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Bei den Großeltern (Ein Roman-Fragment) – Teil 1

Ein weiterer Ausschnitt aus meinem demnächst erscheinenden Buch “Noch einmal daran gedacht”.

Bei den Großeltern

1. Das Haus

Meine Sommerferien 1977 verbrachte ich als Ju­gendlicher im Haus meiner Großeltern mütterlicher­seits in Berlin-Tegel. Außer zu den festen Essenszei­ten war ich sechs lange Som­merwochen allein gelas­sen und fand in dem weitläufigen Gebäude mit an­grenzendem Garten, das mein Großvater selbst in den 20er Jahren erbaut hatte*, genug Gelegenheit, den Großeltern und ihren penibel durch die Uhrzeit festge­legten Aufenthaltsorten aus dem Wege zu ge­hen.

Überall gab es etwas zu entdecken. Außer dem wohl­gehüteten Schlafzimmer des alten Ehepaars war kein Raum vor meiner pathologi­schen Neugierde sicher. Jeder Raum hatte einen eige­nen, spezifischen Ge­ruch, den ich noch heute erkennen würde, wenn man mich mit verbundenen Augen in eines der Zimmer stellte. Zudem gab es durch den exzentrisch geschnit­tenen Grundriss des Hauses hinter Tapetentüren, in Schränken, Kellerräumen und kaum erreichbaren Win­keln unterm Dach wirklich Lohnenswertes zu entdecken. Es hatte sich Strandgut aus über vierzig Ehejahren ange­sammelt – Dinge, die den voyeuristi­schen Blick eines wiss­begierigen Vierzehnjährigen zum Leuchten bringen: Jahr­gänge der unterschied­lichsten Zeitschriften, vom Readers Digest bis in die graue Vorzeit der Gartenlaube reichend, alte Möbel voller Geschirr in Jugendstilformen, Uhren, Ra­dios, seltsame, vom tüftlerischen Großvater gebastelte Ge­räte, Bilder, Fotos, ein Luftgewehr und vor allem Bü­cher, immer wieder an den überraschendsten Orten Bücher, in Regalen, in alten Koffern, in verborgenen Wandschränken, gestapelt in einer Ecke.

Ich las alle, zuerst die Unterhaltenden: Karl May, der mir Zuhause von meinem Vater verboten worden war, weil zu seine Wildwestgeschichten zu aufregend für ein Kind wären, Hans Dominik, C. S. Forester, Mika Waltari und Sienki­ewicz, dann entdeckte ich die anderen, die wahren Schriftsteller: Theodor Storm, Kleist, Tolstoj, Keller, die Droste-Hülshoff und all die bür­gerlichen Autoren des vergangenen Jahrhunderts, aber auch Swift oder Petronius, Herodot und dann – es kam einer Offen­barung gleich -, hielt ich plötzlich E.T.A. Hoffmann und E. A. Poe in den Händen; letzte­ren in der gewöhnungsbedürftigen Übersetzung von Ar­no Schmidt, den ich erst als Erwachsener kennen- und schätzen lernte. Sie alle passten vortrefflich zu der stehenden Hitze der endlosen Sommernachmit­tage, es wa­ren Geschichten, die mir für mich persön­lich geschrieben schienen, deren Tempo genau zu meinem Erleben passte und deren Geschmack ich noch heute auf der Zuge habe, wenn ich einen staubi­gen, alten Raum betrete.

Wenn ich gerade sicherlich meine Initiation in die Litera­tur verkläre, sie allerdings auch nicht anders beschreiben kann, so ist sie in meinem und im Gefühl des Vierzehnjäh­rigen ebenso wahr, wie sie im Mo­ment des Hinschreibens verlogen und falsch klingt. Wahrlügen eben.

