Westernheld für einen Tag (Ein Roman-Fragment) – Teil 1

Der folgende Text – er ist ein Ausschnitt aus meinem bislang noch unveröffentlichten Roman „Gelbe Stunden“ aus dem „Jahrmarkt in der Stadt“-Zyklus – beginnt mit streng autobiografisch, wird aber in den letzten beiden Abschnitten vollkommen fiktiv. Er ist eine Vorausveröffentlichung aus meinem demnächst erscheinenden Buch „Noch einmal daran gedacht“ und gehört zu meinen „Wahrlügen“-Texten.

Ich habe lange überlegt, in welcher Form ich die folgende Erinne­rung, die eine der prägenden Erfahrun­gen meines Lebens ist, nieder­schreiben will.

Dass ich sie schreiben würde, sie alleine auch zum Zweck der Selbstheilung wür­de erzählen müssen, stand nie im Zweifel. Freilich bot sich mir eine literarische, ver­brämte Form an, eine Form, in der ich vereinfachen, Vor­gänge dramatischer gestalten und sie damit unter Um­ständen dem Leser deutlicher machen kann. Zudem hätte ich zu den Kunstfiguren einen gewis­sen Abstand und es wäre mir vielleicht möglich, Ärger mit einigen in der Folge dargestellten Personen zu vermeiden. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet sie diesen Text le­sen, vernachlässigbar, ja, geradezu lä­cherlich gering. Ich habe zudem die leidvolle Erfahrung ge­macht, dass auch gut maskierte Schlüsselgeschichten den Nachteil haben, dass die dort handelnden Personen sich ohne weiteres er­kennen und sich, da sie ja typisiert wur­den, noch stärker auf den Fuß getreten fühlen. Der schließlich entscheidende Grund, aus dem ich von einer Erzählung Abstand genom­men habe, ist nicht nur der, dass ich bei all meinen ande­ren Projekten wahrscheinlich keine Gelegenheit finden würde, sie zu beenden, sondern meine Erwartung, dass ich mir über einige Dinge klar wer­den kann, vielleicht sogar einiges Unverarbeitetes oder Verdrängtes hervorholen kann. Literatur im Gegenteil hilft mir oft, vor den tatsäch­lich wichtigen Auseinanderset­zungen zu fliehen, mich hin­ter Handlungen und Handeln­den zu verstecken – was meist peinlich wirkt, wenn ich da­bei ertappt werde.

Ich schreibe diesen Text jedoch nicht als eine Art von Tage­buch, das ich in meinem Schreibtisch verschließen will. Die Person, die ich in der Hauptsache darstellen will, ist meiner Auffassung nach  paradigmatisch. Deshalb werde ich das Erzählte auch hier veröffentlichen. Selbstverständ­lich wird alles auch noch genügend Literatur enthalten, da ja das von mir gewählte Leben in erster Linie das eines Autors ist. Dennoch werde ich versuchen, so offen zu schreiben, wie ich kann. Eines ist noch zu sagen und es gilt im Grunde für alles, was ich schreibe: Obwohl es sich ei­gentlich von selbst versteht, will ich es doch ein einziges Mal niederschreiben. Objektivität gibt es nicht, zumindest ist es mir nicht gegeben, sie zu erkennen. Jede Wahrheit ist mit Lügen und Erinnerungslücken vermischt. Die Ge­schichte des Verlustes meiner Religion ist allein die Ge­schichte und die Ansicht eines Narren. So muss auch ein Text, da er Nachahmung von Handlung ist, Nachahmung einer einzigen und ganzen Handlung sein, dass das Ganze sich verändert und in Bewegung gerät, wenn ein einziger Teil umgestellt oder weggenommen wird. Wo aber Vorhan­densein oder Fehlen eines Stücks keine sichtbare Wirkung hat, da handelt es sich gar nicht um einen Teil des Ganzen.

