natur zum täglichen Leben gehörten und es nimmt nicht weiter Wunder, dass er sich zudem heftig in den knabenhaften, zarten und bleichen René versah. Er hatte aber diese Lei­denschaft völlig in der Hand, da er für seine niederen Ge­lüste jugendliche, ihm völlig ergebene Diener hatte, Söhne von verarmten Bauern, denen er sie abkaufte und die er alle drei Jahre gegen neues Blut ersetzte. Bei René dachte er an das sprichwörtliche Wasser, das mit der Zeit den Stein höhlt. Was er nicht ahnen konnte, war, dass ihn René ebenfalls durchschaute und er, der er im Waisen­haus und nicht zuletzt in der Klosterschule schon allen Verwirrungen der Liebe begegnet war, gedachte, Escroqs heimliches Liebeswerben für seine Zwecke zu nutzen. Ob­wohl ihm der hässliche geschminkte Mann mit den fetten Lippen, aus deren Winkeln immer ein dünner Speichelfa­den rann und der seinen schwammigen Leib in ein Kor­sett zwängte, mit jeder Faser seines Seins zuwider war, umgarnte er ihn wie eine hungrige Katze, wenn er auch bedacht war, keine Eindeutigkeit in seine Schmeicheleien zu legen. Er wollte den alten Lüstling bei Laune halten, der ihm als einziger in Vareses Kontor gefährlich werden konnte, wenn er ihn zu seinem Feind machte.

[Zum 4. Teil der Leseprobe]

Mein neues Buch “Nutzlose Menschen” ist erscheinen.

Heute und in den nächsten Tagen gibt es noch einmal eine Leseprobe; diesmal aus dem vierten Kapitel dieses zentralen Romans aus meinem “Jahrmarkt in der Stadt”-Zylus. Das Kapitel, ein Romananfang im Stil von Honoré Balzac geschrieben, kann auch gut ohne Kenntnis des gesamten Buches gelesen werden.

Nutzlose Menschen
Roman
226 Seiten, 7,99 €
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