Was ich in Tegel schätzte, waren das Haus und der Garten der Großeltern, weniger ihre Personen, als ihr Tageslauf, in dem jede Minute ihre Bestimmung und jeder Tag einen seit Jahrzehnten festgelegten Rhyth­mus und Ritus besa­ßen. Trotz des vielen Leerlaufs, der Langeweile, die aus meiner nicht weiter definier­ten Rolle in dem Kalender mei­ner Großeltern ent­stand und die mich manchmal die Stun­den bis zu solch herausragenden Ereignissen wie dem kargen Wurst- und Käse-Abendessen zählen ließ, hatte ich in jenen Sommerferien ein Gefühl von Geborgenheit, Beständigkeit und Sinn. Es war ein Empfinden, das ich in dieser Intensität und so lang andauernd nie wieder gefühlt habe, ein Gefühl, das ich manchmal beim Spie­len mit Kindern oder beim Lesen von Lite­ratur aus dem frühen 19. Jahrhundert erahne.

Ein Leben nach dem Tod – wenn es eines gibt, was ich ernsthaft bezweifle -, das sollte, wenn es glücklich wäre, ähnlich sein; nicht die stete Wiederholung und Beständigkeit, sonderen gehetzte Abwechslung ist die Hölle. Der Himmel dagegen ist die von festen Regeln umfasste Lange­weile, in der jeder Tag ohne herausra­gendes Ereignis und vor allem bar der Qual der Ent­scheidung dem nächsten folgt und es die Zeit gibt, tausend Dinge zu beginnen, tatsächlich endlose Ro­mane zu schreiben und zu lesen und nichts davon zu beenden.

2. Die Großmutter

Meine Großmutter war voll von jener baptistischen, dem Pietismus nahen Frömmigkeit, die trotz der Furcht vor Gottes Strafgericht selbstbewusst und eli­tär, da­bei ohne jeglichen Zweifel an Gott und des eigenen Weges ist. Sie war eine geschäftig­e, fleißige Frau, die zur Pedanterie neigte, wenn es um die Reinhaltung der Wohnung ging. Sie pflegte zwei­mal täglich mit einem Kamm die Fransen des Berbertep­pichs im Wohnzimmer in Reih´ und Glied zu bürsten. Ob­wohl sie aus ei­ner Großbauernfamilie aus Pasenow stammte, war sie nicht sehr gebildet, was ich bei ihr allerdings nie als Man­gel empfunden habe.

Im alltäglichen Leben wirkte sie oft schroff und abweisend; und von einer mutwilligen Gottheit wurde sie im Alter mit un­freundlich verkniffenen, verbissenen Gesichtszügen aus­gestattet, die jedoch nur die Maske über einer hu­morigen Launigkeit waren, die manchmal aus Au­gen und Mund­winkeln sprang. Trotz ihrer nur selten ans Öffentliche dringenden Vorurteile war sie im christlichen Sinne men­schenfreundlich, hilfsbereit und dabei der einzige mir be­kannte Mensch, der mit dem Lauf seines Lebens in voll­kommener Harmonie übereinzustimmen schien.

Nicht einmal der plötzliche Tod meines Großvaters warf sie später aus ihrer inneren, gefestigten Ruhe, die sie wahr­scheinlich zum größten Teil aus ihrem Glauben schöpfte. Ihre einzige Beunruhigung schien mir die Bewältigung der Kondolenzbesuche, der Beer­digung und des Leichen­schmauses. Danach kehrte sie zielstrebig in ihren Alltag zurück. Die durch den Tod ihres Gatten entstandenen Frei­räume füllte sie mit dem Umordnen des Hauses und dem Vernichten von Erinnerungsstücken und Möbelstücken aus, bis sie eine durch einen Schlaganfall verursachte kurze De­menzphase bis zu ihrem Tod ins Krankenbett zwang.

Dabei fällt mir ein: Ich half beim Ausräumen dieser Möbel mit – da war ich schon Ende Zwanzig. Bei jener Gelegen­heit wagte ich es zum ersten Mal, mich in den Sessel mei­nes Großvaters zu setzen. Es war ein hässliches, abgewetz­tes, mit grünem Cord bezogenes Ding mit dunkelbraunen, hölzernen Armlehnen. Hier hatte ich ihn während meiner Ferien jeden Abend ab acht Uhr sitzen sehen, ein mit dem Fernseher ver­bundenes Hörgerät im Ohr, über dem er wie schüt­zende eine Hand zur Muschel formte, die Augen hin­ter der dicken Brille halb geschlossen.