*

Wie gelangt man in eine katholische Jugendgruppe, die zehn Jahre, darunter die gesamte Pubertät, das Leben prägt und sogar für die Begegnung mit dem Lebenspartner gesorgt hat? Durch Zufall oder Schicksal und vor allem durch den Wunsch, eine Einsamkeit zu überwinden. Mein Lebtag hatte ich nur selten Freunde und nie Bekannte. Der Grund liegt in meiner manchmal autistischen Men­schenfurcht und meiner Ungeselligkeit (Vielleicht kann ich deshalb am besten in Cafés schreiben, weil ich dort zwar einsam – beim Schreiben ist man der einsamste Mensch der Welt -, aber doch nicht allein bin). Heute, da ich Fami­lie habe, tut mir das nur mehr selten weh, nämlich immer dann, wenn sich einer der wenigen nahen Freund von mir entfernt oder entfremdet; früher, als Kind und Pubertie­render, litt ich darunter. Ich vermute, dass ich auch zu schreiben begonnen habe, um mit meinen Texten, dem Bes­ten von mir, Kontakt zu finden, anerkannt und geliebt zu werden. Ein fast makaberer Irrtum, wenn es tatsächlich so war. Denn nichts entfremdet mein Umfeld mehr von mir und schafft mir mehr Probleme als gerade meine Literatur. Sie bewirkt in der Regel das genaue Gegenteil von dem, was sie bewirken sollte: Nämlich erneut Einsamkeit.

Ich war in der ersten Klasse des neusprachlichen Peutin­gergymnasiums, in dem man paradoxerweise mit Latein als Fremdsprache begann und war als nicht diagnostizier­ter ADS’ler vollkommen überfordert. Nachdem ich die Volksschule mit ausgezeichneten Noten eher nebenher als Liebling der Lehrerin gemeistert und mich im Schein mei­nes Genies gesonnt hatte, hatte ich im Gymnasium plötz­lich erhebliche Schwierigkeiten, die nicht nur in einer langwierigen, fast acht Wochen dauernden Krankheit, den Nachwirkungen einer missglückten Blinddarm-OP be­gründet waren, sondern daran, dass ich mir angewöhnt hatte, mein Leben in Heldentagträumen zu leben und mir Zeit für Hausaufgaben und Lernen als eine verlorene er­schien. Dazu kamen Probleme mit Latein, zu dem ich kei­nen Zugang finden konnte. Und je mehr meine Mutter Ehrgeiz entwickelte und mich zum Lernen anhielt, was sie in den Volksschuljahren nicht getan hatte, umso mehr stellte ich mich quer, hatte heimlich unter dem Schulbuch einen Roman von Jules Verne oder Heinz G. Konsalik zu liegen, in denen ich in unbeobachteten Momenten las (Die Bücher des französischen Romanciers in der gekürzten und überarbeiteten Fischer-Taschenbuch-Reihe waren übrigens die erste »Nicht-Kinder-Literatur«, die ich gelesen habe). Freunde hatte ich keine. Wenn ich auf den Spielplatz ging, spielte ich mit mir allein, saß stundenlang auf einem Baum und erlebte mit mir Abenteuer im Weltall und in den Prärien des Wil­den Westens. So hat es mir zumindest meine Schwester erzählt.

Eines Tages öffnete sich dann die Klassentür der 5a, in der ich weit vorne links am Fenster saß und wo ich auch die erste Ohrfeige meines Lebens durch einen Lehrer genossen hatte, weil ich lieber in den Schulhof sah, als mich an sei­nem faden Erdkunde-Unterricht zu beteiligen. Auch heute sind mir noch deutsche Mittelgebirge und Donauzuflüsse ein hermetisches Mysterium. Herein kamen meine späte­ren Gruppenleiter Gerd, genannt »Bimmel« und Albert – er hat es nie zu einem Spitznamen gebracht. Sie erbaten sich vom Lateinlehrer fünf Minuten und warben für eine Ju­gendgruppe im »Neuen Deutschland«, die sie gemeinsam gründen wollten. Ich weiß den Eindruck, den die beiden auf mich machten, nicht mehr, aber er war natürlich posi­tiv. Wenn ich die beiden im folgenden beschreibe, dann so, wie ich sie heute sehe, mit allen Konsequenzen: Beide wa­ren mit ihren fünfzehn oder sechzehn Jahren für mich un­glaublich erwachsen, der eine – »Bimmel« – war groß, blond, heiter, gutaussehend und selbstbewusst, hatte viel Erfolg beim weiblichen Geschlecht und schien auf der sonnigen Seite des Lebens geboren. Der andere, Albert, war sein An­tipode, er war ernst, untersetzt, unscheinbar, zurückhalt­end und hatte ein Gesicht, das schon mit sechzehn alt war und immer gleich alt geblieben ist. Auch er war selbstbew­usst, wie sich später zeigte und dazu eine wesentlich stär­kere Persönlichkeit als sein helles Pendant.Vor der Klasse wirkten sie wie Thor und Loki bei den Zwergen. Ich be­haupte, dass bei Albert nicht nur das Gesicht, sondern auch schon sein Charakter fertig war, als ich ihn zum ers­ten Mal traf; ihm waren Selbstzweifel oder die Orientie­rungslosigkeit der Jugend immer fremd. Vielleicht war er damals schon der Jesuit, der er all die Jahre geblieben ist. Er ist ein Meister der Verstellung, ein falscher Freund wie der Sonnentau: Obgleich er immer das Gefühl verstrahlt, er sei ein makelloser Christ, oder – genauer gesagt – Katho­lik, und selbstlos an den Menschen seiner Umgebung inter­essiert scheint, ist er doch nur mit sich selbst und mit sei­ner Glückseligkeit beschäftigt. Es ist nur konsequent, dass dieser listige Voyeur später Psychologie und Theologie stu­diert hat und inzwischen wahrscheinlich Pfaffe im Univer­sitätsbetrieb ist, Seminare zur Selbsterfahrung leitet und dabei wie die Made im Speck lebt. Dass ich Albert hasse, diesen abgefeimten Demagogen, der mich betrogen, hinter­gangen und nicht zuletzt ausgenutzt hat, wird keinen Le­ser dieser Zeilen überraschen. Ich selbst bin allerdings er­staunt, mit welcher Heftigkeit meine Erbitterung während des Schreibens in mir hochkocht; ich habe meine Bezie­hung zu ihm offenbar doch nicht so gut bewältigt, wie ich mir selbst weisgemacht habe. Als Jugendlicher habe ich ihn geliebt und er hat meine Liebe getäuscht, sie wahr­scheinlich sogar heimlich belächelt. Heute weiß ich, dass ich ihm nur ein Insekt für seinen leidenschaftslosen, dabei sezierenden und voyeuristischen Blick war, eine Spielfigur, die er längst gelangweilt hat fallen lassen, nachdem sie ihn nicht mehr amüsierte. Dass ich meine Religion, die solche Menschen hat schaffen können, verloren habe und meine Sicht der Welt resigniert und zynisch ist, dass ich aus Furcht vor nochmaliger Enttäuschung nur ganz selten neue Freundschaften beginne, ist allein Albert zu verdan­ken. Er hat mich in entscheidenden Phasen meiner Ent­wicklung gebrochen und beschnitten wie ein Bonsaigärtner einen Zwergbaum und ich bekomme beim Schreiben Bauchschmerzen vor Wut.

Aller Anfang war jedoch harmlos. Ich wurde Mitglied der neuen Jugendgruppe des ND, die sich »Martin Luther King« nannte, mein Bruder und meine Mutter überredeten mich dazu. Hier wurden mit Zeltlagern und vielen Spielen die seltenen Diskussionen über Gott und die Welt versüßt und ich fühlte mich wohl, genoss den Umgang mit Gleich­altrigen, obwohl mich mein zurückhaltendes Wesen und meine Fettleibigkeit etwas an den Rand der Gruppe dräng­ten, was ich allerdings, da ich mir selbst Mittelpunkt mei­ner Welt war, nicht bemerkte. Zwei Jahre vergingen.

1977, in dem ich endgültig am Gymnasium scheiterte, wurde dann zu meinem persönlichen Krisenjahr.

[… wird fortgesetzt …]

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