Während ich saß und mir den alten Mann noch ein­mal be­wusst machen wollte, bemerkte ich plötzlich, wie meine Daumen an einer Unebenheit der Armleh­nen links und rechts rieben. Ich sah hinunter. In den Lack waren dort Mul­den gekratzt, die bis in das helle Holz des Sessels reichten. Diese Gruben hatte die Tiefe und Form meiner Finger. Mit Schaudern stellte ich fest, dass ich das Werk meines Groß­vaters fortsetzte. Er hatte in jahrelanger nervöser Arbeit seine Daumen immer tiefer in das Holz gerieben. So nah wie in die­sem Moment bin ich ihm danach nie mehr gekomm­en.

Zurück zu meiner Großmutter: Die Pflege des alters­schwachen und oft wegen seiner Hilflosigkeit zorni­gen Eheman­nes hatte sie bis an den Rand der Leis­tungsfähigkeit er­schöpft und sie wirkt erleichtert, dieser Bürde ledig zu sein. Sie erinnerte mich in ihren letzten Lebensjahren sehr an die Heldin von Vita Sackville-Wests bemerkenswertem Emanzipati­ons-Roman Erloschenes Feuer.

Mit vierzehn ahnte ich natürlich wenig von ihrem Charak­ter; viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, hatte ich nicht die Möglichkeit oder gar die Men­schenkenntnis, sie zu beob­achten. Ich nahm sie ihrem Status als Großmutter ge­mäß als einen um mein Wohl besorgten Menschen, dem ich ein Eigenleben nur zugestand, wenn es mit meinen Inter­essen nicht kollidierte. Dies ihre Hobbys waren Fernsehen und das Lösen von Kreuzworträtseln. Ansonsten hatte sie auf Abruf zu meiner Verfügung zu stehen, wenn ich sie be­nötigte. Dafür respektierte ich widerwillig ein paar Schrul­len oder das, was ich für welche hielt, wie zum Beispiel ihr ausdauerndes hinter mir herräu­men, der ich eine Spur Unordnung bei meinen Erkun­dungen durch das Haus zog. Das kannte ich auch abgeschwächt von meiner Mutter, aber die Großmutter tat es im Gegensatz zu ihr ohne zu kla­gen. Als einzige Hilfe bei der durch mich entstande­nen Mehrarbeit ließ ich mich dazu herab, jeden Mit­tag das Ge­schirr abzutrocknen; dies jedoch nur, weil ich von der Mut­ter ausdrücklich dazu angehalten worden war, als sie mich am Anfang der Ferien in den Zug Richtung Berlin setzte.

Ich gestand niemandem, hier längst noch nicht der selbst­süchtigen Rolle des Kindes entwöhnt, einen Wandel von Gesinnung, eine Entwicklung, Eigenle­ben zu. Jedermann sollte sich dem Bild, das ich von ihm hatte, entsprechend verhalten und –  sofern mit mir verwandt – auch freundlich zu mir sein. Obwohl ich alle mit meinem Verhalten abstieß, meine phleg­matische, interesselose, mit Impertinenz ge­tuschte Art und das unglückliche Äußere zur Abneigung, ja Ekel reizten, vernachlässigten die Großeltern trotz­dem ihre Sorgfalt und Freundlichkeit nie. Das rechne ich ihnen in tiefer Dankbarkeit an. Ich weiß inzwi­schen aus eigener Anschauung, dass nichts schwerer ist, als einen launenhaf­ten, faden und dabei ver­schlossenen Vierzehnjährigen zu ertragen, ohne ihm zwei- bis dreimal am Tag mit voller Wucht ins Gesicht zu schlagen. Die Großeltern taten es nicht, das war mehr als Ver­wandtschaft, das war echte Nächstenliebe und Respekt vor Gottes Schöpfung.

[… zur Fortsetzung …]

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* Und dies hatte er so stabil getan, dass eine amerikanische Fliegerbombe das Haus nicht zerstörte, sondern nur insgesamt um ein paar Zentimeter verrutschte.

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